Die geheimste Erinnerung der Menschen

/ 2022

Wie der Autor selbst stammt der Protagonist Diégane aus dem Senegal und versucht in Paris sein Glück als Schriftsteller. Dabei stößt er auf Spuren des rätselhaften Schriftstellers T.C. Elimane, der Jahrzehnte zuvor ebenfalls aus dem Senegal nach Frankreich kam und dort einen Roman veröffentlichte. Autor wie Roman sind verschollen – doch durch Zufall kommt Diégane an ein Exemplar des Romans, ist zutiefst fasziniert und gerät auf der Suche nach Elimane in immer tiefere Schichten der Vergangenheit. In verschachtelten Erzählebenen erfährt die Leserin zwar mehr als Diégane selbst, dennoch bleibt vieles ungelöst und im Verborgenen. Ob der Roman vorrangig eine Kriminalgeschichte, eine Abrechnung mit Rassismus, Literaturelite und Kolonialismus, eine unglückliche Liebesgeschichte oder die Suche nach einem Zuhause und der eigenen Berufung auf drei Kontinenten ist, bleibt ebenfalls unklar. Eins wird jedoch deutlich: Ein Leben ohne Bücher und Literatur ist unvorstellbar.

 

Warum lesen?

In Frankreich wurde der Roman mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, es ist das erste Buch Sarrs, das auch auf Deutsch erscheint. Die Verfasserin dieser Zeilen hat die 448 Seiten des Romans an einem Nachmittag verschlungen und kann nur dazu ermutigen, sich ebenfalls in diese Geschichte zu stürzen!

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Die Anomalie

/ 2021

Auf Hervé Le Telliers Buch »Die Anomalie« hat mich eine DLF-Besprechung aufmerksam gemacht, die in höchsten Tönen von dem Buch sprach. Das Buch des Oulipo-Autors aus Frankreich ist tatsächlich erst einmal interessant: Ein Flugzeug wird in einem heftigen Sturm kopiert und landet zeitversetzt zweimal. Man folgt den verdoppelten und versetzten Lebensgeschichten. Eine Spitzenidee, die aber real in viele sich doch sehr ähnelnde Mittel- und Upperclassgeschichten zerfällt (immer der einsame 60-Jährige weiße Mann, der es zu keiner Familie geschafft hat) und dann noch ernsthaft verwissenschaftlicht wird, um sich ab der Mitte zu einer Art Krimi zu mausern. Am Ende sitze ich also doch in einer Netflixserie für Reflektierte drin. Schade. Warum kann man nicht diese Behauptung leben lassen und sich mehr auf die Frage konzentrieren, wie das Leben mit Doppelgängern aussieht und was das mit unserer Gegenwart zu tun hat. Aber warum das Buch nicht weiter- oder umschreiben?

Auf der Liste: Kein Vorwärtsgang

Justice for Some

/ 2018

Seit sie als Kind das Konzentrationslager überlebt hat, ist Roza Grundstein eine geübte, eiskalte Killerin und macht mit beachtlichem Erfolg Jagd auf Nazis. »Nie wieder« ist für sie jahrzehntelang keine Phrase, sondern eine Handlungsmaxime. Ihr Enkel Hersh dagegen bestraft und beseitigt mit seinen Freunden Menschen, die Kinder und Frauen misshandeln. Das familiäre Gespann mit dem ‚besonderen‘ Sinn für Gerechtigkeit gerät ins Visier der amerikanischen Behörden und wird von der attraktiven und hochintelligenten Polizistin Marian Webber verfolgt. Während es die hochbetagte Roza längst nicht mehr kümmert, ob sie geschnappt wird, macht sie sich doch Sorgen um Hersh, der Marian sehr, sehr nah an sich heranlässt. In bester Tradition schwarzhumoriger Kriminalgeschichten und -filme jagt Cherner sein Publikum in rasantem Erzähltempo durch die Geschichte. Leser*innen mit einer Ader für die ‚hard-boiled novels‘ von Dashiell Hammet, Raymond Chandler oder Philip Kerr, für Filmzitate und Popmusikanspielungen, kommen in diesem Buch voll auf ihre Kosten.

