#Vergangenheitsbewältigung


»broken german«
/ 2016
Tomer Gardis Roman fällt auf mehreren Ebenen aus dem Rahmen einer etablierten Sprache und Literatur und sorgt für zahlreiche Irritationen. Das von der Kritik kontrovers diskutierte, »fehlerhafte« Deutsch auf der einen Seite, die Figurenverwirrung, das Verschwimmen der Grenzen zwischen Fiktion und textinterner Realität, die Wendungen und Narrationsbrüche sowie die Vermischung verschiedener Textsorten auf der anderen Seite – all diese Besonderheiten des Romans zeigen, dass sowohl der Autor als auch sein Text diverse Austritte aus tradierten (Kultur-)Diskursen literarisch realisieren und zum Thema machen. Broken German erzählt in Form von kurzen, nicht chronologisch aufgebauten Episoden von einer Vielzahl von Figuren, die sich wie der unzuverlässige Erzähler in einem dezidiert (post)migrantischen Berlin bewegen und sich mit Fragen kultureller und sprachlicher Zugehörigkeiten auseinandersetzen.
Warum lesen?
Gardi und seine Erzählfiguren kommen gleichsam »von außen« in die deutsche Sprache und Literatur. Dabei geben sie ihre Außenseiterposition nicht preis, sondern machen gerade diese zu ihrer wesentlichen literarischen Waffe, mit der sie Möglichkeiten des Sprechens, Schreibens über Vergangenheit und Gegenwart erweitern und bereichern. Der die Normen der (Schrift-)Sprache missachtende Prosatext dekonstruiert das Paradigma der deutschen »Leitkultur« und unterläuft das »Reinheitsgebot« der Sprache als Garant einer gelungenen Integration.
[Anna Rutka]


Desintegriert euch
/ 2018Max Czollek schreibt an gegen das in Deutschland immer weiter nach rechts driftende Klima. Er schreibt aus einer jüdischen Perspektive gegen die Vereinnahmung der Opfer der Shoah durch die Täter*innen und deren Nachkommen, gegen ritualisiertes Gedenken, das oft vor allem den Täter*innen und ihren Nachkommen nützt. »Desintegriert euch!« geht dem Bild auf den Grund, das die BRD von sich selbst entwirft: Das der geläuterten Nation, die gelernt, entschädigt und gutgemacht hat. Er hält dem entgegen, dass nichts wieder je gut sein kann nach Auschwitz. Max Czollek bleibt unversöhnlich und will Rache, sei es auch nur literarisch.
Der Autor schreibt an gegen die »endlich wieder wer sein können«-Rufe auf der Straße bei Sportereignissen, gegen Integrationszwang, Leitkulturgerede und ein nationales Selbstverständnis, das sich anmaßt, Zugehörigkeit anhand völkischer Vorstellungen bestimmen zu wollen.
Warum lesen?
Das Buch ist der Aufruf sich zusammenzuschließen und Bündnisse gegen den weiß-deutschen Mainstream zu knüpfen, sich die Erinnerung, die Geschichte und das Gedenken zurückzuholen und diesen nicht den Täter*innen zu überlassen.


The Dew Breaker
/ 2004Edwidge Danticat, die Autorin von „The Dew Breaker“, lebt selbst bereits seit langer Zeit nicht mehr in Haiti, trotzdem zeugen viele ihrer Texte von der Präsenz der haitianischen Kultur und der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Landes. Diese Beobachtung trifft auch auf „The Dew Breaker“ zu, dessen Titel nicht nur auf den Klassiker von Jacques Roumain Der Herr über dem Tau anspielt, sondern auch bereits auf die zentrale Figur des Romans: einen ehemaligen Folterer während des Duvalier-Regimes. Um diese Figur und daran geknüpft um die psychischen und physischen Spuren der Diktatur, kreist Danticats Roman, der aus neun Erzählungen besteht. Jede dieser Erzählungen wendet sich einer anderen Figur und deren Geschichte zu, gemeinsam ist ihnen, dass sie alle durch die Erfahrungen der Diktatur bzw. der Bekanntschaft mit dem „dew breaker“ in Beziehung zueinanderstehen. mehr
Warum lesen?
Weil der Roman sich der Frage politischer Gewalt aus verschiedenen Richtungen nähert, ohne den Lesenden den Gefallen zu tun, die Schuldigen Monster sein zu lassen. Dabei zeigt Danticat zugleich wie tief und manchmal unerwartet sich politische Systeme in die intimsten Beziehungen einschreiben.