Deutsche und englische Übersetzungen ausgewählter haititanischer Erzähltexte

Von Junior Borgella und Lisa Brunke

Diese Liste ist, wie alle Listen, unvollständig. Sie ist es aber auf doppelte Weise. Zum einen fehlen Texte auf kreyòl, neben französisch, der Landessprache des Karibikstaates gänzlich und zum anderen fehlen Gedichte, Romane und Autor:innen, deren Werk bisher weder auf Englisch noch auf Deutsch übersetzt wurden und die, diese Liste ein bisschen vollständiger gemacht hätten. Es ist, für jene, die sich in diesem Punkt nicht sprachlich gehindert fühlen, uneingeschränkt zu empfehlen, auch oder insbesondere diese Texte zu entdecken… Um nur einige zu nennen: Jean d’Amérique „Soleil à coudre“, Frankétienne „Les affres d’un défi“, Louis-Philippe „Dalembert Avant que les ombres s’effacent“, George Castera „Les cinq lettres“ oder auch die Krimis von Gary Victor, die es auch in deutscher Übersetzung gibt. mehr

Wenn in den Medien von der Karibikinsel Haiti die Rede ist, finden nur allzu häufig die immer gleichen Metaphern, Elendsbilder und Superlative der Misere ihre Anwendung. Während das Wissen um die Geschichte und die (literarische) Kultur dürftig bleibt. So bleibt es weiterhin nötig, darauf hinzuweisen, dass das Land und die Menschen, jenseits dieser Stereotype leben. Die vorliegende Liste kann einen Eindruck davon geben, wie eng Literatur und Gesellschaft in Haiti miteinander verzahnt sind und wie Autor:innen aus Haiti von Beginn an die politischen Prozesse kritisch begleiten und mögliche Zukünfte entwerfen. Um die Orientierung zu erleichtern, seien hier einige geschichtliche Eckdaten genannt: Die Republik Haiti besteht seit 1804, ging aus der erfolgreichen Revolution von Sklav:innen und freien People of Colour hervor und beendete mit dieser die französische, koloniale Plantagenwirtschaft auf der Insel. Trotz der theoretischen Unabhängigkeit Haitis wird in den darauffolgenden Dekaden immer wieder von außerhalb Einfluss auf die Politik des Landes genommen. Insbesondere die Besatzung durch die USA (1915–1934) wurde von heftigem Widerstand begleitet, stellte eine Zäsur dar und veränderte die wirtschaftliche Struktur des Landes nachhaltig.

Ein weiterer Abschnitt in der Geschichte des Landes stellt die fast 30-jährige Diktatur der Duvaliers (Francois Duvalier 1957–1971 , Jean-Claude Duvalier 1971–1986), die nicht nur durch staatlichen Terror und politische  Verfolgung geprägt ist, sondern die zudem  auch wirtschaftlich verheerende Folgen für das Land und seine Bevölkerung hatte. Die Zeit nach Duvalier ist von der Hoffnung auf Demokratisierung und bessere Lebensbedingungen gekennzeichnet, die vor allem auch eng mit der Figur Jean-Bertrand Aristide verbunden werden. Aristide, der ab 1991 mehrmals das Amt des Präsidenten innehat, enttäuscht diese Hoffnungen und verlässt 2004 nach Demonstrationen gegen die zunehmenden autoritären Tendenzen seiner Politik das Land. 2018 entwickeln sich eine mediale Kampagne gegen die Korruption der politischen Eliten sowie die Empörung über eine geplante Erhöhung des Benzinpreises zu einer umfassenden Protestbewegung, die von vielen Haitianer:innen unterstützt wird, in den deutschen Medien jedoch wenig Aufmerksamkeit erhält. Trotz der starken Mobilisierung gelingt es der Bevölkerung nicht den geforderten Wandel zu erreichen. Anstelle notwendiger Reformen ist in der Folgezeit eine eklatante Verschlechterung der öffentlichen Sicherheit zu beobachten, die insbesondere die Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerungsschichten negativ beeinflusst. Nach dem Attentat auf Jovenel Moise im Sommer 2021 wird Haiti aktuell durch eine Übergangsregierung unter Ariel Henry regiert.

