#Das Private ist politisch
Quasikristalle
/ 2013Menasse hat eine große technische Herausforderung gemeistert, die sprachlich nicht spürbar ist. Die Biografie einer Frau aus dreizehn verschiedenen Perspektiven. Zuerst ist sie 14, zum Schluss Großmutter. Menasse verwebt die Stimmen aus der Kinderwunschklinik, von einer Auschwitz-Exkursion, von Nachbarn und Freundinnen zu einem vielstimmigen Sittenbild unserer Gesellschaft. Dieser gut orchestrierte Roman hat viele Augen und Ohren und verliert dennoch nie den Fokus.
Warum lesen
Abwechslungsreich und facettenreich, große Sogkraft, kluge, bittere Wahrheiten über Deutschland und Österreich
Kein Platz mehr
/ 2018Margit Schreiner schreibt Romane, die eigentlich Essays sind. Persönliche, scheinbar banale Begebenheiten werden raffiniert zu weltanschaulichen, äußerst klugen Feststellungen verquickt. Es geht um ihre Dachkammer, in der sie herumrobben muss; um die Zeit in Japan, wo riesige Möbel in winzigen Häusern stehen; um Freunde, die verzweifelt versuchen, ihre Häuser zu leeren. Heraus kommt ein nüchtern komischer Text, in dem die ganze Welt ihr Fett abbekommt, weil nirgendwo genug Platz ist – nicht einmal auf dem Friedhof. So viel Witz, Klugheit, feine Ironie und Beobachtungsgabe gibt es selten in einem Buch (so wie in allen ihren Büchern).
Wie im Wald
/ 2014Ein verstörendes, teilweise idyllisches Stimmungsbild einer Pflegefamilie, in der es zu einer Bluttat kommt. Der Text erzählt alternierend aus der Sicht einer jungen Frau und ihrer ehemaligen Pflegeschwester. Die beiden hatten eine sehr schöne Kindheit miteinander bis es zu einem traumatisierenden Ereignis gekommen ist. Die Sprache des Pflegekindes entwickelt einen starken Sog, der Plot ist clever und spannend. Sprachlich herausragend, beklemmend, oszillierend und sehr kunstvoll. Elisabeth Klar ist eine Autorin, vor der ich mich gerne verneige. mehr
Warum lesen
So eine stimmige, maßgeschneiderte Sprache liest man selten.
Laute Paare
/ 2002Der Prosa- und Lyrikband zeigt, was Sprache alles kann. Ihre lautmalerischen Listen und Wortspiele, ihre Kammerspiele und Kulissen nehmen erotische und kriminologische Szenen aufs Korn, sind aber auch todernste Installationen und Stimmungsbilder aus Beziehungen. Zum Vorlesen, Anstacheln, und nebenbei auch als Material für Schreibübungen. Schockierend, inspirierend und komisch und höchst unanständig. mehr
Warum lesen
Nicht viel fragen, einfach darauf einlassen. Großes Kino auf wenigen Seiten!
Toni und Moni
/ 2017Toni und Moni sind Protagonisten eines Heimatromans – ein Mann und eine Frau mitten in der wunderschönen Natur, eine Liebe, ein Dorf, das feiert – allerdings ganz ohne Sicherheitsgurt und Trugbilder. Da bleibt nicht viel Idylle übrig. Der ganz normale Alltagsfaschismus, das Patriarchat, die patriotische Selbstverliebtheit in großartigen Metaphern und Bildern zu zeigen – so wuchtig und brachial hat noch niemand Österreich (und gern auch die ganze alpenländische Kitschblase) zusammengefasst. Manchmal ist es heftig, wie Piuk da die Idylle demontiert, wenn sie Trunksucht, Fleischkonsum, Herrenmenschentum, Faschismus, sexuelle Gewalt etc. als das benennt, was es ist; gelebte Tradition, akzeptierte Kultur, patriarchaler Alltag. Piuk zoomt gnadenlos auf die hässlichsten Stellen an der Unterseite Österreichs. Dass nebenbei auf der Metaebene die Autorin mit der Verlegerin kommuniziert, die ihr so manche Kitschorgie abverlangt, kommt da als urkomische Abwechslung ganz recht. mehr
Warum lesen
Weil Lachen selten so abrupt im Hals steckenbleibt. Sozialkritik kompakt und witzig, wenn man nicht gerade weinen muss.
