Wann, wenn nicht jetzt?

/ 1986
Se non ora, quando? / 1982

In den wenigen Fällen, in denen jüdische Rache für die Shoah dann doch einmal groß erzählt und inszeniert wird, sind es meist Geschichten von Kämpfern: Die Bielski-Brüder in den Wäldern Weißrusslands, Abba Kovner und sechs Millionen tote Deutsche, die Jüdische Brigade. Überlebende der Lager spielen in diesen Geschichten meist keine große Rolle. Umso lesenswerter ist der Roman von Primo Levi, vor allem bekannt für seine Lagererinnerungen »Das periodische System« und »Ist das ein Mensch?«. Es ist die Partisanenfantasie eines KZ-Überlebenden. Basierend auf den Erzählungen eines Bekannten und intensiven Recherchen lässt Levi eine wachsende Gruppe von Versprengten in den letzten zwei Kriegsjahren quer durch Osteuropa ziehen. Mendel und Leonid und Dov und Gedale und Rokhele und Line und Pavel und Mottel und all die anderen – jede Figur hat ihre eigene Geschichte und wird von Levi liebevoll und detailliert gezeichnet. Für einige ist der Wunsch nach Rache der wichtigste Antrieb zu überleben und weiterzukämpfen. Und als der Krieg plötzlich vorüber ist, ist er es eben nicht für alle…

 

Warum lesen

Weil ohne diesen Roman im Periodensystem von Primo Levi ein paar wichtige Elemente fehlen würden.

Bester Satz: »Freu dich nicht, wenn dein Feind stürzt; hilf ihm aber auch nicht beim Aufstehen.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Point of No Return

/ 1948

Jacob Levy ist Soldat. Einer von hunderttausenden amerikanischen GIs, die sich Ende 1944 durch Frankreich und Belgien in Richtung Deutschland kämpfen. Alles, was er sich von diesem Krieg erwartet, ist ihn zu überleben. Erst als er die junge Französin Kathe kennenlernt, schmiedet er Pläne für ein Leben im Frieden. Dass Levy Jude ist, interessiert seine Umgebung oft mehr als ihn selbst und insgeheim wirft er den europäischen Juden vor, dass sie sich nicht längst aus dem Staub gemacht haben – so wie seine Vorfahren. Doch mit dem Vorrücken auf Deutschland ändert sich seine Haltung, wächst die Angst, was die »Krauts« seiner Freundin Kathe antun könnten. Er denkt an die Ermordeten – und an seine Eltern. Als er nach der deutschen Kapitulation zum ersten Mal das Wort »Dachau« hört, will er den Ort unbedingt sehen. Danach gibt es – wie im Titel des Romans – für ihn kein Zurück mehr. Unfähig, das Grauen des Lagers mit den lachenden Gesichtern der Deutschen in Einklang zu bringen, nimmt Jacob Levy Rache. Er steht zu seiner Tat und letztlich auch zu seinem Jüdischsein.

 

Warum lesen

Weil Martha Gellhorn nicht nur die Frau von Ernest Hemingway war, sondern selbst Kriegsreporterin, und weil es ihr gelingt, die Sicht der Soldaten auf den Krieg ebenso überzeugend zu erzählen wie Jacob Levys allmähliche Wandlung zum Rächer. Und woher stammt doch gleich der Satz »fighting for one thing and one thing only«?