 

Die singenden Bäume

Les arbres musiciens / 1957

In seinem zweiten Roman geht Alexis zurück ins Haiti der Zeit der amerikanischen Besatzung (1915-1934). Im Zentrum stehen die drei Brüder Diogène, Edgard und Carles Osmin.  Während Diogène als katholischer Priester und Edgard als Militär in der Gesellschaft aufsteigen, ist der dritte Bruder, ein Poet, voller Kritik und Ablehnung gegen jene gesellschaftlichen Instanzen und das (bürgerliche) Leben, was diese mit sich bringen. Doch Alexis Aufmerksamkeit gilt nicht der Kritik am bürgerlichen Lebenswandel, vielmehr konzentriert er sich darauf, zu zeigen, wie Militär, Staat und Kirche zusammenwirkten, um die Landbevölkerung unter religiösen Vorwänden zu enteignen und damit den Weg frei für die extensive Kautschukproduktion zu machen. Zugleich geschieht dieser Angriff auf die ruralen Lebensgrundlagen und Glaubensformen nicht ohne Widerstand, angeführt von dem betagten vodou-Priester Bois-d’Orme und Gonaibo, einem Jungen, der von seiner Mutter fern jeglicher sozialen Strukturen aufgezogen wurde und in einer engen Verbindung zur Tier- und Pflanzenwelt steht. In den darauffolgenden Auseinandersetzungen merken Diogène und Edgard erst spät, dass sie in dem Spiel um religiöse Deutungshoheiten und ökonomische Macht nur Spielfiguren sind und, dass die physische und epistemologische Widerstandskraft des ländlichen Raums und ihrer Bewohner:innen größer ist, als erwartet. Trotz und auch dank seiner etwas aus der Zeit gefallenen Sprache (in der Übersetzung) besitzt Alexis Roman eine außergewöhnliche Kraft, kunstvoll, aber nicht reduktionistisch, übt er Kritik an kapitalistischer Interessenpolitik und religiösen Dogmatismus und sucht dabei die Nähe zum Magischen Realismus. mehr

Warum lesen?

Weil Alexis einen materialistischen Blick auf die Zeit der amerikanischen Besatzung Haitis wirft, dabei jedoch nicht in eine nüchterne Analyse verfällt, sondern dem haitianischen Imaginären und seinen Widerstandstraditionen Raum einräumt, damit gewohnte Konstruktionen von Wirklichkeit überschreitet und nach wie vor wirksame Paradigmen von Fortschritt hinterfragt.

 

Liebe, Wut, Wahnsinn

/ 1968
Amour, Colère et Folie

In ihrem bekanntesten Werk seziert Chauvet Haitis Bourgeoisie unter dem Eindruck des Duvalier-Regimes. In drei Teilen („Liebe, Wut und Wahnsinn“) wendet sich die Autorin den intimen menschlichen Beziehungen entlang der Achsen von Race, Class und Gender zu. So ist Claire Clamont, die Ich-Erzählerin und Tagebuchschreiberin von „Liebe“ von der Gleichzeitigkeit der Sehnsucht nach ihrem weißen Schwager Jean Luze und dem plötzlich aufbrechenden Verlangen nach dem Schwarzen Funktionär Calédu getrieben, während sie gleichzeitig mit der Abwertung lebt, die ihre Familie ihr, als ‚dunkelste‘ der drei Schwestern entgegenbringt. Im zweiten Teil, „Wut“, gibt sich die junge Rose den sexuellen Gewaltphantasien eines Sympathisanten des Duvalier-Regimes hin, um durch ihr Opfer den Besitz ihrer Familie zu retten und deren gesellschaftlichen Abstieg zu verhindern. Während die ersten beiden Teile weibliche Figuren und Erzähler:innen ins Zentrum rücken, verhandelt der letzte Teil den „Wahnsinn“ und das Dilemma unter einem brutalen und autoritären Regime zu leben und zu schreiben aus Sicht eines jungen Poeten. mehr

