Scheiblettenkind

/ 2022

Mit Ausdrücken wie »Assitusse« wird das Mädchen schon in der Schule von den Kindern aus der Mittelschicht gemobbt und ausgegrenzt. Die Eltern arbeiten und arbeiten, trotzdem reicht das Geld vorn und hinten nicht, in manchen Zeiten nicht einmal fürs Taschengeld. Dazu kommt der soziale Druck der Familie und der Nachbarn. Neben dem Lesen scheint nur Geld eine Möglichkeit zu sein, dem Druck zu entkommen. Früh fängt sie an zu arbeiten. Sie will ins Freibad gehen, hat kein Geld, also arbeitet sie in der Imbissbude und verbreitet überall den Geruch von Frittierfett. Ihre Mitschüler*innen geben beim Kaufen von Pommes entsprechende Kommentare von sich und verziehen die Gesichter. Erst als sie eine Gruppe von Punker*innen kennenlernt, fühlt sie sich dort aufgehoben. Doch auch hier wird klar, dass die anderen aus gut situierten Familien kommen, und in solchen Situationen taucht das Sich-Fremd-Fühlen wieder auf. Das Gefühl der Scham wird sie noch lange begleiten. Sie trotzt all den Widrigkeiten, ist mutig und hat dabei auch ihren Spaß.

 

Warum lesen?

Mir ist bei diesem Buch noch einmal klar geworden, warum ich Graphic Novels so schätze. Die Kombination von Schrift und Bild erzeugt einen besonderen Sog. Die Vermittlung der Inhalte und der Gefühle, etwa als die Heldin in einer Fabrik stundenlang an der Maschine arbeitet, gelingt großartig.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Die geheimste Erinnerung der Menschen

/ 2022

Wie der Autor selbst stammt der Protagonist Diégane aus dem Senegal und versucht in Paris sein Glück als Schriftsteller. Dabei stößt er auf Spuren des rätselhaften Schriftstellers T.C. Elimane, der Jahrzehnte zuvor ebenfalls aus dem Senegal nach Frankreich kam und dort einen Roman veröffentlichte. Autor wie Roman sind verschollen – doch durch Zufall kommt Diégane an ein Exemplar des Romans, ist zutiefst fasziniert und gerät auf der Suche nach Elimane in immer tiefere Schichten der Vergangenheit. In verschachtelten Erzählebenen erfährt die Leserin zwar mehr als Diégane selbst, dennoch bleibt vieles ungelöst und im Verborgenen. Ob der Roman vorrangig eine Kriminalgeschichte, eine Abrechnung mit Rassismus, Literaturelite und Kolonialismus, eine unglückliche Liebesgeschichte oder die Suche nach einem Zuhause und der eigenen Berufung auf drei Kontinenten ist, bleibt ebenfalls unklar. Eins wird jedoch deutlich: Ein Leben ohne Bücher und Literatur ist unvorstellbar.

 

Warum lesen?

In Frankreich wurde der Roman mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, es ist das erste Buch Sarrs, das auch auf Deutsch erscheint. Die Verfasserin dieser Zeilen hat die 448 Seiten des Romans an einem Nachmittag verschlungen und kann nur dazu ermutigen, sich ebenfalls in diese Geschichte zu stürzen!

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!
Buchcover des Buches Nordstadt.
Buchcover des Buches Nordstadt.

Nordstadt

/ 2022

Nördlich der Autobahn, im Ruhrgebiet, wo sich die Problemviertel befinden, ist der Himmel so grau wie über dem »Sprawl« aus William Gibsons Cyberpunkklassiker »Neuromancer«. Nene, eine junge Frau, hat es geschafft, ihre von Gewalt geprägte Jugend hinter sich zu bringen, und ist Bademeisterin in einem Schwimmbad geworden.

Eines Tages kommt Boris ins Schwimmbad. Er braucht Hilfe beim Schwimmen, und obwohl er nicht wie ein Traummann aussieht und arm ist, schleicht er sich in Nenes Herz und sie in seines. Die Vergangenheit macht ihnen das Leben schwer, ihre Narben jucken, wenn sie sich sehen, und Boris mag sein eigenes Leben so wenig, dass er für Nene ein neues erfindet.

