Literatur als Widerstand

Von Wiebke von Bernstorff

Die Kinder- und Jugendliteratur des Exils (ca. 1930-1950) kann als politisch-literarische Antwort auf den Nationalsozialismus verstanden und gelesen werden. Die Autor*innen, die sich in der Situation des Exils für das (Weiter-)Schreiben von Kinderliteratur entschieden, taten dies immer mit Blick auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Europa und in den Exilländern weltweit.

Mit Blick auf die Lehre in den Lehramtsstudiengängen beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit der Kinder- und Jugendliteratur des Exils und halte viele der Texte für zu Unrecht vergessen. Die Verbindung von Historizität und Aktualität in der KJL des Exils bietet besonders in didaktischer Perspektive ein großes Potential.

Die Kinder aus Nr. 67 (Die Kinderodyssee)

/ 2004-5

Tetzners neunbändige Kinderodyssee beginnt im Berlin Anfang der 1930er Jahre. Die Geschichten um die Arbeiterkinder Erwin und Paul und ab dem zweiten Band auch um Mirjam, einer jüdischen Waise, die zu ihrer Tante ins Haus Nr. 67 zieht, sind inspiriert von den Gesprächen mit Berliner Kindern, die Tetzner als Redakteurin und Moderatorin der Kinderstunde des Berliner Rundfunks in ihrer Sendung führte. Beginnt der erste Band noch ganz als Arbeiterkinder- und Freundschaftsgeschichte (Erwin und Paul), zeichnen sich im zweiten Band (Das Mädchen aus dem Vorderhaus) bereits die Polarisierungen durch den kurz bevorstehenden Sieg der Nationalsozialisten ab. Ab dem dritten Band und mit der Wahl der Nationalsozialisten (Erwin kommt nach Schweden) trennen sich die Wege der Kinder mehr

Erwin flüchtet mit seinem sozialdemokratischen Vater über Paris ins schwedische und später ins englische Exil, von wo aus er im Krieg als Soldat nach Deutschland zurückkehrt (Als ich wiederkam, Bd. 8). Mirjam flüchtet mit ihrer Tante nach Paris und reist dann weiter mit einem Schiff in Richtung USA. Dem Flüchtlingsschiff wird in keinem Hafen die Einfahrt erlaubt, bis es schließlich aufgrund eines Erdbebens sinkt (Das Schiff ohne Hafen, Bd. 4). Eine Kindergruppe, darunter Mirjam und das ihr anvertraute Baby Ruth, kann sich auf eine Insel retten (Die Kinder auf der Insel, Bd. 5). Als sie nach vielen Wochen gefunden und geborgen werden, bringt sie ein Kriegsschiff nach New York, wo Mirjams amerikanisches Abenteuer beginnt (Mirjam in Amerika, Bd. 6). Der siebte Band behandelt die Geschichte Pauls, der in Berlin bleibt und dort das Kriegsende erlebt (War Paul schuldig?). Den letzten Band der Reihe (Der neue Bund) schreibt Tetzner noch 1944/45 im Schweizer Exil. Hier kommen die Kinder nach dem Krieg noch einmal zusammen. Tetzner begleitete mit dieser Reihe die tatsächlichen Entwicklungen zwischen 1933-45 und fand in einem sowohl psychologisch einfühlsamen als auch zur Reflexion anregenden Stil eine kinderliterarische Antwort auf die menschenverachtende Politik des Nationalsozialismus.

Warum lesen?

Weil hier das Interesse an den Kinder(figuren) und der Wille zur Aufklärung stilistisch und inhaltlich gleichermaßen einen differenzierten Ausdruck findet. Wer sich einmal auf die Welt der Kinder aus Nr. 67 eingelassen hat, will nicht mehr aufhören zu lesen. Versprochen!

Zehn jagen Mr. X

/ 1942/2011

Historischer Kontext ist der Eintritt der USA in den II. WK. In einem fiktiven Ort in Kalifornien gibt es eine (geheime) Waffenfabrik. Für die Kinder der dort Angestellten ist eine Internatsschule eingerichtet worden, die nach freiheitlichen und reformpädagogischen Grundsätzen geführt wird. Eine Gruppe von vor dem Faschismus geflüchteten Kindern aus der ganzen Welt kommt an die Schule. Durch die Erzählfigur einer mit den Kindern befreundeten Journalistin werden deren Fluchterlebnisse und das Zusammenwachsen der Kinder zu einer Gruppe präsentiert. Die internationale Kindergruppe kommt auf die Spur eines Spionage Netzwerkes. Der Roman kulminiert in einer spannenden Verfolgungsjagd, in der auch dem deutschen Jungen eine wichtige Rolle zukommt. mehr

Warum lesen?