Wald
/ 2015Marian hat alles verloren – ihre Karriere als Designerin, ihren Freund, ihre Wohnung, ihren Besitz. Jetzt wohnt sie in einer Hütte im Wald, reflektiert ihr Scheitern und versucht von einem Tag auf den anderen zu überleben. Der kleine Haushalt kreist um Wildern, Fischen, Stehlen – und um Franz, ein älterer Mann, der immer wieder auftaucht und sie unterstützt – und sexuell ausbeutet. Obendrein passt ihre Anwesenheit den Dorfbewohnern nicht. Die Ungeheuerlichkeit von Marians Lage kommt scheinbar selbstverständlich daher, ganz ohne Drama. Wie die Knecht da eine Frau in den Abgrund schickt und trotzdem nicht den Humor verliert, ist lehrreich. Frauen, die in der Natur zurechtkommen müssen, stehen vor anderen Herausforderungen als Männer – das lässt sich vom kleinen Häuschen metaphorisch wunderbar auf die große Welt übertragen. Das macht Doris Knecht auf eine äußerst tabulose und spannende Art. mehr
Warum lesen
Spannend und drückend, aber auch hoffnungsvoll. Nebenbei eine große Kritik am Neoliberalismus. Knechts lakonischer Humor trägt eine durch das Buch, das ein großartiges empathisches Angebot ist.
Wie kommt das Salz ins Meer?
/ 1977Ein Klassiker, der seinen beschwerlichen aber erfolgreichen Weg gemacht hat und die Autorin ist auf der Strecke geblieben. Die Protagonistin schleppt sich durch ein bürgerliches Leben mit Ehe, Betrug, Abtreibung, Verletzungen und Enttäuschungen. Für mich beschreibt Brigitte Schwaiger den Wahnsinn der Anforderungen, die in den 1960ern an Frauen gestellt wurden (und immer noch werden); hinter all den gesellschaftlichen Konventionen ist nichts als Abwertung und Ausbeutung der Frauen spürbar. Der herablassende Blick der Patriarchen auf die Protagonistin ist bis in die Jetztzeit spürbar und zeitlos. Die Nazizeit ist schon vorbei, sie wird nicht besprochen, und doch ist sie gespenstisch greifbar. Für mich war das Buch ein Erweckungserlebnis. Es ist voller bösartiger Preziosen, die wie ein feministischer, antifaschistischer, reich bestückter Setzkasten funktionieren. mehr
Warum lesen
Grandiose Aufweckerliteratur! Es lohnt sich auch, sich mit der Rezeption der Autorin auseinanderzusetzen. Sie war eine Pionierin, die zu früh zu viel Erfolg hatte, und eine der ersten Nachkriegsautorinnen im deutschsprachigen Raum, die medial unglaublich gehyped wurden, was einen großen Druck auf Brigitte Schwaiger ausgeübt hat.
Wer glaubt, es ist feministisch alles erledigt, wird hier neu gepolt, auch, oder gerade, weil das Buch aus den 70ern ist. Der Bewusstseinsstrom ist voller tagesaktueller Wahrheiten und Ungeheuerlichkeiten, die nebenbei wirklich süffig zu lesen sind. Auch die Körperlichkeit kommt nicht zu kurz. Ein Text, der spürbar macht, was Literatur kann.
