#Nord-Süd-Gefälle
Vor dem Verdursten
/ 201212. Januar 2010, Erdbeben in Haiti. Zusammenbruch des Landes. Dollars. Billionen, die gesammelt werden. Wiederaufbau in Sicht. NGOS. Architekturbüros und Stadtplanungsunternehmen. Aufträge müssen beschafft werden. Wettbewerb. Lager. Flüchtlinge. Dieses Bild greift der Roman „Vor dem Verdursten“ von Kettly Mars auf. Der Protagonist, Fito Belmar, Architekt und Stadtplaner von Beruf, versucht Aufträge für den Wiederaufbau seines Landes zu bekommen. Fito (der auch Schriftsteller ist und dessen erster Roman fünf Jahre zuvor veröffentlicht wurde) versucht, diesem Leben voller Ohnmacht, persönlicher und sozialer Frustrationen zu entfliehen und sucht in Canaan, "einem trockenen und einsamen Ort", nach einem Heilmittel für seine Probleme. In Canaan geht sein langsamer Abstieg in den Abgrund weiter. Die Ankunft der 40-jährigen Tutsami, einer japanischen Professorin für französischsprachige Literatur, markiert jedoch einen Wendepunkt im Leben des Schriftstellers und Architekten. Trotz des Misstrauens, der Missverständnisse, der Spannungen, aber auch der Verwirrung, die Tutsami bei Fito auslöst, scheint sie den Nerv eines abgestumpften, von seinen Dämonen und von Gewissensbissen geplagten Mannes getroffen zu haben. Mars nimmt uns mit ihrem gut durchdachten Schreibstil mit in die Tiefen ihres Landes, seine tausend Widersprüche, sein Unglück und seine Hoffnungen. mehr
Warum lesen?
Fitos Geschichte ist eine Art Sinnbild, welches die internationale Politik, insbesondere die internationale Hilfe nach dem Erdbeben, kritisiert und so als ein Echo auf Raoul Pecks Dokumentarfilm Assistance Mortelle verstanden werden kann. Zugleich entwirft der Roman Haiti als einen Ort der Offenheit und der Akzeptanz des Anderen, und damit als Alternative zu einer Welt, deren Grenzen sich immer wieder verschließen. In diesem Sinne kann der Roman als Gegendiskurs zur Ablehnung des Anderen gelesen werden.
Die schöne Menschenliebe
/ 2011Mit diesem Roman, der ein Jahr nach dem Erdbeben von 2010 erschien, entspannt Trouillot einen Dialog zwischen Thomas, einem haitianischen Touristenguide und Anaise, einer jungen Frau aus einem Land des globalen Nordens, die in Anse-à-Foleur einem kleinen Küstendorf auf der Suche nach den Spuren ihres verstorbenen Vaters ist. Doch die Begegnung zwischen Anaise und Thomas entwickelt sich weg von einer Identitätssuche und der Frage, wie es zu dem Tod von Anaise verhassten Großvater Robert Montès vor mehreren Jahren kam, hin zu einer Reflexion über das gelingende Zusammenleben und das gute Leben, angesichts omnipräsenter Macht- und Ungleichheitsverhältnisse. Auf diese Fragen scheinen die Bewohner:innen von Anse-à-Foleur eine Antwort gefunden zu haben: Die Schöne Menschenliebe! mehr
Warum lesen:
Weil in diesem Roman sozialistische Tendenzen, ein radikaler Humanismus, Kritik globaler und lokaler (kapitalistischer) Verhältnisse, kreyole Ausdrucksformen und Kunst als widerständige Kraft in dem Entwurf einer konvivialen Utopie, zusammenkommen. Dabei gibt der Text seine Komplexität nicht sofort preis, sondern bewahrt sich einen Teil seiner Leichtigkeit und seines Humors.
Heading south
/ 1997„Heading south“ ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, die zusammen eine polyphone, multiperspektivische Erzählung ergeben. Ganz knapp ließe sich sagen, Laferrière schreibt viel über Sex, aber während er das so (scheinbar) leicht und mit Humor tut, erzählt er von mehr als nur sexuellen Begierden und Begehren. Ob sich ältere Literaturdozentinnen auf den Weg in den Süden machen oder ein junger Mann eine seltsame Freundschaft mit der Geliebten eines einflussreichen Mannes schließt, Laferrière studiert nicht nur sexuelle Begegnungen in den vielfältigsten Ausformungen, sondern handelt an diesen insbesondere auch globale Machtverhältnisse ab. mehr
Warum lesen?
Weil Laferrière Macht und Dominanz in Wörter verpackt, die von Begehren und Lust sprechen und dabei unerbittlich ist, ohne bitter zu werden und leichtlebig schreibt, ohne leichtfertig zu sein. Weil es Vergnügen bereitet Laferrière zu lesen, ihm dabei zuzusehen wie er Macht in all ihren Spielarten beobachtet, und es am Ende doch schmerzhaft ist.