Der Aufstand der Sonnenkönigin

/ 1988
La reine soleil levée

Ein Arbeitstag beginnt. Die Minuten rasen dahin. Die Ladungen, die auf ihn warten. Seine besorgten Kunden. Andere Transporteure auf der Lauer. Die Konkurrenz ist hart. Das Elend eines anderen, das Glück eines anderen. So beginnt der Roman von Gérard Etienne mit dem Unglück des integren Transportunternehmers Jo Cannel, der plötzlich erkrankt. Zwischen Cannels Weigerung, sich von der Brutalität dieser Krankheit, die seinen Körper zerfrisst, mitreißen zu lassen, und der Trägheit des medizinischen Systems beschließt Mathilda, Cannels Frau, sich diesem System zu stellen, das von Militärs im Dienste des Großmeisters regiert wird – der nur allzu deutliche Parallelen zu dem Diktator Duvalier aufweist. So lässt uns Etienne den Weg von Mathilda und Jo verfolgen, der sie in Opposition zu dem gesamten politischen Apparat bringt. Etiennes Roman ist eine literarische Hymne, deren Poesie in jedem kurzen und prägnanten Satz lebt. Er ist in einer Sprache geschrieben, die an kreolischen Gesang erinnert. Alles ist Mord und Gewalt in dieser Sprache, die sich jeglicher Künstlichkeit entledigt. mehr

Warum lesen?

Der Roman von Gérard Etienne gehört zu den Werken von Schriftstellern, die Opfer der Diktatur wurden. Indem er das Duvalier-Regime anprangert, enthüllt er die Mechanismen der Macht und des Terrors. Etienne zeigt in dem Roman, wie das Regime die Religion und die damit verbundenen Ängste nutzte, um jede Form des Widerstands niederzuschlagen. Er zeigt außerdem, dass es trotz all dessen zu Widerstand kommen kann.

 

 

Auf der Liste: Politische Literatur aus Haiti

Deutsche und englische Übersetzungen ausgewählter haititanischer Erzähltexte

The Dew Breaker

/ 2004

Edwidge Danticat, die Autorin von „The Dew Breaker“, lebt selbst bereits seit langer Zeit nicht mehr in Haiti, trotzdem zeugen viele ihrer Texte von der Präsenz der haitianischen Kultur und der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Landes. Diese Beobachtung trifft auch auf „The Dew Breaker“ zu, dessen Titel nicht nur auf den Klassiker von Jacques Roumain Der Herr über dem Tau anspielt, sondern auch bereits auf die zentrale Figur des Romans: einen ehemaligen Folterer während des Duvalier-Regimes. Um diese Figur und daran geknüpft um die psychischen und physischen Spuren der Diktatur, kreist Danticats Roman, der aus neun Erzählungen besteht. Jede dieser Erzählungen wendet sich einer anderen Figur und deren Geschichte zu, gemeinsam ist ihnen, dass sie alle durch die Erfahrungen der Diktatur bzw. der Bekanntschaft mit dem „dew breaker“ in Beziehung zueinanderstehen. mehr

Warum lesen?

Weil der Roman sich der Frage politischer Gewalt aus verschiedenen Richtungen nähert, ohne den Lesenden den Gefallen zu tun, die Schuldigen Monster sein zu lassen. Dabei zeigt Danticat zugleich wie tief und manchmal unerwartet sich politische Systeme in die intimsten Beziehungen einschreiben.

 

 

Auf der Liste: Politische Literatur aus Haiti

Deutsche und englische Übersetzungen ausgewählter haititanischer Erzähltexte

Liebe, Wut, Wahnsinn

/ 1968
Amour, Colère et Folie

In ihrem bekanntesten Werk seziert Chauvet Haitis Bourgeoisie unter dem Eindruck des Duvalier-Regimes. In drei Teilen („Liebe, Wut und Wahnsinn“) wendet sich die Autorin den intimen menschlichen Beziehungen entlang der Achsen von Race, Class und Gender zu. So ist Claire Clamont, die Ich-Erzählerin und Tagebuchschreiberin von „Liebe“ von der Gleichzeitigkeit der Sehnsucht nach ihrem weißen Schwager Jean Luze und dem plötzlich aufbrechenden Verlangen nach dem Schwarzen Funktionär Calédu getrieben, während sie gleichzeitig mit der Abwertung lebt, die ihre Familie ihr, als ‚dunkelste‘ der drei Schwestern entgegenbringt. Im zweiten Teil, „Wut“, gibt sich die junge Rose den sexuellen Gewaltphantasien eines Sympathisanten des Duvalier-Regimes hin, um durch ihr Opfer den Besitz ihrer Familie zu retten und deren gesellschaftlichen Abstieg zu verhindern. Während die ersten beiden Teile weibliche Figuren und Erzähler:innen ins Zentrum rücken, verhandelt der letzte Teil den „Wahnsinn“ und das Dilemma unter einem brutalen und autoritären Regime zu leben und zu schreiben aus Sicht eines jungen Poeten. mehr

Alle drei Erzählungen berichten davon, wie sich der Verfall menschlicher Beziehungen unter dem Eindruck der Diktatur beschleunigt und der weibliche Körper trotz der sich ablösenden Systeme weiterhin Terrain politischer und patriarchaler Machtausübung bleibt. Diese analytische Schonungslosigkeit, mit welcher Marie Vieux-Chauvet auf die Machtgefüge der haitianischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert blickt, bringt ihr die Anerkennung Simone de Beauvoirs ein, zwingt sie zur Flucht vor der ‚Rache‘ des Regimes nach New York und weckt weder bei den politischen Mächten noch bei Chauvets eigener bürgerlichen Klasse Sympathien. In der Folge gerät die Trilogie nur wenige Monate nach ihrem Erscheinen bis zu ihrer Neuauflage im Jahre 2005 in Vergessenheit. Trotz dieser fast 30jährigen ‘Unsichtbarkeit’ gehört „Liebe, Wut, Wahnsinn“ heute zu den Klassikern haitianischer Literatur und markiert einen wichtigen Wendepunkt für das weibliche, literarische Schaffen in Haiti.

Warum lesen?

Weil Chauvet unerschrocken hinter familiäre Fassaden schaut, die Illusion der Trennung zwischen privaten Raum und politischer Sphäre entlarvt und dabei gleichzeitig differenziert, dicht und präzise schreibt ohne ihre Figuren der Banalität preiszugeben.

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