Im Glasturm
/ 2015Clara, einst vielversprechende Musikerin, ist seit dem 8. Lebensjahr gehörlos. Sie räumt die Wohnung ihrer Eltern aus und erinnert sich an die Konfrontation mit der Behinderung, sie rollt die Familiengeschichte auf, auch ihr Bruder und korrupte Machenschaften kommen ins Spiel – alles erzählt durch die dicke Glasschicht, die Clara von der Welt trennt. Wie Ursula Wiegele die Gehörlosigkeit beschreibt, den Verlust der Geräusche, die Versuche, sich zu erinnern, die Einschränkung der Kommunikation, die Strategien gegen das Ausgesperrtwerden – das ist alles so zart und wuchtig zugleich, und gehört erzähltechnisch und poetologisch zu den besten Texten, die ich kenne. mehr
Warum lesen
Wie sich eine körperliche Einschränkung sozial auswirkt und die Protagonistin damit ringt, nicht den Anschluss an die Gesellschaft zu verlieren, wird schmerzlich bewusst gemacht. Auch die persönliche, alltägliche und behördliche Diskriminierung ist greifbar. Der Verlust eines Sinnes ist mehr als ein Verlust. Er beinhaltet viele Verluste. Wie so etwas individuell empfunden und teilweise gemeistert werden kann, weiß ich nach diesem Buch. Außerdem; diese Sprachästhetik…!
Liebe, Wut, Wahnsinn
/ 1968In ihrem bekanntesten Werk seziert Chauvet Haitis Bourgeoisie unter dem Eindruck des Duvalier-Regimes. In drei Teilen („Liebe, Wut und Wahnsinn“) wendet sich die Autorin den intimen menschlichen Beziehungen entlang der Achsen von Race, Class und Gender zu. So ist Claire Clamont, die Ich-Erzählerin und Tagebuchschreiberin von „Liebe“ von der Gleichzeitigkeit der Sehnsucht nach ihrem weißen Schwager Jean Luze und dem plötzlich aufbrechenden Verlangen nach dem Schwarzen Funktionär Calédu getrieben, während sie gleichzeitig mit der Abwertung lebt, die ihre Familie ihr, als ‚dunkelste‘ der drei Schwestern entgegenbringt. Im zweiten Teil, „Wut“, gibt sich die junge Rose den sexuellen Gewaltphantasien eines Sympathisanten des Duvalier-Regimes hin, um durch ihr Opfer den Besitz ihrer Familie zu retten und deren gesellschaftlichen Abstieg zu verhindern. Während die ersten beiden Teile weibliche Figuren und Erzähler:innen ins Zentrum rücken, verhandelt der letzte Teil den „Wahnsinn“ und das Dilemma unter einem brutalen und autoritären Regime zu leben und zu schreiben aus Sicht eines jungen Poeten. mehr
Alle drei Erzählungen berichten davon, wie sich der Verfall menschlicher Beziehungen unter dem Eindruck der Diktatur beschleunigt und der weibliche Körper trotz der sich ablösenden Systeme weiterhin Terrain politischer und patriarchaler Machtausübung bleibt. Diese analytische Schonungslosigkeit, mit welcher Marie Vieux-Chauvet auf die Machtgefüge der haitianischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert blickt, bringt ihr die Anerkennung Simone de Beauvoirs ein, zwingt sie zur Flucht vor der ‚Rache‘ des Regimes nach New York und weckt weder bei den politischen Mächten noch bei Chauvets eigener bürgerlichen Klasse Sympathien. In der Folge gerät die Trilogie nur wenige Monate nach ihrem Erscheinen bis zu ihrer Neuauflage im Jahre 2005 in Vergessenheit. Trotz dieser fast 30jährigen ‘Unsichtbarkeit’ gehört „Liebe, Wut, Wahnsinn“ heute zu den Klassikern haitianischer Literatur und markiert einen wichtigen Wendepunkt für das weibliche, literarische Schaffen in Haiti.
Warum lesen?
Weil Chauvet unerschrocken hinter familiäre Fassaden schaut, die Illusion der Trennung zwischen privaten Raum und politischer Sphäre entlarvt und dabei gleichzeitig differenziert, dicht und präzise schreibt ohne ihre Figuren der Banalität preiszugeben.