Avantgarde

/ 1963

Die Autorin war 61 Jahre alt, als sie 1962 schreibend die Zwanziger Jahre auferstehen lässt und sich an Brecht erinnert, als der Person, die für ihr eigenes Schaffen so zentral war: »Brecht war schon sechs Jahre tot, ich war allein, ich wollte ihn mir ins Leben zurückrufen und habe ihn im Schreiben sehr nah an mich herangezogen, es war wie eine Beschwörung…«. Die Geisterbeschwörung zeigt die junge Schriftstellerin Cilly Ostermeier in der riesigen, kalten Stadt Berlin, die dort eine Beziehung eingeht zu einem »Genie«, einem »Dompteur«: »Der Mann war eine Potenz, er brach sie sofort.« Aber auch: »Der Dichter stellte ihre Arbeit großzügig heraus, interessierte die richtigen Männer dafür, man begann von ihr zu wissen.« Cillys Sehnsüchte und Liebeswünsche finden keine Erfüllung und der vom Dichter inszenierte Theaterskandal, den sie ausbaden muss, bringt das Fass zum Überlaufen: „Auskommen ohne ihn mußte sie lernen, der Weg lief anders ab heut. Sie hatte ihr persönliches Leben und wenn nicht in seinem Glanz, dann ohne den Glanz.“ Klingt neusachlich, meint aber einen lebenslangen Schmerz.

 

Warum lesen?

Ver- und Entzauberung: Die turbulente Weimarer Republik, das aufregende Berlin, die künstlerischen Avantgarden und die hedonistischen Bohemiens – in Fleißers Rückblick werden die glänzenden Bilder heruntergebrochen auf eine Chiffre, die den Preis der weiblichen Emanzipation benennt und zum Schlagwort wurde: »die Fröste der Freiheit«.

Auf der Liste: Marieluise-Fleißer-Leseliste

Julian ist eine Meerjungfrau

/ 2022

Das Bilderbuch erzählt von einem kleinen Jungen, der mit seiner Oma unterwegs ist. Die beiden begegnen einer Gruppe Meerjungfrauen in der Bahn, und ab diesem Zeitpunkt wünscht sich Julian zu sein wie sie. Zuhause angekommen lässt er seine Träume wahr werden und sucht sich die passenden Dinge aus Omas Haus zusammen, und er verwandelt sich in eine kleine Meerjungfrau. Stolz geht er, geschmückt mit Omas Perlenkette, langem Haar, Lippenstift und Kleid, auf die Parade der Meerjungfrauen. Das Besondere an diesem Buch, das schon für kleine Kinder ab drei Jahren geeignet ist, ist die reduzierte Sprache, die durch eine wunderschöne Bildsprache von der Verwirklichung von Träumen erzählt.

 

Warum lesen?

Fast alle Personen im Buch sind People of Colour, und so ist das Buch eines der wenigen deutschsprachigen Bücher (aus dem Englischen übersetzt) mit einem Schwarzen Kind als Hauptfigur. Insgesamt einfach wunderschön gezeichnet mit einer empowernden Geschichte, die glücklich macht.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Heading south

/ 1997
Vers le Sud

„Heading south“ ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, die zusammen eine polyphone, multiperspektivische Erzählung ergeben. Ganz knapp ließe sich sagen, Laferrière schreibt viel über Sex, aber während er das so (scheinbar) leicht und mit Humor tut, erzählt er von mehr als nur sexuellen Begierden und Begehren. Ob sich ältere Literaturdozentinnen auf den Weg in den Süden machen oder ein junger Mann eine seltsame Freundschaft mit der Geliebten eines einflussreichen Mannes schließt, Laferrière studiert nicht nur sexuelle Begegnungen in den vielfältigsten Ausformungen, sondern handelt an diesen insbesondere auch globale Machtverhältnisse ab. mehr

Warum lesen?

Weil Laferrière Macht und Dominanz in Wörter verpackt, die von Begehren und Lust sprechen und dabei unerbittlich ist, ohne bitter zu werden und leichtlebig schreibt, ohne leichtfertig zu sein. Weil es Vergnügen bereitet Laferrière zu lesen, ihm dabei zuzusehen wie er Macht in all ihren Spielarten beobachtet, und es am Ende doch schmerzhaft ist.

 

Auf der Liste: Politische Literatur aus Haiti

Deutsche und englische Übersetzungen ausgewählter haititanischer Erzähltexte

Liebe, Wut, Wahnsinn

/ 1968
Amour, Colère et Folie

In ihrem bekanntesten Werk seziert Chauvet Haitis Bourgeoisie unter dem Eindruck des Duvalier-Regimes. In drei Teilen („Liebe, Wut und Wahnsinn“) wendet sich die Autorin den intimen menschlichen Beziehungen entlang der Achsen von Race, Class und Gender zu. So ist Claire Clamont, die Ich-Erzählerin und Tagebuchschreiberin von „Liebe“ von der Gleichzeitigkeit der Sehnsucht nach ihrem weißen Schwager Jean Luze und dem plötzlich aufbrechenden Verlangen nach dem Schwarzen Funktionär Calédu getrieben, während sie gleichzeitig mit der Abwertung lebt, die ihre Familie ihr, als ‚dunkelste‘ der drei Schwestern entgegenbringt. Im zweiten Teil, „Wut“, gibt sich die junge Rose den sexuellen Gewaltphantasien eines Sympathisanten des Duvalier-Regimes hin, um durch ihr Opfer den Besitz ihrer Familie zu retten und deren gesellschaftlichen Abstieg zu verhindern. Während die ersten beiden Teile weibliche Figuren und Erzähler:innen ins Zentrum rücken, verhandelt der letzte Teil den „Wahnsinn“ und das Dilemma unter einem brutalen und autoritären Regime zu leben und zu schreiben aus Sicht eines jungen Poeten. mehr

Alle drei Erzählungen berichten davon, wie sich der Verfall menschlicher Beziehungen unter dem Eindruck der Diktatur beschleunigt und der weibliche Körper trotz der sich ablösenden Systeme weiterhin Terrain politischer und patriarchaler Machtausübung bleibt. Diese analytische Schonungslosigkeit, mit welcher Marie Vieux-Chauvet auf die Machtgefüge der haitianischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert blickt, bringt ihr die Anerkennung Simone de Beauvoirs ein, zwingt sie zur Flucht vor der ‚Rache‘ des Regimes nach New York und weckt weder bei den politischen Mächten noch bei Chauvets eigener bürgerlichen Klasse Sympathien. In der Folge gerät die Trilogie nur wenige Monate nach ihrem Erscheinen bis zu ihrer Neuauflage im Jahre 2005 in Vergessenheit. Trotz dieser fast 30jährigen ‘Unsichtbarkeit’ gehört „Liebe, Wut, Wahnsinn“ heute zu den Klassikern haitianischer Literatur und markiert einen wichtigen Wendepunkt für das weibliche, literarische Schaffen in Haiti.

Warum lesen?

Weil Chauvet unerschrocken hinter familiäre Fassaden schaut, die Illusion der Trennung zwischen privaten Raum und politischer Sphäre entlarvt und dabei gleichzeitig differenziert, dicht und präzise schreibt ohne ihre Figuren der Banalität preiszugeben.

Auf der Liste: Politische Literatur aus Haiti

Deutsche und englische Übersetzungen ausgewählter haititanischer Erzähltexte