»Gewässer im Ziplock«

/ 2023

 

Die fünfzehnjährige Margarita wächst bei ihrem israelischen Vater, dem Kantor Avi, in Berlin auf. Die Sommer verbringt sie meistens bei ihren Großeltern in Chicago und langweilt sich dort fürchterlich ohne ihre Freunde. Mit der Langeweile ist es vorbei, als sie zu ihrer Mutter Masha nach Israel fliegt – die sie seit Kleinkindertagen nicht mehr gesehen hat und die prompt die Verabredung am Flughafen vergisst. In der Konfrontation der drei Generationen von Jüdinnen zwischen Israel, Nordamerika und Europa, zwischen traumatischer Vergangenheit und dem Gefühlschaos eines Teenagers stellt sich für Margarita schließlich die Frage, was eigentlich jüdische Identität ist. Gleichzeitig muss sich aber auch Avi die Frage stellen, wie er als Israeli und praktizierender Jude in Berlin leben möchte.

Warum lesen?

Weil das Buch aus der glaubhaft dargestellten Perspektive eines fünfzehnjährigen Mädchens die jüdische Gegenwart in den 2020er-Jahren schildert. Dabei entwickelt diedialogzentrierte, schnelle Erzählung zunehmend einen eigensinnigen Humor. Auch findet der Text immer wieder poetische Formulierungen wie den Titel »Gewässer im Ziplock« – Tränen, verschüttete Coca Cola auf der Hose, die verschiedenen Ozeane oder nur eine rauschende Dusche? Alles verschwimmt im ständigen Zustand des Unterwegsseins und gerinnt zu Erinnerungen, die schließlich in einen Ziplockbeutel passen. Wer sich für eine zeitgemäße literarische Darstellung der dritten Generation nach der Shoah interessiert, muss diesen Roman lesen.

[Caspar Battegay]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

Buchcover des Buches Nordstadt.
Buchcover des Buches Nordstadt.

Nordstadt

/ 2022

Nördlich der Autobahn, im Ruhrgebiet, wo sich die Problemviertel befinden, ist der Himmel so grau wie über dem »Sprawl« aus William Gibsons Cyberpunkklassiker »Neuromancer«. Nene, eine junge Frau, hat es geschafft, ihre von Gewalt geprägte Jugend hinter sich zu bringen, und ist Bademeisterin in einem Schwimmbad geworden.

Eines Tages kommt Boris ins Schwimmbad. Er braucht Hilfe beim Schwimmen, und obwohl er nicht wie ein Traummann aussieht und arm ist, schleicht er sich in Nenes Herz und sie in seines. Die Vergangenheit macht ihnen das Leben schwer, ihre Narben jucken, wenn sie sich sehen, und Boris mag sein eigenes Leben so wenig, dass er für Nene ein neues erfindet.

Wenn ein wenig Blau durch den wolkenverhangenen Horizont leuchtet, zerreißt es fast das Herz der Leser*in, doch wenn der Himmel zuzieht, scheint der Riss in den Herzen der beiden irreparabel zu sein. Dennoch sind Nene und Boris keine Abziehbilder des Elends, sondern reale Menschen, die an der Welt zu zerschellen drohen.

 

Warum lesen?

Der schmale Roman wirkt wie ein lyrischer Punksong ohne Gitarren und Noten. In jeder Zeile ist der alltägliche Dreck zu spüren, der ein jedes Leben durchzieht. Der Roman ist ein Aufschrei gequälter Kreaturen, und, wenn nicht Teil der Befreiung vom miesen Elend, dann doch der Versuch, sich von ihm nicht unterkriegen zu lassen und etwas zu verändern.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Julian ist eine Meerjungfrau

/ 2022

Das Bilderbuch erzählt von einem kleinen Jungen, der mit seiner Oma unterwegs ist. Die beiden begegnen einer Gruppe Meerjungfrauen in der Bahn, und ab diesem Zeitpunkt wünscht sich Julian zu sein wie sie. Zuhause angekommen lässt er seine Träume wahr werden und sucht sich die passenden Dinge aus Omas Haus zusammen, und er verwandelt sich in eine kleine Meerjungfrau. Stolz geht er, geschmückt mit Omas Perlenkette, langem Haar, Lippenstift und Kleid, auf die Parade der Meerjungfrauen. Das Besondere an diesem Buch, das schon für kleine Kinder ab drei Jahren geeignet ist, ist die reduzierte Sprache, die durch eine wunderschöne Bildsprache von der Verwirklichung von Träumen erzählt.

 

Warum lesen?

Fast alle Personen im Buch sind People of Colour, und so ist das Buch eines der wenigen deutschsprachigen Bücher (aus dem Englischen übersetzt) mit einem Schwarzen Kind als Hauptfigur. Insgesamt einfach wunderschön gezeichnet mit einer empowernden Geschichte, die glücklich macht.

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Wie im Wald

/ 2014

Ein verstörendes, teilweise idyllisches Stimmungsbild einer Pflegefamilie, in der es zu einer Bluttat kommt. Der Text erzählt alternierend aus der Sicht einer jungen Frau und ihrer ehemaligen Pflegeschwester. Die beiden hatten eine sehr schöne Kindheit miteinander bis es zu einem traumatisierenden Ereignis gekommen ist. Die Sprache des Pflegekindes entwickelt einen starken Sog, der Plot ist clever und spannend. Sprachlich herausragend, beklemmend, oszillierend und sehr kunstvoll. Elisabeth Klar ist eine Autorin, vor der ich mich gerne verneige. mehr

 

Warum lesen

So eine stimmige, maßgeschneiderte Sprache liest man selten.

Auf der Liste: Das Politische im Privaten – österreichische Autorinnen