Liebe, Wut, Wahnsinn

/ 1968
Amour, Colère et Folie

In ihrem bekanntesten Werk seziert Chauvet Haitis Bourgeoisie unter dem Eindruck des Duvalier-Regimes. In drei Teilen („Liebe, Wut und Wahnsinn“) wendet sich die Autorin den intimen menschlichen Beziehungen entlang der Achsen von Race, Class und Gender zu. So ist Claire Clamont, die Ich-Erzählerin und Tagebuchschreiberin von „Liebe“ von der Gleichzeitigkeit der Sehnsucht nach ihrem weißen Schwager Jean Luze und dem plötzlich aufbrechenden Verlangen nach dem Schwarzen Funktionär Calédu getrieben, während sie gleichzeitig mit der Abwertung lebt, die ihre Familie ihr, als ‚dunkelste‘ der drei Schwestern entgegenbringt. Im zweiten Teil, „Wut“, gibt sich die junge Rose den sexuellen Gewaltphantasien eines Sympathisanten des Duvalier-Regimes hin, um durch ihr Opfer den Besitz ihrer Familie zu retten und deren gesellschaftlichen Abstieg zu verhindern. Während die ersten beiden Teile weibliche Figuren und Erzähler:innen ins Zentrum rücken, verhandelt der letzte Teil den „Wahnsinn“ und das Dilemma unter einem brutalen und autoritären Regime zu leben und zu schreiben aus Sicht eines jungen Poeten. mehr

Alle drei Erzählungen berichten davon, wie sich der Verfall menschlicher Beziehungen unter dem Eindruck der Diktatur beschleunigt und der weibliche Körper trotz der sich ablösenden Systeme weiterhin Terrain politischer und patriarchaler Machtausübung bleibt. Diese analytische Schonungslosigkeit, mit welcher Marie Vieux-Chauvet auf die Machtgefüge der haitianischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert blickt, bringt ihr die Anerkennung Simone de Beauvoirs ein, zwingt sie zur Flucht vor der ‚Rache‘ des Regimes nach New York und weckt weder bei den politischen Mächten noch bei Chauvets eigener bürgerlichen Klasse Sympathien. In der Folge gerät die Trilogie nur wenige Monate nach ihrem Erscheinen bis zu ihrer Neuauflage im Jahre 2005 in Vergessenheit. Trotz dieser fast 30jährigen ‘Unsichtbarkeit’ gehört „Liebe, Wut, Wahnsinn“ heute zu den Klassikern haitianischer Literatur und markiert einen wichtigen Wendepunkt für das weibliche, literarische Schaffen in Haiti.

Warum lesen?

Weil Chauvet unerschrocken hinter familiäre Fassaden schaut, die Illusion der Trennung zwischen privaten Raum und politischer Sphäre entlarvt und dabei gleichzeitig differenziert, dicht und präzise schreibt ohne ihre Figuren der Banalität preiszugeben.

Auf der Liste: Politische Literatur aus Haiti

Deutsche und englische Übersetzungen ausgewählter haititanischer Erzähltexte