Scheiblettenkind

/ 2022

Mit Ausdrücken wie »Assitusse« wird das Mädchen schon in der Schule von den Kindern aus der Mittelschicht gemobbt und ausgegrenzt. Die Eltern arbeiten und arbeiten, trotzdem reicht das Geld vorn und hinten nicht, in manchen Zeiten nicht einmal fürs Taschengeld. Dazu kommt der soziale Druck der Familie und der Nachbarn. Neben dem Lesen scheint nur Geld eine Möglichkeit zu sein, dem Druck zu entkommen. Früh fängt sie an zu arbeiten. Sie will ins Freibad gehen, hat kein Geld, also arbeitet sie in der Imbissbude und verbreitet überall den Geruch von Frittierfett. Ihre Mitschüler*innen geben beim Kaufen von Pommes entsprechende Kommentare von sich und verziehen die Gesichter. Erst als sie eine Gruppe von Punker*innen kennenlernt, fühlt sie sich dort aufgehoben. Doch auch hier wird klar, dass die anderen aus gut situierten Familien kommen, und in solchen Situationen taucht das Sich-Fremd-Fühlen wieder auf. Das Gefühl der Scham wird sie noch lange begleiten. Sie trotzt all den Widrigkeiten, ist mutig und hat dabei auch ihren Spaß.

 

Warum lesen?

Mir ist bei diesem Buch noch einmal klar geworden, warum ich Graphic Novels so schätze. Die Kombination von Schrift und Bild erzeugt einen besonderen Sog. Die Vermittlung der Inhalte und der Gefühle, etwa als die Heldin in einer Fabrik stundenlang an der Maschine arbeitet, gelingt großartig.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!
Buchcover des Buches Nordstadt.
Buchcover des Buches Nordstadt.

Nordstadt

/ 2022

Nördlich der Autobahn, im Ruhrgebiet, wo sich die Problemviertel befinden, ist der Himmel so grau wie über dem »Sprawl« aus William Gibsons Cyberpunkklassiker »Neuromancer«. Nene, eine junge Frau, hat es geschafft, ihre von Gewalt geprägte Jugend hinter sich zu bringen, und ist Bademeisterin in einem Schwimmbad geworden.

Eines Tages kommt Boris ins Schwimmbad. Er braucht Hilfe beim Schwimmen, und obwohl er nicht wie ein Traummann aussieht und arm ist, schleicht er sich in Nenes Herz und sie in seines. Die Vergangenheit macht ihnen das Leben schwer, ihre Narben jucken, wenn sie sich sehen, und Boris mag sein eigenes Leben so wenig, dass er für Nene ein neues erfindet.

Wenn ein wenig Blau durch den wolkenverhangenen Horizont leuchtet, zerreißt es fast das Herz der Leser*in, doch wenn der Himmel zuzieht, scheint der Riss in den Herzen der beiden irreparabel zu sein. Dennoch sind Nene und Boris keine Abziehbilder des Elends, sondern reale Menschen, die an der Welt zu zerschellen drohen.

 

Warum lesen?

Der schmale Roman wirkt wie ein lyrischer Punksong ohne Gitarren und Noten. In jeder Zeile ist der alltägliche Dreck zu spüren, der ein jedes Leben durchzieht. Der Roman ist ein Aufschrei gequälter Kreaturen, und, wenn nicht Teil der Befreiung vom miesen Elend, dann doch der Versuch, sich von ihm nicht unterkriegen zu lassen und etwas zu verändern.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Das Meer der Erinnerung

/ 1999
Tu, Mio / 1998

Italien in den 1950ern. Der Krieg ist vorbei, der Faschismus passé. Geblieben sind Sommer, Sonne und massenhaft deutsche Urlauber, die ihren Wirtschaftswunderwohlstand genießen und hier und dort auch mal SS-Lieder grölen. Der jugendliche italienische Erzähler ist den Sommer über auf Ischia und verbringt viel Zeit mit dem Fischer Nicola, der ihm als einziger davon erzählt, was er im Krieg erlebt und gesehen hat. Als sich der Junge in die mysteriöse Caia verliebt und erfährt, dass ihre Eltern von den Nazis umgebracht wurden, sieht er die Deutschen noch einmal mit ganz anderen Augen. Aus Unbehagen und Ablehnung wird Zorn. Er beobachtet sie genau und schmiedet schließlich einen Plan.