Wenn ein wenig Blau durch den wolkenverhangenen Horizont leuchtet, zerreißt es fast das Herz der Leser*in, doch wenn der Himmel zuzieht, scheint der Riss in den Herzen der beiden irreparabel zu sein. Dennoch sind Nene und Boris keine Abziehbilder des Elends, sondern reale Menschen, die an der Welt zu zerschellen drohen.

 

Warum lesen?

Der schmale Roman wirkt wie ein lyrischer Punksong ohne Gitarren und Noten. In jeder Zeile ist der alltägliche Dreck zu spüren, der ein jedes Leben durchzieht. Der Roman ist ein Aufschrei gequälter Kreaturen, und, wenn nicht Teil der Befreiung vom miesen Elend, dann doch der Versuch, sich von ihm nicht unterkriegen zu lassen und etwas zu verändern.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Desintegriert euch

/ 2018

Max Czollek schreibt an gegen das in Deutschland immer weiter nach rechts driftende Klima. Er schreibt aus einer jüdischen Perspektive gegen die Vereinnahmung der Opfer der Shoah durch die Täter*innen und deren Nachkommen, gegen ritualisiertes Gedenken, das oft vor allem den Täter*innen und ihren Nachkommen nützt. »Desintegriert euch!« geht dem Bild auf den Grund, das die BRD von sich selbst entwirft: Das der geläuterten Nation, die gelernt, entschädigt und gutgemacht hat. Er hält dem entgegen, dass nichts wieder je gut sein kann nach Auschwitz. Max Czollek bleibt unversöhnlich und will Rache, sei es auch nur literarisch.

Der Autor schreibt an gegen die »endlich wieder wer sein können«-Rufe auf der Straße bei Sportereignissen, gegen Integrationszwang, Leitkulturgerede und ein nationales Selbstverständnis, das sich anmaßt, Zugehörigkeit anhand völkischer Vorstellungen bestimmen zu wollen.

 

Warum lesen?

Das Buch ist der Aufruf sich zusammenzuschließen und Bündnisse gegen den weiß-deutschen Mainstream zu knüpfen, sich die Erinnerung, die Geschichte und das Gedenken zurückzuholen und diesen nicht den Täter*innen zu überlassen.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Julian ist eine Meerjungfrau

/ 2022

Das Bilderbuch erzählt von einem kleinen Jungen, der mit seiner Oma unterwegs ist. Die beiden begegnen einer Gruppe Meerjungfrauen in der Bahn, und ab diesem Zeitpunkt wünscht sich Julian zu sein wie sie. Zuhause angekommen lässt er seine Träume wahr werden und sucht sich die passenden Dinge aus Omas Haus zusammen, und er verwandelt sich in eine kleine Meerjungfrau. Stolz geht er, geschmückt mit Omas Perlenkette, langem Haar, Lippenstift und Kleid, auf die Parade der Meerjungfrauen. Das Besondere an diesem Buch, das schon für kleine Kinder ab drei Jahren geeignet ist, ist die reduzierte Sprache, die durch eine wunderschöne Bildsprache von der Verwirklichung von Träumen erzählt.

 

Warum lesen?

Fast alle Personen im Buch sind People of Colour, und so ist das Buch eines der wenigen deutschsprachigen Bücher (aus dem Englischen übersetzt) mit einem Schwarzen Kind als Hauptfigur. Insgesamt einfach wunderschön gezeichnet mit einer empowernden Geschichte, die glücklich macht.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Eure Heimat ist unser Albtraum

/ 2019

Heimat finden, Heimat haben, heimatlos sein, viele Schriftsteller*innen haben sich schon mit Heimat beschäftigt. Welche Vorstellungen haben wir von Heimat und wer ist eigentlich wir?

