Avantgarde

/ 1963

Die Autorin war 61 Jahre alt, als sie 1962 schreibend die Zwanziger Jahre auferstehen lässt und sich an Brecht erinnert, als der Person, die für ihr eigenes Schaffen so zentral war: »Brecht war schon sechs Jahre tot, ich war allein, ich wollte ihn mir ins Leben zurückrufen und habe ihn im Schreiben sehr nah an mich herangezogen, es war wie eine Beschwörung…«. Die Geisterbeschwörung zeigt die junge Schriftstellerin Cilly Ostermeier in der riesigen, kalten Stadt Berlin, die dort eine Beziehung eingeht zu einem »Genie«, einem »Dompteur«: »Der Mann war eine Potenz, er brach sie sofort.« Aber auch: »Der Dichter stellte ihre Arbeit großzügig heraus, interessierte die richtigen Männer dafür, man begann von ihr zu wissen.« Cillys Sehnsüchte und Liebeswünsche finden keine Erfüllung und der vom Dichter inszenierte Theaterskandal, den sie ausbaden muss, bringt das Fass zum Überlaufen: „Auskommen ohne ihn mußte sie lernen, der Weg lief anders ab heut. Sie hatte ihr persönliches Leben und wenn nicht in seinem Glanz, dann ohne den Glanz.“ Klingt neusachlich, meint aber einen lebenslangen Schmerz.

 

Warum lesen?

Ver- und Entzauberung: Die turbulente Weimarer Republik, das aufregende Berlin, die künstlerischen Avantgarden und die hedonistischen Bohemiens – in Fleißers Rückblick werden die glänzenden Bilder heruntergebrochen auf eine Chiffre, die den Preis der weiblichen Emanzipation benennt und zum Schlagwort wurde: »die Fröste der Freiheit«.

Auf der Liste: Marieluise-Fleißer-Leseliste

Eine Zierde für den Verein

/ 1972
Mehlreisende Frieda Geier. Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen. / 1931

Neue Frauen gab es einige in der Weimarer Republik und sie tummelten sich vornehmlich in Berlin. Fleißers einziger Roman »Mehlreisende Frieda Geier« hingegen spielt in der bayerischen Provinz, durch die die titelgebende Protagonistin in ihrem Wagen, dem Laubfrosch tourt, um ihre Ware an den Mann zu bringen. Zuhause wartet der Tabakwarenhändler und Sportschwimmer Gustl, dem diese Emanzipationsbewegungen nicht geheuer sind und der sie gerne an die kurze Leine legen möchte. Frieda Geier macht, was Fleißer nicht tat: Sie trennt sich von ihrem Freund, das biographische Vorbild hingegen wurde Fleißers Ehemann, mit ihm lebte die Autorin »angehängt wie einen Kettenhund«. Fleißer überarbeitete den Roman später unter dem Titel »Eine Zierde für den Verein« und fokussierte damit den männlichen Protagonisten – schade eigentlich.

 

Warum lesen?

Genussmittel: Die Aufzählung im Untertitel – »Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen« – benennt die sinnlich-erotische Dimension, die Fleißer gemeinsam mit der ökonomischen als Grundlage weiblicher Emanzipation in Szene setzt.

Auf der Liste: Marieluise-Fleißer-Leseliste

Der Apfel

/ 1925, überarbeitet 1972

Die Erzählung, 1925 erschienen, ist eine von Fleißers frühen Texten, umfasst nur wenige – vier, fünf – Seiten und dreht sich um einen sehr unscheinbaren Gegenstand, den titelgebenden Apfel. Die Geschichte ist diese: Ein sehr armes Mädchen bekommt unerwartet von einer Freundin zwei Äpfel geschenkt. Einen wird sie essen, den anderen will sie ihrem Freund schenken. Was danach passiert, ist abgrundtief traurig und soll hier nicht verraten werden, nur so viel: Fleißers transformiert die schöne Geste des Schenkens und Liebens zur bitteren Lektion für das Mädchen: »Man nannte erwachsen, wem ein Licht aufgegangen war über die natürliche Feindschaft unter den Menschen.« Der Apfel der Erkenntnis: Hier schmeckt er sehr bitter.

 

Warum lesen?

Einstiegsdroge: Schon dieser frühe Text offenbart Fleißers meisterhafte Fähigkeit, aus den allerkleinsten Begebenheiten ein Drama existentieller Dimension zu entfalten.