Alle drei Erzählungen berichten davon, wie sich der Verfall menschlicher Beziehungen unter dem Eindruck der Diktatur beschleunigt und der weibliche Körper trotz der sich ablösenden Systeme weiterhin Terrain politischer und patriarchaler Machtausübung bleibt. Diese analytische Schonungslosigkeit, mit welcher Marie Vieux-Chauvet auf die Machtgefüge der haitianischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert blickt, bringt ihr die Anerkennung Simone de Beauvoirs ein, zwingt sie zur Flucht vor der ‚Rache‘ des Regimes nach New York und weckt weder bei den politischen Mächten noch bei Chauvets eigener bürgerlichen Klasse Sympathien. In der Folge gerät die Trilogie nur wenige Monate nach ihrem Erscheinen bis zu ihrer Neuauflage im Jahre 2005 in Vergessenheit. Trotz dieser fast 30jährigen ‘Unsichtbarkeit’ gehört „Liebe, Wut, Wahnsinn“ heute zu den Klassikern haitianischer Literatur und markiert einen wichtigen Wendepunkt für das weibliche, literarische Schaffen in Haiti.

Warum lesen?

Weil Chauvet unerschrocken hinter familiäre Fassaden schaut, die Illusion der Trennung zwischen privaten Raum und politischer Sphäre entlarvt und dabei gleichzeitig differenziert, dicht und präzise schreibt ohne ihre Figuren der Banalität preiszugeben.

Jahrestag

/ 2004
Bicentenaire

„Jahrestag“ beschreibt einen Tag aus dem Leben des Studenten Lucien, an dem dieser sich aufmacht, um an den Demonstrationen gegen die Regierung Jean-Bertrand Aristides in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince teilzunehmen. Wie ein klassisches Drama in der Einheit von Ort, Zeit und Handlung aufgebaut, treffen wir auf Luciens Weg durch die Stadt auf eine Vielzahl von Figuren. Von einer jungen, ausländischen Journalistin über einen ignoranten Arzt — Teil der im Stadtviertel Pétionville residierenden Oberschicht — und seiner gelangweilten Frau; einem nostalgischen Ladenbesitzer; bis hin zu Luciens kriminellen Bruder Ezechiel, alias Little Joe. Entlang dieser Figuren und Stationen zeichnet Trouillot das Tableau einer von Ungleichheiten und Widersprüchen geprägten Stadt und erinnert dabei an die gewaltvollen Zusammenstöße zwischen Demonstrant:innen, bewaffneten Banden und Polizei im Jahr 2004. mehr

Warum lesen?

Weil die Stadt und ihre Bewohner:innen hier zum Spiegelbild einer Gesellschaft in Anspannung werden und diese Momentaufnahme eines Tages so viel über die politischen, sozialen Konflikte, aber auch die Träume einer neuen Generation verrät, ohne das Land und seine Bewohner:innen abermals an stereotype Narrative zwischen Resilienz und Barbarei zu verraten.

 

 

Heading south

/ 1997
Vers le Sud

„Heading south“ ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, die zusammen eine polyphone, multiperspektivische Erzählung ergeben. Ganz knapp ließe sich sagen, Laferrière schreibt viel über Sex, aber während er das so (scheinbar) leicht und mit Humor tut, erzählt er von mehr als nur sexuellen Begierden und Begehren. Ob sich ältere Literaturdozentinnen auf den Weg in den Süden machen oder ein junger Mann eine seltsame Freundschaft mit der Geliebten eines einflussreichen Mannes schließt, Laferrière studiert nicht nur sexuelle Begegnungen in den vielfältigsten Ausformungen, sondern handelt an diesen insbesondere auch globale Machtverhältnisse ab. mehr

Warum lesen?

Weil Laferrière Macht und Dominanz in Wörter verpackt, die von Begehren und Lust sprechen und dabei unerbittlich ist, ohne bitter zu werden und leichtlebig schreibt, ohne leichtfertig zu sein. Weil es Vergnügen bereitet Laferrière zu lesen, ihm dabei zuzusehen wie er Macht in all ihren Spielarten beobachtet, und es am Ende doch schmerzhaft ist.

