Buchcover des Buches Nordstadt.
Buchcover des Buches Nordstadt.

Nordstadt

/ 2022

Nördlich der Autobahn, im Ruhrgebiet, wo sich die Problemviertel befinden, ist der Himmel so grau wie über dem »Sprawl« aus William Gibsons Cyberpunkklassiker »Neuromancer«. Nene, eine junge Frau, hat es geschafft, ihre von Gewalt geprägte Jugend hinter sich zu bringen, und ist Bademeisterin in einem Schwimmbad geworden.

Eines Tages kommt Boris ins Schwimmbad. Er braucht Hilfe beim Schwimmen, und obwohl er nicht wie ein Traummann aussieht und arm ist, schleicht er sich in Nenes Herz und sie in seines. Die Vergangenheit macht ihnen das Leben schwer, ihre Narben jucken, wenn sie sich sehen, und Boris mag sein eigenes Leben so wenig, dass er für Nene ein neues erfindet.

Wenn ein wenig Blau durch den wolkenverhangenen Horizont leuchtet, zerreißt es fast das Herz der Leser*in, doch wenn der Himmel zuzieht, scheint der Riss in den Herzen der beiden irreparabel zu sein. Dennoch sind Nene und Boris keine Abziehbilder des Elends, sondern reale Menschen, die an der Welt zu zerschellen drohen.

 

Warum lesen?

Der schmale Roman wirkt wie ein lyrischer Punksong ohne Gitarren und Noten. In jeder Zeile ist der alltägliche Dreck zu spüren, der ein jedes Leben durchzieht. Der Roman ist ein Aufschrei gequälter Kreaturen, und, wenn nicht Teil der Befreiung vom miesen Elend, dann doch der Versuch, sich von ihm nicht unterkriegen zu lassen und etwas zu verändern.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Stella Maris

/ 2023

Dass man einen Roman aufschlägt, der mit einem Dialog beginnt, das ist nichts Ungewöhnliches. Aber ein Roman, der ein Dialog bleibt, und das 239 Seiten durch, das ist dann doch etwas, was mich interessiert – und dann noch von dem Autor der »Straße«. Die Dynamik des Gesprächs bestimmt die Dramaturgie, d.h. auch die Missverständnisse und Sackgassen. Wir erleben einen Psychiater im Gespräch mit einer genialen Patientin, Mathematikerin und Violinistin, die für den behandelnden Arzt eine ganz schöne Herausforderung ist. Ein Buch über existentielle philosophische Fragen und über Manipulation. Und über die Frage nach Normalität, Krankheit und Heilung auf eine Weise, die dem Goedelschen Satz, dass die Mathematik mehr Fragen aufwirft, als sie beantworten kann, entspricht. Dieses Buch ist eigentlich als Zusammenhang mit einem anderen Roman des Autors gedacht, der quasi zeitgleich erschien »Der Passagier«, und beide stellen gewissermaßen das Schweigen des anderen dar. Sie sind sozusagen Zusatzschweigen, aber ich habe das zweite Buch erst angelesen. »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen«, dieses Wittgensteinzitat nimmt »Stella Marais« als seine eigentliche Herausforderung. Manchmal ist es mühsam zu lesen, wenn eine gewisse Selbstgefälligkeit des Autors einen von einer gedanklichen Pirouette zur nächsten schleudert, aber ich bin doch dran geblieben. Merkwürdig...

Auf der Liste: Kein Vorwärtsgang

Wie im Wald

/ 2014

Ein verstörendes, teilweise idyllisches Stimmungsbild einer Pflegefamilie, in der es zu einer Bluttat kommt. Der Text erzählt alternierend aus der Sicht einer jungen Frau und ihrer ehemaligen Pflegeschwester. Die beiden hatten eine sehr schöne Kindheit miteinander bis es zu einem traumatisierenden Ereignis gekommen ist. Die Sprache des Pflegekindes entwickelt einen starken Sog, der Plot ist clever und spannend. Sprachlich herausragend, beklemmend, oszillierend und sehr kunstvoll. Elisabeth Klar ist eine Autorin, vor der ich mich gerne verneige. mehr

 

Warum lesen

So eine stimmige, maßgeschneiderte Sprache liest man selten.

Auf der Liste: Das Politische im Privaten – österreichische Autorinnen

The Dew Breaker

/ 2004

Edwidge Danticat, die Autorin von „The Dew Breaker“, lebt selbst bereits seit langer Zeit nicht mehr in Haiti, trotzdem zeugen viele ihrer Texte von der Präsenz der haitianischen Kultur und der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Landes. Diese Beobachtung trifft auch auf „The Dew Breaker“ zu, dessen Titel nicht nur auf den Klassiker von Jacques Roumain Der Herr über dem Tau anspielt, sondern auch bereits auf die zentrale Figur des Romans: einen ehemaligen Folterer während des Duvalier-Regimes. Um diese Figur und daran geknüpft um die psychischen und physischen Spuren der Diktatur, kreist Danticats Roman, der aus neun Erzählungen besteht. Jede dieser Erzählungen wendet sich einer anderen Figur und deren Geschichte zu, gemeinsam ist ihnen, dass sie alle durch die Erfahrungen der Diktatur bzw. der Bekanntschaft mit dem „dew breaker“ in Beziehung zueinanderstehen. mehr

Warum lesen?

Weil der Roman sich der Frage politischer Gewalt aus verschiedenen Richtungen nähert, ohne den Lesenden den Gefallen zu tun, die Schuldigen Monster sein zu lassen. Dabei zeigt Danticat zugleich wie tief und manchmal unerwartet sich politische Systeme in die intimsten Beziehungen einschreiben.

 

 

Auf der Liste: Politische Literatur aus Haiti

Deutsche und englische Übersetzungen ausgewählter haititanischer Erzähltexte