 

Warum lesen

Weil es großen Spaß macht, sich für die Zeit der Lektüre auf die Kompromisslosigkeit der Figuren einzulassen, gerade in Sachen Rache. Ein Meisterstück des „was wäre, wenn…“.

Bester Satz: »The only promise I make is this: the dog does not die in this story.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Berlin – Rostiges Herz

/ 2018

In einer Post-Klimakatastrophen-Zukunft liegt Berlin am Meer. Die Menschen dort haben zivilisatorisch noch einmal neu anfangen müssen und im Spannungsfeld von Technik und Magie hat die Stadt zu neuer und ganz anderer Größe auf den Ruinen unseres heutigen Berlins gefunden. Liebevoll beschreibt Stoffers eine Art »Maker-Culture«; Bastler*innen und Erfinder*innen im Schatten der mächtigeren kapitalistischen Zuckerindustriellen und Magier*innen. Die beiden Hauptfiguren, Erfinderin Mathilda und Magier Fidelio, lieben dieselbe Frau, die an ihrem Geburtstag mit vergifteten Macarons ermordet wird. Mathilda gerät unter Mordverdacht, und im Versuch, ihre Unschuld zu beweisen, kommt sie einem Intrigengeflecht auf die Spur, das von Berlins Erfinder*innen bis hinauf in die zaubernde Elite führt.

 

Warum lesen

»Berlin – Rostiges Herz« ist ein sinnliches Buch, das nicht nur visuelle Bilder entstehen lässt, sondern auch kulinarische Köstlichkeiten beinahe erlebbar macht. Dazu kommt das echte Highlight dieser Zukunft: Heteronormativität und Zwangsheterosexualität sind nicht mehr. Stoffers, selbst queer und nichtbinär, zeigt, wie Steampunk aussehen kann, wenn es das Biedermeier-Korsett ablegt.

Auf der Liste: Progressive Phantastik

Originär deutschsprachige politische Fantasy und Science-Fiction

Laute Paare

/ 2002

Der Prosa- und Lyrikband zeigt, was Sprache alles kann. Ihre lautmalerischen Listen und Wortspiele, ihre Kammerspiele und Kulissen nehmen erotische und kriminologische Szenen aufs Korn, sind aber auch todernste Installationen und Stimmungsbilder aus Beziehungen. Zum Vorlesen, Anstacheln, und nebenbei auch als Material für Schreibübungen. Schockierend, inspirierend und komisch und höchst unanständig. mehr

 

Warum lesen

Nicht viel fragen, einfach darauf einlassen. Großes Kino auf wenigen Seiten!

Auf der Liste: Das Politische im Privaten – österreichische Autorinnen

Zehn jagen Mr. X

/ 1942/2011

Historischer Kontext ist der Eintritt der USA in den II. WK. In einem fiktiven Ort in Kalifornien gibt es eine (geheime) Waffenfabrik. Für die Kinder der dort Angestellten ist eine Internatsschule eingerichtet worden, die nach freiheitlichen und reformpädagogischen Grundsätzen geführt wird. Eine Gruppe von vor dem Faschismus geflüchteten Kindern aus der ganzen Welt kommt an die Schule. Durch die Erzählfigur einer mit den Kindern befreundeten Journalistin werden deren Fluchterlebnisse und das Zusammenwachsen der Kinder zu einer Gruppe präsentiert. Die internationale Kindergruppe kommt auf die Spur eines Spionage Netzwerkes. Der Roman kulminiert in einer spannenden Verfolgungsjagd, in der auch dem deutschen Jungen eine wichtige Rolle zukommt. mehr

Warum lesen?

Wer wissen will, wie man politische Themen spannend und zugleich einfühlsam für Kinder erzählen kann, trifft mit diesem Kinderkrimi die richtige Wahl.

Auf der Liste: Kinder- und Jugendliteratur des Exils

Literatur als Widerstand