 

Die schöne Menschenliebe

/ 2011
La belle amour humaine

Mit diesem Roman, der ein Jahr nach dem Erdbeben von 2010 erschien, entspannt Trouillot einen Dialog zwischen Thomas, einem haitianischen Touristenguide und Anaise, einer jungen Frau aus einem Land des globalen Nordens, die in Anse-à-Foleur einem kleinen Küstendorf auf der Suche nach den Spuren ihres verstorbenen Vaters ist. Doch die Begegnung zwischen Anaise und Thomas entwickelt sich weg von einer Identitätssuche und der Frage, wie es zu dem Tod von Anaise verhassten Großvater Robert Montès vor mehreren Jahren kam, hin zu einer Reflexion über das gelingende Zusammenleben und das gute Leben, angesichts omnipräsenter Macht- und Ungleichheitsverhältnisse. Auf diese Fragen scheinen die Bewohner:innen von Anse-à-Foleur eine Antwort gefunden zu haben: Die Schöne Menschenliebe! mehr

Warum lesen:

Weil in diesem Roman sozialistische Tendenzen, ein radikaler Humanismus, Kritik globaler und lokaler (kapitalistischer) Verhältnisse, kreyole Ausdrucksformen und Kunst als widerständige Kraft in dem Entwurf einer konvivialen Utopie, zusammenkommen. Dabei gibt der Text seine Komplexität nicht sofort preis, sondern bewahrt sich einen Teil seiner Leichtigkeit und seines Humors.

 

The book of Emma

/ 2001
Le livre d’Emma

Emma, so lautet der Name der Frau, deren Bericht die junge Flore in einer Montrealer Psychatrie aufnimmt und die in dem Verdacht steht ihr Kind getötet zu haben. Stück für Stück beginnt die zunächst nüchterne, psychologische Beobachterin Flore, zu verstehen, dass der Ursprung von Emmas Leiden bis in die Zeit der Sklaverei zurückreicht und Teil eines transgenerationellen Traumas ist. Weibliche Genealogien fungieren in diesem Roman als Verankerung und Bedrohung zugleich, während Agnant nach den Logiken weiblichen Wahnsinns fragt. mehr

Warum lesen?

Weil „The Book of Emma“ von kollektiven (traumatischen) Erinnerungen erzählt und dabei Wege findet, weibliche Stimmen und Beziehungen in ihrem destruktiven, widerständigen und befreienden Potential Raum und Wichtigkeit einzuräumen.  Und weil Agnant die feministische Kritik an Konzepten des ‚Wahnsinns‘ und psychischer Krankheit um eine postkoloniale Perspektive erweitert.

 

The Dew Breaker

/ 2004

Edwidge Danticat, die Autorin von „The Dew Breaker“, lebt selbst bereits seit langer Zeit nicht mehr in Haiti, trotzdem zeugen viele ihrer Texte von der Präsenz der haitianischen Kultur und der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Landes. Diese Beobachtung trifft auch auf „The Dew Breaker“ zu, dessen Titel nicht nur auf den Klassiker von Jacques Roumain Der Herr über dem Tau anspielt, sondern auch bereits auf die zentrale Figur des Romans: einen ehemaligen Folterer während des Duvalier-Regimes. Um diese Figur und daran geknüpft um die psychischen und physischen Spuren der Diktatur, kreist Danticats Roman, der aus neun Erzählungen besteht. Jede dieser Erzählungen wendet sich einer anderen Figur und deren Geschichte zu, gemeinsam ist ihnen, dass sie alle durch die Erfahrungen der Diktatur bzw. der Bekanntschaft mit dem „dew breaker“ in Beziehung zueinanderstehen. mehr

Warum lesen?

Weil der Roman sich der Frage politischer Gewalt aus verschiedenen Richtungen nähert, ohne den Lesenden den Gefallen zu tun, die Schuldigen Monster sein zu lassen. Dabei zeigt Danticat zugleich wie tief und manchmal unerwartet sich politische Systeme in die intimsten Beziehungen einschreiben.

