Utopia Avenue

/ 2022

In London pulsiert die Musik. 1967 bringt ein umtriebiger Musikmanager vier Musiker*innen zusammen, die eine Band gründen – Utopia Avenue. Ein Blues-Bassist, ein genial-melancholischer Leadgitarrist mit Stimmen im Kopf, ein Jazz-Drummer und eine Folk-Sängerin, die an Joan Baez erinnert, versuchen sich am Aufstieg in die Charts, ohne sich zu verbiegen. Nach den Mühen der Ebene und einigen Rückschlägen schaffen sie es und produzieren zwei LPs.

Das ist die Basishandlung des neuen Romans von David Mitchell. Es wimmelt von Liedtexten und Gesprächen mit berühmten musikalischen Größen, Konzerte werden beschrieben und Kneipen- und Clubbesuche, und der Geist der 60er durchzieht jede Zeile des Buches. Zugleich wird das Leben der Vier vor ihrem Erfolg geschildert: saufende Väter, eine unglückliche Ehe, traditionelle Rollen, Aufenthalte in der Psychiatrie – wie nebenbei fließen in die Geschichte der Band Anklänge einer Sozialgeschichte der britischen Jahrzehnte vor 1967 ein, die sich auch in den Liedtexten widerspiegeln, die die Musiker*innen schreiben. Wie eine Supernova erleuchtete Utopia Avenue das fiktive Musikuniversum, ähnlich wie Jimi Hendrix das reale, doch mehr als zwei Alben produziert die Band nicht. 1968 ist alles vorbei, der Ruhm verglüht.

 

Warum lesen?

David Mitchell lässt die magische Zeit der späten 60er aufleben, eine Aufbruchsstimmung, die bereits den Keim ihrer Auflösung in sich trug.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Die geheimste Erinnerung der Menschen

/ 2022

Wie der Autor selbst stammt der Protagonist Diégane aus dem Senegal und versucht in Paris sein Glück als Schriftsteller. Dabei stößt er auf Spuren des rätselhaften Schriftstellers T.C. Elimane, der Jahrzehnte zuvor ebenfalls aus dem Senegal nach Frankreich kam und dort einen Roman veröffentlichte. Autor wie Roman sind verschollen – doch durch Zufall kommt Diégane an ein Exemplar des Romans, ist zutiefst fasziniert und gerät auf der Suche nach Elimane in immer tiefere Schichten der Vergangenheit. In verschachtelten Erzählebenen erfährt die Leserin zwar mehr als Diégane selbst, dennoch bleibt vieles ungelöst und im Verborgenen. Ob der Roman vorrangig eine Kriminalgeschichte, eine Abrechnung mit Rassismus, Literaturelite und Kolonialismus, eine unglückliche Liebesgeschichte oder die Suche nach einem Zuhause und der eigenen Berufung auf drei Kontinenten ist, bleibt ebenfalls unklar. Eins wird jedoch deutlich: Ein Leben ohne Bücher und Literatur ist unvorstellbar.

 

Warum lesen?

In Frankreich wurde der Roman mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, es ist das erste Buch Sarrs, das auch auf Deutsch erscheint. Die Verfasserin dieser Zeilen hat die 448 Seiten des Romans an einem Nachmittag verschlungen und kann nur dazu ermutigen, sich ebenfalls in diese Geschichte zu stürzen!

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

WTF Berlin

/ 2022

Die Autorin kommt aus Großbritannien und lebt seit 20 Jahren in Berlin. In WTF Berlin teilt sie ihre Beobachtungen aus 20 Jahren in herrlich witzigen, feministischen Texten. Wer bereits »Die schlechteste Hausfrau der Welt« oder ihre Kolumnen im Missy Magazin gelesen hat, weiß bereits, dass Jacinta Nandi so schreibt, dass man das Gefühl hat, neben ihr zu sitzen und ihr zu lauschen, wie sie schnell und schlagfertig mit Worten um sich wirft.

