Eure Heimat ist unser Albtraum

/ 2019

Heimat finden, Heimat haben, heimatlos sein, viele Schriftsteller*innen haben sich schon mit Heimat beschäftigt. Welche Vorstellungen haben wir von Heimat und wer ist eigentlich wir?

Das Buch »Eure Heimat ist unser Albtraum« ist der Widerstand derjenigen, die vom Konzept der Heimat ausgeschlossen werden – und so lautet auch die Widmung der Autor*innen: »Für Uns«. Es beginnt mit einer Einordnung der aktuellen Erweckung des Heimatbegriffs und der damit verbundenen Gefühle und Annahmen. Weiter geht es mit Alltagssituationen, in denen auffällt, dass anscheinend selbstverständlich Menschen davon ausgeschlossen sind, mitgedacht und gemeint zu werden. Die Schlüsse, die die Texte zulassen, sind eindeutig: Die Vorstellung des bundesdeutschen »Wir« ist immer noch vor allem an rassistische Kriterien geknüpft: Aussehen, Sprache, Religion.

 

Warum lesen?

Fatma Aydemir, Max Czollek, Sharon Dodua Otoo, Margarete Stokowski und acht weitere Autor*innen schreiben von Sichtbarkeit, von Arbeit und deren Wert, sie schreiben über Sprache, Blicke, Zuhause und Gegenwartsbewältigung. Es wird deutlich, dass Heimat immer völkisch gedacht und rassistisch genutzt wird – von Nationalist*innen wie von vielen Menschen, die sich für neutral halten und meinen, eine vermeintliche »Mitte« zu repräsentieren.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Berlin – Rostiges Herz

/ 2018

In einer Post-Klimakatastrophen-Zukunft liegt Berlin am Meer. Die Menschen dort haben zivilisatorisch noch einmal neu anfangen müssen und im Spannungsfeld von Technik und Magie hat die Stadt zu neuer und ganz anderer Größe auf den Ruinen unseres heutigen Berlins gefunden. Liebevoll beschreibt Stoffers eine Art »Maker-Culture«; Bastler*innen und Erfinder*innen im Schatten der mächtigeren kapitalistischen Zuckerindustriellen und Magier*innen. Die beiden Hauptfiguren, Erfinderin Mathilda und Magier Fidelio, lieben dieselbe Frau, die an ihrem Geburtstag mit vergifteten Macarons ermordet wird. Mathilda gerät unter Mordverdacht, und im Versuch, ihre Unschuld zu beweisen, kommt sie einem Intrigengeflecht auf die Spur, das von Berlins Erfinder*innen bis hinauf in die zaubernde Elite führt.

 

Warum lesen

»Berlin – Rostiges Herz« ist ein sinnliches Buch, das nicht nur visuelle Bilder entstehen lässt, sondern auch kulinarische Köstlichkeiten beinahe erlebbar macht. Dazu kommt das echte Highlight dieser Zukunft: Heteronormativität und Zwangsheterosexualität sind nicht mehr. Stoffers, selbst queer und nichtbinär, zeigt, wie Steampunk aussehen kann, wenn es das Biedermeier-Korsett ablegt.

Auf der Liste: Progressive Phantastik

Originär deutschsprachige politische Fantasy und Science-Fiction

Von Rache und Regen

/ 2019

Juretzkis Fantasyroman führt in die Eisenzeit einer fiktiven Welt. Hier ist Krieg das prägende Element – doch in diesem Krieg wurde etwas entfesselt, das Tote zu Zombies erweckt. Protagonist Riagh gehört zu einem von den imperialen Legionen eroberten Volk und wurde selbst Soldat. Doch er hat bereits zu Beginn des Buchs eine Desertation hinter sich. Sein Ziehbruder, mit dem ihn mehr als brüderliche Liebe verband, starb auf der Flucht, und Riagh schleppt schwer an seiner Trauer und seinem Zorn. Auf dem Weg zu seiner Verlobten Anryn muss er ein Land durchqueren, das sich nicht nur im Griff des allgegenwärtigen Regens, sondern neuerdings auch der Untoten befindet. Als er Zeuge von Selbstjustiz durch die noch menschlichen Bewohnenden wird, greift er ein und rettet den verfeindeten Nekromanten Nuzar. Nuzars Sprache verwendet das generische Femininum, was ebenso wie Riaghs auf Regen basierende Kultur zu einer faszinierend vielschichtigen und detailreichen Welt beiträgt, durch die die beiden ungleichen Hauptfiguren sich schlagen müssen.

 

Warum lesen

Wie Riagh versucht, Schuld, Wut und gleichzeitig seiner eigenen internalisierten Queerfeindlichkeit und seinen Gefühlen für Nuzar Herr zu werden, hält einige der bestgeschriebenen emotionalen Szenen der letzten Phantastik-Jahre bereit. Auch die Migrations- und Umbenennungserfahrung der in Polen geborenen Autorin und Religionswissenschaftlerin findet sich im Roman, der immer wieder einen Spiegel in Richtung der Dominanzkultur bereithält.

