Der gemeine Lumpfisch

/ 2023

Der Klimawandel ist nicht mehr aufzuhalten gewesen, selbst der Pandabär ist ausgestorben. In einer Zukunft, die gleich um die Ecke geschieht, reagiert die Welt auf die katastrophalen Verhältnisse, indem Zertifikate verkauft werden, die dazu berechtigen, Arten vernichten zu dürfen, analog zu den heutigen Zertifikaten zum Kohlendioxidausstoß. In dieser hyperneoliberalen Welt, in der schmackhaftes Essen zum Luxusgut für die Reichen geworden ist und Engländer in finnischen Flüchtlingslagern leben, spielt der neue Roman von Ned Beauman.

Die Protagonistin erforscht den gemeinen Lumpfisch, eine intelligente Lebensform, die vom Aussterben bedroht ist und gerade zufällig ausgerottet wurde. Dabei steht ihr ein Angestellter der für die Ausrottung verantwortlichen Firma zur Seite, der verzweifelt ein letztes Lumpfisch-Exemplar sucht, weil er sich mit Zertifikaten verspekuliert hat. Beide bewegen sich in einer Welt, in der sonderbare Dinge passieren, die jedoch ihre eigene Logik haben, die Logik des Kapitals, das noch vom Sterben der Arten profitiert. Ein Happy End gibt es, wie in der Wirklichkeit, nicht.

 

Warum lesen?

Wer sich schon immer gefragt hat, wieso das Bezahlen für die Erlaubnis, Kohlendioxid in die Luft blasen zu dürfen, etwas mit Umweltschutz zu tun haben soll – und das schon immer bezweifelt hat, für die ist diese bissige Satire genau das Richtige.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Dies ist mein letztes Lied

/ 2023

Qui spielt auf einem Instrument in einer Shopping-Mall ein Lied, als ein seltenes Phänomen auftritt: eine Tür, durch die nur Qui treten kann, und deren Ausgang auf einem anderen Planeten liegt, auf dem Menschen in einen langwierigen Krieg zwischen Tag- und Nachtseite verstrickt sind. Qui nimmt an, dass die Tür hierhergeführt hat, damit Qui versucht, Frieden zu stiften. Es braucht einige Erkenntnisse, bevor sich beim Klavierspiel die nächste Tür öffnet, auf einen Planeten, dem Zerstörung durch einen Meteoriten droht, … die nächste Tür in eine virtuelle Welt, auf der Qui mit Trauer und Erinnerungen allein ist, … die nächste Tür auf eine einsame Welt, auf der Qui sich selbst wiederfindet … Die Türen führen Qui auf facettenreiche Welten, zu unterschiedlichsten Menschen, auf einen Exodus, in Naturkatastrophen und Turbokapitalismus. Richter vermeidet dabei nicht nur, ihrer Ich-Erzählstimme ein Geschlecht zuzuweisen, sondern schildert ganz unterschiedliche Formen (queeren) Zusammenlebens und Gesellschaften jenseits von Heteronormativität.

 

Warum lesen

In der Phantastik sind Abgesänge auf den Monomythos der Heldenreise selten – Richter gelingt es, Quis Anspruch an sich selbst und auf ein größeres Ganzes zu demontieren und schlussendlich jede*n selbst eine Antwort auf die Frage suchen zu lassen: Kann ich meinem Handeln einen Sinn geben, auch wenn es im menschlichen (Er-)Leben keine höhere Bestimmung und keine narrative Auflösung gibt?

Auf der Liste: Progressive Phantastik

Originär deutschsprachige politische Fantasy und Science-Fiction

Die schöne Menschenliebe

/ 2011
La belle amour humaine

Mit diesem Roman, der ein Jahr nach dem Erdbeben von 2010 erschien, entspannt Trouillot einen Dialog zwischen Thomas, einem haitianischen Touristenguide und Anaise, einer jungen Frau aus einem Land des globalen Nordens, die in Anse-à-Foleur einem kleinen Küstendorf auf der Suche nach den Spuren ihres verstorbenen Vaters ist. Doch die Begegnung zwischen Anaise und Thomas entwickelt sich weg von einer Identitätssuche und der Frage, wie es zu dem Tod von Anaise verhassten Großvater Robert Montès vor mehreren Jahren kam, hin zu einer Reflexion über das gelingende Zusammenleben und das gute Leben, angesichts omnipräsenter Macht- und Ungleichheitsverhältnisse. Auf diese Fragen scheinen die Bewohner:innen von Anse-à-Foleur eine Antwort gefunden zu haben: Die Schöne Menschenliebe! mehr

Warum lesen:

Weil in diesem Roman sozialistische Tendenzen, ein radikaler Humanismus, Kritik globaler und lokaler (kapitalistischer) Verhältnisse, kreyole Ausdrucksformen und Kunst als widerständige Kraft in dem Entwurf einer konvivialen Utopie, zusammenkommen. Dabei gibt der Text seine Komplexität nicht sofort preis, sondern bewahrt sich einen Teil seiner Leichtigkeit und seines Humors.

 

Auf der Liste: Politische Literatur aus Haiti

Deutsche und englische Übersetzungen ausgewählter haititanischer Erzähltexte