Im Unterschied zu ihren anderen beiden Büchern ist WTF Berlin auf Englisch geschrieben, was aber einen besonderen Reiz hat, wenn sie deutsche Begriffe erklärt. Die Reise beginnt bei »Abendbrot« und hangelt sich das Alphabet entlang wie in einem Wörterbuch: Von »Abtreibung« über »Erziehung« , »Migrationshintergrund«, »Reizwäsche“ und »Spielplatz« bis »Zecke“ und vielen anderen Begriffen dazwischen. Mehrdeutigkeiten, Übersetzungs- und Erklärungsverwirrungen und Entirrungen vom Feinsten! Auch wunderbar zum Vorlesen und Sich-Freuen über Jacinta Nandis Texte, die easy daherkommen, aber der »deep shit« steckt immer mit drin!

 

Warum lesen?

Jacinta Nandi erklärt uns Berlin – aber eigentlich greift der Titel viel zu kurz – sie erklärt deutsche Selbstverständlichkeiten so, dass man einerseits sehr viel lachen muss und sich andererseits fragt, warum zur Hölle einer selbst das bisher nicht aufgefallen ist.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Dschinns

/ 2022

Hüseyin, du bist 59 Jahre alt, die letzten 30 davon hast du in der Metallfabrik gearbeitet. 1971 kamst du, aus einem Dorf im Osten der Türkei, nach Süddeutschland. Du hattest dir ein neues Leben erhofft, ein Zuhause, aber die Einsamkeit blieb. Und du arbeitetest drei Schichten, am Sonntag, an den Feiertagen. Du warst dir nie zu schade, alle Arbeiten, die kein Deutscher machen wollte, hast du übernommen.

Nun bist du in Istanbul, endlich hast du es geschafft, du hast eine Wohnung von deinen Ersparnissen dort gekauft. Die Wohnung in Istanbul soll der langersehnte Ort sein, an dem du Zuhause bist, mit deiner Frau Emine, sie und die Kinder sollen in ein paar Tagen eintreffen.

Das ist der Ausgangspunkt von Fatma Aydemirs Roman, in dem sie ein Bild der Neunzigerjahre in Deutschland komponiert; er ist eine vielschichtige Erzählung von den Sehnsüchten, Gewissheiten und dem Alltag türkischer Migrant*innen, die über das Anwerbeabkommen mit der Türkei in den Siebziger Jahren nach Deutschland gekommen sind, die wieder gehen sollten und wollten und trotzdem blieben, deren Kinder in Deutschland aufwuchsen und dessen selbstverständlicher Teil sie heute sind.

 

 

Warum lesen?

Auch in ihrem zweiten Roman gelingt es Fatma Aydemir, Alltäglichkeiten so eindringlich zu erzählen, dass man am Ende das Gefühl hat, die Romanfiguren tatsächlich kennengelernt zu haben.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Gedichte einer schönen Frau

/ 1983

Auf 128 Seiten zeigen die Gedichte der Performance-Künstlerin, Aktivistin und Autorin Guy St. Louis einen Einblick in West-Berlins lesbisches Leben der frühen 1980er. Kämpferisch, ungefiltert und kraftvoll schreibt sie über ihr Lesbischsein, ihr Schwarzsein und ihr Begehren aus dieser Position heraus. Selbstbewusst, kinky und taff.

 

Warum lesen?

Ohne den Rassismus und die Homofeindlichkeit der BRD kleinreden zu wollen, finde ich es wichtig zu betonen, dass rassifizierte Queers nicht nur existiert haben, sondern handlungsfähig waren und eine Legacy hinterlassen haben, aus der wir heute sehr viel Kraft und Inspiration schöpfen können – insbesondere, wenn es darum geht, mit einer Selbstverständlichkeit zu einem Begehren zu stehen, welches nicht allen schmeckt.

Auf der Liste: Unverschämtes Verlangen

Queeres Begehren in der Literatur

The Freezer Door

/ 2020

Ohne sie zu beschönigen, erkundet Mattilda Bernstein Sycamore in ihrem essayistischen Memoir die Gegenwart queerer Urbanität mit all ihren Ambivalenzen. Im Zentrum steht ihr Begehren nach queerer Verbundenheit und die Einsamkeit auf dieser Suche. Sie schreibt über Gentrifizierung, Cruising, Zugehörigkeit und Begehren, mal in kurzen Anekdoten und Gedankenfragmenten, mal weiter ausgeholt. Das Ergebnis ist eine komplexe Auseinandersetzung mit queerem Leben in der Stadt, die gleichermaßen schön und traurig ist.