 

Warum lesen

Weil de Luca auf gerade einmal 120 Seiten eindrücklich zeigt, dass es angesichts der Shoah keine ‚Unbeteiligten‘ geben kann und dass Liebe und Rache durchaus Hand in Hand gehen können.

Bester Satz: »Sie taten so, als wären sie lediglich Touristen und nie etwas anderes gewesen. In Gruppen, in Scharen schwärmten sie von Juni bis Oktober über die Insel, von der Sonne gerötet, den Bauch voll mit Limonade und von Sonnenöl glänzend wie Rumtörtchen mit Zuckerguß.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Bronsteins Kinder

/ 1986

Haben Opfer auch nach 30 Jahren noch ein Recht, Rache an ihren Peinigern zu nehmen? Und sind die Kinder der Opfer ohne es zu wollen vielleicht selbst Opfer? Hat die DDR ihr Versprechen eines ‚besseren Deutschlands‘ eingelöst? Warum laufen dann immer noch ehemalige Täter frei herum? Was heißt es, Mitte der 1970er in Ostdeutschland als Jude erwachsen zu werden? Diese und andere Fragen stehen im Zentrum von Jurek Beckers drittem Roman zum Thema Judentum und Shoah. Hans, der jugendliche Erzähler, ist eigentlich mit Abiturprüfungen, Zukunftsplänen und seiner Liebe zu Martha ganz gut beschäftigt. Doch als er entdeckt, dass sein eigener Vater und zwei andere Überlebende einen ehemaligen SS-Mann entführt haben, ihn gefangen halten und foltern, gerät alles aus den Fugen. Am Ende wird der Tod des Vaters für Hans zum Anlass, diese generationenübergreifende Rachegeschichte auf zwei Zeitebenen und mit zahlreichen Selbstreflexionen zu erzählen. Und wer genau hinliest, stößt auf ein Kapitel, dass beinahe eins zu eins aus dem Drehbuch von Masel Tov Cocktail stammen könnte.

 

Warum lesen

Weil es immer noch zu wenige Texte gibt, die sich mit dem Jüdischsein in der DDR befassen und weil es Jurek Becker gelingt, allen einfachen Antworten aus dem Weg zu gehen.

Bester Satz: »Ein bißchen mehr Zorn auf Lumpen und Mörder könntest du ruhig haben.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Sanfte Debakel

/ 2018
Douces déroutes

„Sanfte Debakel“ führt uns auf die Spuren der Schicksale mehrerer Personen im Port-au-Prince der Gegenwart, die alle in einem Unglück vereint sind, das sie unaufhörlich quält: die Ermordung des aufrichtigen und integren Richters Raymond Berthier. Brune, Berthiers Tochter und Sängerin in einer Bar, bewegt sich lange Zeit zwischen Wahnsinn und Resignation. Weder ihre Freundschaften noch Liebesgeschichte mit Francis, einem französischen Journalisten können sie aus dieser Verwirrung befreien. Nur die Aufklärung der Todesumstände ihres Vaters scheint Brune einen Ausweg zu bieten. Auf der Suche nach Gerechtigkeit versucht Brune,  das Verbrechen aufzuklären. Neben Brune versammelt Lahens eine Vielzahl weiterer Figuren wie Brunes Onkel Pierre, den Dichter Ezechiel, die feministische Nerline, einen überzeugten Pazifisten namens Waner, den Amerikaner Ronny. Im Rhythmus eines schnellen, elektrischen und synkopischen Schreibstils, enthüllt sie nach und nach mit erschütternder Zärtlichkeit die Intimität eines jeden Einzelnen. mehr

Warum lesen?

Yanick Lahens schreibt schnell und elektrisch, als würde sie ihre Kraft aus den Eingeweiden der Stadt schöpfen, und begleitet ihre Figuren auf dem Weg zum unvermeidlichen Untergang.

 

 

Auf der Liste: Politische Literatur aus Haiti

Deutsche und englische Übersetzungen ausgewählter haititanischer Erzähltexte