Wer wissen will, wie man politische Themen spannend und zugleich einfühlsam für Kinder erzählen kann, trifft mit diesem Kinderkrimi die richtige Wahl.

Ede und Unku

/ 1931/2005

Anfang der 1930er Jahre lernen sich der Arbeiterjunge Ede und das ‘Zigeunermädchen’ Unku auf einem Rummelplatz kennen und werden Freunde. Ede wird in Unkus Familie herzlich aufgenommen. Umgekehrt aber funktioniert das nicht. Edes Eltern verbieten ihm die Freundschaft mit Unku sowie mit seinem Freund Maxe, dessen Vater bei den Sozialisten aktiv ist. Als Edes Vater arbeitslos wird, erklärt Maxes Vater den beiden Jungen mit einer Parabel die Gründe für Arbeitslosigkeit und die Ausbeutung der Arbeiterklasse. Später verhilft Maxes Mutter Ede zu einer Arbeit, mit der er seine Familie unterstützen kann. Als es bei der AEG einen Streik gibt, an dem auch Maxes Vater teilnimmt, wird Edes Vater, ohne sich darüber im Klaren zu sein, als Streikbrecher angeheuert. Die drei Kinder verstecken Maxes Vater auf der Flucht vor der Polizei zunächst bei Unkus Familie und dann bei Ede. In einem ‘Showdown’ kommt es zum Kennenlernen und zur Freundschaft der Familien untereinander. mehr

Warum lesen?

Eine “Emil und die Detektive”- Geschichte aus sozialistischer Perspektive. Politische Themen (Diskriminierung, Streik, Sozialismus) werden hier spannend und humorvoll erzählt. Das Berlin der 1930er Jahre wird lebendig.

Manja. Ein Roman um fünf Kinder

/ 1938/2014

Fünf Kinder werden 1920 in einer Nacht in den unterschiedlichsten Verhältnissen gezeugt. In einem sozialen Psychogramm stellt Gmeiner einen Querschnitt durch die Gesellschaft dar: Die Familie des arbeitslosen Vertreters und späteren SS-Mannes Anton Meißner, die Familie des klassenbewussten Proletariers Eduard Müller, die großbürgerliche jüdische Familie Hartung, die des liberalen Arztes Ernst Heidemann und die verarmte, alleinerziehende Jüdin Lea, deren älteste Tochter Manja ist. Als einziges Mädchen bildet sie den Mittelpunkt der Kindergruppe, die sich immer heimlich zum Spielen an einer Mauer trifft. Dort, am Rande der Gesellschaft und im „Katzenkorb der Kindheit” (1938, 8) haben die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse keine Macht. Mit Erstarken des Nationalsozialismus bricht der Antisemitismus aber auch in diesen utopischen Ort und damit in die Freundschaft der Kinder ein. Nachdem ein Hitlerjunge Manja zu vergewaltigen versucht, begeht sie Selbstmord. Dieser mehrsträngig erzählte Roman gibt realistische Einblicke in die Alltagsgeschichte und zeigt anhand der Kinderfiguren und oft aus deren Perspektive wie der Nationalsozialismus nach und nach die Herrschaft übernimmt. mehr

Warum lesen?

Eine hellsichtige Gegenwartsanalyse der Autorin verknüpft mit realistischen Kinderfiguren, an denen die gesellschaftlichen Veränderungen ihre Spuren hinterlassen, ohne, dass diese als Opfer gezeigt werden.

Elisabeth. Ein Hitlermädchen

/ 1937/2020

Leitners Jugendroman, der zuerst 1937 als Fortsetzungsgeschichte im Pariser Tageblatt erschien, ist ein typischer Wandlungsroman. Die Heldin Elisabeth ist zunächst begeistert von der nationalsozialistischen ‘Bewegung’ und dem BDM und verliebt sich in einen SA-Mann. Ihr Erwachen beginnt, als sie von ihm schwanger wird, er von ihr den Abbruch der Schwangerschaft verlangt und sie aufs Land zum Arbeiten verschickt wird. Die Autorin unternahm illegale Recherchereisen nach Deutschland und starb 1941 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. In der Darstellung des Lagerlebens und der Ausbildung der Frauen zu Kämpferinnen werden die verschiedenen Haltungen diskursiv verhandelt. Die multiperspektivische Erzählweise wird der Intention aufzuklären und zu eigener Meinungsbildung anzuregen, besonders gut gerecht. Elisabeth begehrt gegen die Lagerverwaltung auf und wird verstoßen. Ob sie sich am Ende für den aktiven Widerstand entscheidet, bleibt offen. Die Neuausgabe ergänzt den Roman um Reportagen der Autorin. mehr

Warum lesen?