 

 

General Sonne

/ 1955
Compère Général soleil

Im, von den Amerikanern besetzten (1915-1934) und von wirtschaftlichen Schwierigkeiten geplagten Haiti, stiehlt Hilarion Hilarius aus Hunger und wird daraufhin verhaftet. Während seines Gefängnisaufenthalts lernt Hilarion Pierre Roumel kennen, einen politischen Gefangenen, der Hilarion in den Marxismus einführt. Nach seiner Entlassung heiratet Hilarion Claire Heureuse. Von den materiellen Bedingungen eingeholt, begibt er sich gemeinsam mit seiner Frau und ihrer Tochter  ins Exil in die Dominikanische Republik. Dort versucht er sich durch die Arbeit auf einer Zuckerrohrplantage ein besseres Leben zu verdienen. Aber in der Dominikanischen Republik unter Trujillo sind Schwarze und Arme nicht willkommen… mehr

Mit einer besonderen poetischen Sprache, die von den haitianischen "Märchenerzählern" inspiriert ist, zeichnet Jacques Stéphen Alexis den Lebensweg von Hilarion nach. Jede Beschreibung, jedes Detail, jede Metapher reicht über die Geschichte hinaus und bezieht sich auf historische Fakten, historische Personen oder politische Strömungen des 20. Jahrhunderts. Das Ende des Romans ist meisterhaft und verstörend zugleich und bewahrt dabei trotzdem die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Sanfte Debakel

/ 2018
Douces déroutes

„Sanfte Debakel“ führt uns auf die Spuren der Schicksale mehrerer Personen im Port-au-Prince der Gegenwart, die alle in einem Unglück vereint sind, das sie unaufhörlich quält: die Ermordung des aufrichtigen und integren Richters Raymond Berthier. Brune, Berthiers Tochter und Sängerin in einer Bar, bewegt sich lange Zeit zwischen Wahnsinn und Resignation. Weder ihre Freundschaften noch Liebesgeschichte mit Francis, einem französischen Journalisten können sie aus dieser Verwirrung befreien. Nur die Aufklärung der Todesumstände ihres Vaters scheint Brune einen Ausweg zu bieten. Auf der Suche nach Gerechtigkeit versucht Brune,  das Verbrechen aufzuklären. Neben Brune versammelt Lahens eine Vielzahl weiterer Figuren wie Brunes Onkel Pierre, den Dichter Ezechiel, die feministische Nerline, einen überzeugten Pazifisten namens Waner, den Amerikaner Ronny. Im Rhythmus eines schnellen, elektrischen und synkopischen Schreibstils, enthüllt sie nach und nach mit erschütternder Zärtlichkeit die Intimität eines jeden Einzelnen. mehr

Warum lesen?

Yanick Lahens schreibt schnell und elektrisch, als würde sie ihre Kraft aus den Eingeweiden der Stadt schöpfen, und begleitet ihre Figuren auf dem Weg zum unvermeidlichen Untergang.

 

 

Vor dem Verdursten

/ 2012
Aux Frontières de la soif

12. Januar 2010, Erdbeben in Haiti. Zusammenbruch des Landes. Dollars. Billionen, die gesammelt werden. Wiederaufbau in Sicht.  NGOS. Architekturbüros und Stadtplanungsunternehmen. Aufträge müssen beschafft werden. Wettbewerb. Lager. Flüchtlinge. Dieses Bild greift der Roman „Vor dem Verdursten“ von Kettly Mars auf. Der Protagonist, Fito Belmar, Architekt und Stadtplaner von Beruf, versucht Aufträge für den Wiederaufbau seines Landes zu bekommen. Fito (der auch Schriftsteller ist und dessen erster Roman fünf Jahre zuvor veröffentlicht wurde) versucht, diesem Leben voller Ohnmacht, persönlicher und sozialer Frustrationen zu entfliehen und sucht in Canaan, "einem trockenen und einsamen Ort", nach einem Heilmittel für seine Probleme. In Canaan geht sein langsamer Abstieg in den Abgrund weiter. Die Ankunft der 40-jährigen Tutsami, einer japanischen Professorin für französischsprachige Literatur, markiert jedoch einen Wendepunkt im Leben des Schriftstellers und Architekten. Trotz des Misstrauens, der Missverständnisse, der Spannungen, aber auch der Verwirrung, die Tutsami  bei Fito auslöst, scheint sie den Nerv eines abgestumpften, von seinen Dämonen und von Gewissensbissen geplagten Mannes getroffen zu haben.  Mars nimmt uns mit ihrem gut durchdachten Schreibstil mit in die Tiefen ihres Landes, seine tausend Widersprüche, sein Unglück und seine Hoffnungen. mehr