 

Warum lesen?

Ihre Beobachtungen, durchzogen von Euphorie, Neugierde und Melancholie, sind absolut relatable und werfen die Frage auf, was die Kommodifizierung von Widerständigkeit mit unserem Sehnsüchten macht. Das Buch ist in seiner Form queer und widmet sich gleichzeitig dringlichen Fragen queerer Radikalität – dafür sind auch ihre anderen Werke bekannt.

Auf der Liste: Unverschämtes Verlangen

Queeres Begehren in der Literatur

Sanfte Debakel

/ 2018
Douces déroutes

„Sanfte Debakel“ führt uns auf die Spuren der Schicksale mehrerer Personen im Port-au-Prince der Gegenwart, die alle in einem Unglück vereint sind, das sie unaufhörlich quält: die Ermordung des aufrichtigen und integren Richters Raymond Berthier. Brune, Berthiers Tochter und Sängerin in einer Bar, bewegt sich lange Zeit zwischen Wahnsinn und Resignation. Weder ihre Freundschaften noch Liebesgeschichte mit Francis, einem französischen Journalisten können sie aus dieser Verwirrung befreien. Nur die Aufklärung der Todesumstände ihres Vaters scheint Brune einen Ausweg zu bieten. Auf der Suche nach Gerechtigkeit versucht Brune,  das Verbrechen aufzuklären. Neben Brune versammelt Lahens eine Vielzahl weiterer Figuren wie Brunes Onkel Pierre, den Dichter Ezechiel, die feministische Nerline, einen überzeugten Pazifisten namens Waner, den Amerikaner Ronny. Im Rhythmus eines schnellen, elektrischen und synkopischen Schreibstils, enthüllt sie nach und nach mit erschütternder Zärtlichkeit die Intimität eines jeden Einzelnen. mehr

Warum lesen?

Yanick Lahens schreibt schnell und elektrisch, als würde sie ihre Kraft aus den Eingeweiden der Stadt schöpfen, und begleitet ihre Figuren auf dem Weg zum unvermeidlichen Untergang.

 

 

Auf der Liste: Politische Literatur aus Haiti

Deutsche und englische Übersetzungen ausgewählter haititanischer Erzähltexte

Jahrestag

/ 2004
Bicentenaire

„Jahrestag“ beschreibt einen Tag aus dem Leben des Studenten Lucien, an dem dieser sich aufmacht, um an den Demonstrationen gegen die Regierung Jean-Bertrand Aristides in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince teilzunehmen. Wie ein klassisches Drama in der Einheit von Ort, Zeit und Handlung aufgebaut, treffen wir auf Luciens Weg durch die Stadt auf eine Vielzahl von Figuren. Von einer jungen, ausländischen Journalistin über einen ignoranten Arzt — Teil der im Stadtviertel Pétionville residierenden Oberschicht — und seiner gelangweilten Frau; einem nostalgischen Ladenbesitzer; bis hin zu Luciens kriminellen Bruder Ezechiel, alias Little Joe. Entlang dieser Figuren und Stationen zeichnet Trouillot das Tableau einer von Ungleichheiten und Widersprüchen geprägten Stadt und erinnert dabei an die gewaltvollen Zusammenstöße zwischen Demonstrant:innen, bewaffneten Banden und Polizei im Jahr 2004. mehr

Warum lesen?

Weil die Stadt und ihre Bewohner:innen hier zum Spiegelbild einer Gesellschaft in Anspannung werden und diese Momentaufnahme eines Tages so viel über die politischen, sozialen Konflikte, aber auch die Träume einer neuen Generation verrät, ohne das Land und seine Bewohner:innen abermals an stereotype Narrative zwischen Resilienz und Barbarei zu verraten.

 

 

Auf der Liste: Politische Literatur aus Haiti

Deutsche und englische Übersetzungen ausgewählter haititanischer Erzähltexte