Bester Satz: »They said it wasn’t murder but he had intended it to be murder.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Mein ist die Rache

/ 1943

Genau genommen fällt die erste Empfehlung auf der Liste gleich mal aus dem Rahmen, denn die Novelle erschien bereits 1943. Umso beachtlicher ist es, wie Friedrich Torberg, ein österreichischer Jude im amerikanischen Exil, in seinem Text über ein fiktives Konzentrationslager lange vor Kriegsende und dem Bekanntwerden des ganzen Ausmaßes der deutschen Verbrechen die Frage nach dem »Danach« stellt. In »Mein ist die Rache« hat der sadistische Lagerkommandant Wagenseil seine besondere Freude daran, die jüdischen Gefangenen so lange zu quälen bis sie sich mit einem bereitliegenden Revolver das Leben nehmen. Intensiv wird in der Baracke darüber diskutiert, wie man sich als Jude im Angesicht von Grausamkeit und Gewalterfahrung richtig verhalten soll: selbst handeln oder auf Gottes Rache vertrauen? Als einer der Gefangenen den Revolver benutzt, um Wagenseil zu erschießen, gelingt ihm daraufhin auch die Flucht aus dem Lager. Doch sein Gewissen lässt ihm keine Ruhe, denn Rache ist dem gläubigen Juden verboten und als Rache deutet er seine Tat. In der bangen Hoffnung, er möge nicht der einzige Überlebende sein, sitzt er Tag für Tag am Pier von New Jersey und beobachtet die Schiffe.

 

Warum lesen

Weil kaum ein anderer literarischer Text sich so früh mit der ethisch-religiösen Dimension jüdischer Rache für die Shoah beschäftigt hat und weil Erstleser wie Arnold Schönberg oder Willi S. Schlamm der Meinung waren, »alle Deutschen« (Schönberg) müssten dieses Buch lesen bzw. es müsse als »Zwangslektüre« (Schlamm) in der Schule auferlegt werden.

Bester Satz: »Ich heiße Joseph Aschkenasy.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Vor dem Verdursten

/ 2012
Aux Frontières de la soif

12. Januar 2010, Erdbeben in Haiti. Zusammenbruch des Landes. Dollars. Billionen, die gesammelt werden. Wiederaufbau in Sicht.  NGOS. Architekturbüros und Stadtplanungsunternehmen. Aufträge müssen beschafft werden. Wettbewerb. Lager. Flüchtlinge. Dieses Bild greift der Roman „Vor dem Verdursten“ von Kettly Mars auf. Der Protagonist, Fito Belmar, Architekt und Stadtplaner von Beruf, versucht Aufträge für den Wiederaufbau seines Landes zu bekommen. Fito (der auch Schriftsteller ist und dessen erster Roman fünf Jahre zuvor veröffentlicht wurde) versucht, diesem Leben voller Ohnmacht, persönlicher und sozialer Frustrationen zu entfliehen und sucht in Canaan, "einem trockenen und einsamen Ort", nach einem Heilmittel für seine Probleme. In Canaan geht sein langsamer Abstieg in den Abgrund weiter. Die Ankunft der 40-jährigen Tutsami, einer japanischen Professorin für französischsprachige Literatur, markiert jedoch einen Wendepunkt im Leben des Schriftstellers und Architekten. Trotz des Misstrauens, der Missverständnisse, der Spannungen, aber auch der Verwirrung, die Tutsami  bei Fito auslöst, scheint sie den Nerv eines abgestumpften, von seinen Dämonen und von Gewissensbissen geplagten Mannes getroffen zu haben.  Mars nimmt uns mit ihrem gut durchdachten Schreibstil mit in die Tiefen ihres Landes, seine tausend Widersprüche, sein Unglück und seine Hoffnungen. mehr

Warum lesen?

Fitos Geschichte ist eine Art Sinnbild, welches die internationale Politik, insbesondere die internationale Hilfe nach dem Erdbeben, kritisiert und so als ein Echo auf Raoul Pecks Dokumentarfilm Assistance Mortelle verstanden werden kann. Zugleich entwirft der Roman Haiti als einen Ort der Offenheit und der Akzeptanz des Anderen, und damit als Alternative zu einer Welt, deren Grenzen sich immer wieder verschließen. In diesem Sinne kann der Roman als Gegendiskurs zur Ablehnung des Anderen gelesen werden.

 

 

Auf der Liste: Politische Literatur aus Haiti

Deutsche und englische Übersetzungen ausgewählter haititanischer Erzähltexte