Warum lesen?

Fitos Geschichte ist eine Art Sinnbild, welches die internationale Politik, insbesondere die internationale Hilfe nach dem Erdbeben, kritisiert und so als ein Echo auf Raoul Pecks Dokumentarfilm Assistance Mortelle verstanden werden kann. Zugleich entwirft der Roman Haiti als einen Ort der Offenheit und der Akzeptanz des Anderen, und damit als Alternative zu einer Welt, deren Grenzen sich immer wieder verschließen. In diesem Sinne kann der Roman als Gegendiskurs zur Ablehnung des Anderen gelesen werden.

 

 

Der Aufstand der Sonnenkönigin

/ 1988
La reine soleil levée

Ein Arbeitstag beginnt. Die Minuten rasen dahin. Die Ladungen, die auf ihn warten. Seine besorgten Kunden. Andere Transporteure auf der Lauer. Die Konkurrenz ist hart. Das Elend eines anderen, das Glück eines anderen. So beginnt der Roman von Gérard Etienne mit dem Unglück des integren Transportunternehmers Jo Cannel, der plötzlich erkrankt. Zwischen Cannels Weigerung, sich von der Brutalität dieser Krankheit, die seinen Körper zerfrisst, mitreißen zu lassen, und der Trägheit des medizinischen Systems beschließt Mathilda, Cannels Frau, sich diesem System zu stellen, das von Militärs im Dienste des Großmeisters regiert wird – der nur allzu deutliche Parallelen zu dem Diktator Duvalier aufweist. So lässt uns Etienne den Weg von Mathilda und Jo verfolgen, der sie in Opposition zu dem gesamten politischen Apparat bringt. Etiennes Roman ist eine literarische Hymne, deren Poesie in jedem kurzen und prägnanten Satz lebt. Er ist in einer Sprache geschrieben, die an kreolischen Gesang erinnert. Alles ist Mord und Gewalt in dieser Sprache, die sich jeglicher Künstlichkeit entledigt. mehr

Warum lesen?

Der Roman von Gérard Etienne gehört zu den Werken von Schriftstellern, die Opfer der Diktatur wurden. Indem er das Duvalier-Regime anprangert, enthüllt er die Mechanismen der Macht und des Terrors. Etienne zeigt in dem Roman, wie das Regime die Religion und die damit verbundenen Ängste nutzte, um jede Form des Widerstands niederzuschlagen. Er zeigt außerdem, dass es trotz all dessen zu Widerstand kommen kann.

 

 

Infos zu dieser Liste
Erstveröffentlicht: 27.05.2022
Zuletzt aktualisiert: 27.05.2022

Junior Borgella hat 2014 seine erste Gedichtsammlung „Brûlures“ bei dem haitianischen Verlag „Editions des vagues“ veröffentlicht. Aktuell arbeitet er an unterschiedlichen kreol- und französischsprachigen Schreibprojekten gleichzeitig und ist Teil der Redaktion der literarischen Revue „Do Kre I S“.

Lisa Brunke ist Literaturwissenschaftlerin und arbeitet an der Université Aix-Marseille. In ihrer Dissertation setzt sie sich mit der haitianischen Literatur nach Ende der Duvalier-Diktatur auseinander.