Das Buch »Eure Heimat ist unser Albtraum« ist der Widerstand derjenigen, die vom Konzept der Heimat ausgeschlossen werden – und so lautet auch die Widmung der Autor*innen: »Für Uns«. Es beginnt mit einer Einordnung der aktuellen Erweckung des Heimatbegriffs und der damit verbundenen Gefühle und Annahmen. Weiter geht es mit Alltagssituationen, in denen auffällt, dass anscheinend selbstverständlich Menschen davon ausgeschlossen sind, mitgedacht und gemeint zu werden. Die Schlüsse, die die Texte zulassen, sind eindeutig: Die Vorstellung des bundesdeutschen »Wir« ist immer noch vor allem an rassistische Kriterien geknüpft: Aussehen, Sprache, Religion.

 

Warum lesen?

Fatma Aydemir, Max Czollek, Sharon Dodua Otoo, Margarete Stokowski und acht weitere Autor*innen schreiben von Sichtbarkeit, von Arbeit und deren Wert, sie schreiben über Sprache, Blicke, Zuhause und Gegenwartsbewältigung. Es wird deutlich, dass Heimat immer völkisch gedacht und rassistisch genutzt wird – von Nationalist*innen wie von vielen Menschen, die sich für neutral halten und meinen, eine vermeintliche »Mitte« zu repräsentieren.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Dschinns

/ 2022

Hüseyin, du bist 59 Jahre alt, die letzten 30 davon hast du in der Metallfabrik gearbeitet. 1971 kamst du, aus einem Dorf im Osten der Türkei, nach Süddeutschland. Du hattest dir ein neues Leben erhofft, ein Zuhause, aber die Einsamkeit blieb. Und du arbeitetest drei Schichten, am Sonntag, an den Feiertagen. Du warst dir nie zu schade, alle Arbeiten, die kein Deutscher machen wollte, hast du übernommen.

Nun bist du in Istanbul, endlich hast du es geschafft, du hast eine Wohnung von deinen Ersparnissen dort gekauft. Die Wohnung in Istanbul soll der langersehnte Ort sein, an dem du Zuhause bist, mit deiner Frau Emine, sie und die Kinder sollen in ein paar Tagen eintreffen.

Das ist der Ausgangspunkt von Fatma Aydemirs Roman, in dem sie ein Bild der Neunzigerjahre in Deutschland komponiert; er ist eine vielschichtige Erzählung von den Sehnsüchten, Gewissheiten und dem Alltag türkischer Migrant*innen, die über das Anwerbeabkommen mit der Türkei in den Siebziger Jahren nach Deutschland gekommen sind, die wieder gehen sollten und wollten und trotzdem blieben, deren Kinder in Deutschland aufwuchsen und dessen selbstverständlicher Teil sie heute sind.

 

 

Warum lesen?

Auch in ihrem zweiten Roman gelingt es Fatma Aydemir, Alltäglichkeiten so eindringlich zu erzählen, dass man am Ende das Gefühl hat, die Romanfiguren tatsächlich kennengelernt zu haben.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Die Kunst, sich zu verlieren

/ 2020

Rebecca Solnit hat in »Die Kunst, sich zu verlieren« einen essayistischen Weg eingeschlagen und hilft mir dabei, mein Interesse an diesen nonlinearen, unplotbaren Büchern zu verstehen. Irrgärten der Literatur sind auch heute notwendig, allerdings offene Irrgärten, die eine zwangsläufige Logik haben oder wie eine Landschaft sind, in der man sich verlieren möchte, um den Weg als jemand anders wieder herauszufinden. So Solnit. Ihre sinnlich aufgeladene essayistische Komposition träumt darin wiederholt vom »Blau der Ferne«, das als Sehnsuchtsabstraktion ein wiederkehrendes und sehr sinnlich aufgeladenes variantenreiches Motiv des Buches ist. Ein Gegenbild des Sich-Verlierens. Am stärksten noch ist mir der Eingangsessay in Erinnerung, »Offene Tür«, meine Conclusio: »Die Kunst, in der Irre zu Hause zu sein« gehört letztendlich zu jenen Fähigkeiten, »die mir eine Atempause von meiner eigenen Lebensgeschichte verschaffen, wo ich, um mit Benjamin zu sprechen, mich verirrt, mich verloren habe, obwohl ich weiß, wo ich bin.«

Auf der Liste: Kein Vorwärtsgang