Auf der Liste: Progressive Phantastik

Originär deutschsprachige politische Fantasy und Science-Fiction

Krieg und Kröten (Die Frost-Chroniken 1)

/ 2020

Der alternde Siegelmeister und Feuermagier Yuriko kommt in seine Heimatstadt zurück, nachdem er allen, die ihm lieb waren, den Rücken gekehrt und fünf Jahre lang amourösen Eskapaden nachgegangen ist. Er erwartet großes Hurra ob seiner Rückkehr inklusive einer Weiterbeschäftigung auf seinem alten Uni-Posten und wird herbe enttäuscht: Das Leben ist ohne ihn weitergegangen, und das, obwohl sich doch das Universum um ihn dreht! Als seine Freund*innen, darunter seine ehemalige und von ihm im Stich gelassene Schülerin Galina, beschließen, einer rätselhaften stummen Person zu helfen, die von zerstörerischen Magier*innen verfolgt wird, hat Yuriko gerade erst angefangen, es sich wieder gemütlich zu machen und muss schon entführt werden, um zu dem Helden zu werden, für den er sich schon sein ganzes Leben lang hält.

 

Warum lesen

Mit Yuriko ist Pavlovic eine Seltenheit gelungen: Einen gleichzeitig sympathischen und haarsträubenden Protagonisten zu schaffen, der von einem Patriarchat geformt wurde, in dem er es immer recht bequem hatte – viel bequemer als seine Schülerin zum Beispiel. Wie Chauvinismus und überbordendes männliches Selbstwertgefühl Yuriko oft nicht sehen lassen, wie es Leuten mit weniger Privilegien ergeht, wie er aber trotzdem doch immer im letzten Moment Einsichten hat, die man ihm auf seine alten Tage gar nicht mehr zugetraut hätte – das ist wunderbar witzig und subversiv geschrieben.

Auf der Liste: Progressive Phantastik

Originär deutschsprachige politische Fantasy und Science-Fiction

Die Töchter von Ilian

/ 2019

In vielerlei Hinsicht erinnert »Die Töchter von Ilian« an Ursula K. Le Guins »Erdsee«-Zyklus: Es ist High Fantasy, die Archaik und Magie atmet, eine feministische Stimme, die eher fragt als antwortet, und eine getragene Erzählung aus einer alten Zeit, als die Völker Ilians vier Artefakte schufen, um erst mit- und dann gegeneinander bestehen zu können. Die Flüsternde Flöte, der Blickende Becher, die Sternenscheibe und der Sprechende Spiegel waren Geschenke, und sie erhielten ihre Macht dadurch, dass sie weiterverschenkt wurden. Doch Menschen, Elfen und das kleine Volk begehrten die Gaben, die die vier Artefakte gewährten und begannen, sie zu erobern statt zu verschenken. Der Sprechende Spiegel zerbrach, und das kleine Volk fertigte daraus das Kupferne Kleid seiner Matriarchin, das ihre Herrschaft sichern und ihre Feinde zerstören sollte. mehr

Doch Walgreta, die neue Trägerin des Kupfernen Kleids, und ihr Geliebter Fayanú, ein elfischer trans Mann, kennen – unterschiedliche – Entstehungsgeschichten der vier Artefakte, möchten sie finden und etablieren, dass sie erneut verschenkt werden, auf dass wieder der vorzeitliche Friede einkehrt. Doch die Liebenden werden getrennt und geraten auf die Irrwege ihrer eigenen, eigentlich guten Absichten.

 

Warum lesen

»Die Töchter von Ilian« ist ein ruhig erzählter Roman voller Menschlichkeiten und Grausamkeiten und klugem, lakonischem Pessimismus, darüber, wie (auch geschlechtsbezogene) Herrschaft sich, einmal etabliert, in den Herzen derer hält, die in sie hineingeboren werden.

Auf der Liste: Progressive Phantastik

Originär deutschsprachige politische Fantasy und Science-Fiction

Sprache und Sein

/ 2020

Wer sind wir? Wir sind das Sprechen, wir sind die Kommunikation, wir – jede und jeder von uns – eine eigene mannigfaltige Welt, und wir sind aber auch die Perspektive eines Sprechers oder Sprecherin auf uns selbst, wir sind die, die Perspektiven bauen und das Sprechen benutzen als Weg zueinander und leider auch gegeneinander.

 

Warum lesen

Lesen, weil so ein kluges Plädoyer fürs Aufpassen beim Mundaufmachen.

Auf der Liste: Fünf Bücher aus den letzten siebeneinhalb Jahren