Auf der Liste: Marieluise-Fleißer-Leseliste
Buchcover des Buches Nordstadt.
Buchcover des Buches Nordstadt.

Nordstadt

/ 2022

Nördlich der Autobahn, im Ruhrgebiet, wo sich die Problemviertel befinden, ist der Himmel so grau wie über dem »Sprawl« aus William Gibsons Cyberpunkklassiker »Neuromancer«. Nene, eine junge Frau, hat es geschafft, ihre von Gewalt geprägte Jugend hinter sich zu bringen, und ist Bademeisterin in einem Schwimmbad geworden.

Eines Tages kommt Boris ins Schwimmbad. Er braucht Hilfe beim Schwimmen, und obwohl er nicht wie ein Traummann aussieht und arm ist, schleicht er sich in Nenes Herz und sie in seines. Die Vergangenheit macht ihnen das Leben schwer, ihre Narben jucken, wenn sie sich sehen, und Boris mag sein eigenes Leben so wenig, dass er für Nene ein neues erfindet.

Wenn ein wenig Blau durch den wolkenverhangenen Horizont leuchtet, zerreißt es fast das Herz der Leser*in, doch wenn der Himmel zuzieht, scheint der Riss in den Herzen der beiden irreparabel zu sein. Dennoch sind Nene und Boris keine Abziehbilder des Elends, sondern reale Menschen, die an der Welt zu zerschellen drohen.

 

Warum lesen?

Der schmale Roman wirkt wie ein lyrischer Punksong ohne Gitarren und Noten. In jeder Zeile ist der alltägliche Dreck zu spüren, der ein jedes Leben durchzieht. Der Roman ist ein Aufschrei gequälter Kreaturen, und, wenn nicht Teil der Befreiung vom miesen Elend, dann doch der Versuch, sich von ihm nicht unterkriegen zu lassen und etwas zu verändern.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Überbitten

/ 2017

Man muss Unorthodox nicht unbedingt gelesen haben. Bestseller hin oder her. Und die merkwürdig bemühte Netflix-Adaption macht auch nicht direkt Lust auf die Lektüre. Aber Feldmans zweite autobiografische Erzählung hat in ihrer deutschen Fassung trotz ihres Umfangs von mehr als 700 Seiten etwas sehr Faszinierendes. Nicht nur, weil so viel mehr drinsteht als in der schmalen Version »Exodus« für den amerikanischen Markt. »Überbitten« ist in vielerlei Hinsicht beachtenswert, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zu Deutschland und auf den Umgang mit geerbten Rachegefühlen. Was macht eine junge Mutter aus ultraorthodoxem Haus, der man als Kind zum Einschlafen vorgesungen hat »nimm nekume ojf dejn mames blut« (Nimm Rache für deiner Mutter Blut), wenn sie sich ein neues Leben im Land der Täter*innen einrichtet? Wie viele Anläufe braucht es, um eine ‚unbelastete‘ Liebesbeziehung mit einem Deutschen zu führen? Der Text wird nach hinten raus vielleicht ein bisschen arg versöhnlich und bildungsromanig: Die Erzählerin hat eine Entwicklung durchgemacht und erfolgreich ihre Ressentiments gewilhelmmeistert. Aber das ungeschminkte Vermessen der privaten wie kollektiven Gefühlslandschaften mitsamt der zahlreichen Literaturverweise lohnt die Lektüre allemal.

 

Warum lesen

Weil weibliche Stimmen im literarischen Universum jüdischer Rache eine Seltenheit sind und Rachegefühle nachweislich auch in der dritten Generation fortwirken.

Bester Satz: »Nazis hatten in meiner Kindheit eine übermäßige Rolle gespielt.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Laute Paare

/ 2002

Der Prosa- und Lyrikband zeigt, was Sprache alles kann. Ihre lautmalerischen Listen und Wortspiele, ihre Kammerspiele und Kulissen nehmen erotische und kriminologische Szenen aufs Korn, sind aber auch todernste Installationen und Stimmungsbilder aus Beziehungen. Zum Vorlesen, Anstacheln, und nebenbei auch als Material für Schreibübungen. Schockierend, inspirierend und komisch und höchst unanständig. mehr

 

Warum lesen

Nicht viel fragen, einfach darauf einlassen. Großes Kino auf wenigen Seiten!

Auf der Liste: Das Politische im Privaten – österreichische Autorinnen