Der auf dokumentarischem Material beruhende Jugendroman ist ein Musterbeispiel engagierter Literatur und gibt authentische Einblicke in den Lebensalltag unter dem Nationalsozialismus.

Vier spanische Jungen

/ 1938/1987

Am 16. Juni 1937 hatten sich mitten im spanischen Bürgerkrieg Vier spanische Jungen aus einem von franquistischen Truppen besetzten Dorf zu den Internationalen Brigaden durchgeschlagen. Rewalds Kinderroman geht auf diesen Vorfall zurück und ist ein Auftragswerk der Internationalen Brigaden. Die 1942 in Auschwitz ermordete Autorin reiste aus dem Pariser Exil nach Spanien und lernte die vier Jungen in einem Kinderheim der Republikaner kennen. Der Roman beginnt und endet mit dem Blick auf und den Gedanken der spanischen und der ‘internationalen’ Väter an die Kinder. Der Wunsch nach einer demokratischen und freiheitlichen Erziehung und Umwelt für die Kinder rahmt und bestimmt die Erzählung vom zunächst erfolgreichen Kampf für die Republik in einem Dorf. Die in der Villa des geflohenen Bürgermeisters gegründete Schule wird maßgeblich von den Kindern selbst umgebaut und gestaltet. Als die franquistischen Truppen dann doch wieder die Oberhand gewinnen, dürfen die Kinder nicht mehr in die Schule gehen. Stattdessen versuchen die vier Jungen, durch das nächtliche Klauen von Kohlen auf den Minenfeldern ihre Mütter und Geschwister zu unterstützen. Dabei geraten sie unversehens zwischen die Fronten. mehr

Warum lesen?

Der einzige deutschsprachige und zeitgenössische Kinderroman aus dem spanischen Bürgerkrieg eröffnet eine in weiten Teilen aus Sicht der Kinder erzählte Perspektive auf die politische und pädagogische Bedeutung der Kämpfe. Bei aller Ernsthaftigkeit humorvoll und empathisch.

Insu Pu

/ hebräisch 1948/dt. 1951

Mira Lobes Robinsonade entstand zuerst in Palästina im Exil. In der deutschen Fassung, die sie 1951 in Wien schrieb, hat sie den zeitgeschichtlichen Kontext des II. Weltkriegs und der Kindertransporte jüdischer Kinder auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus verallgemeinert und fiktionalisiert. Das Schiff einer Gruppe Kinder, die auf der Flucht vor dem Krieg von ihren Eltern in ein anderes Land verschickt werden, läuft auf eine Mine und sinkt. Die 11 Kinder, die sich auf eine Insel retten können, sind ein soziales Spiegelbild der gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen sie jeweils stammen. Sie überwinden diese ‘Klassenverhältnisse’ und etablieren eine Art demokratischen Kinderstaat, was nicht ohne Konflikte um die Macht erfolgt. Im Zielland der Flucht glaubt nur ein Junge nicht an den Tod der Kinder. Er macht sich gegen alle Widerstände der Erwachsenen auf die (letztendlich) erfolgreiche Suche nach den geflüchteten Kindern. mehr

Warum lesen?

Sozialpsychologisch differenzierte Darstellung von Gemeinschaftsbildungsprozessen und ihren Hürden und Chancen; dabei spannend und einfühlsam erzählt.

Die Perlmutterfarbe. Ein Kinderroman für fast alle Leute

/ 1937/1995

Der allegorisch erzählte Schulroman hat selbst eine im Vorwort präsentierte Fluchtgeschichte. “Josef, dem edlen Schmuggler” ist das Buch gewidmet, der 1939 zunächst die Autorin und einige Wochen später ihr Manuskript aus der von den Deutschen besetzten Tschechei nach Polen schleuste. Der in Wien situierte Roman erzählt sozialpsychologisch fundiert von der Entstehung einer Feindschaft zwischen zwei Parallelklassen einer Schule und deren finaler Auflösung. Die Ereignisse werden durch einen neuen Mitschüler ins Rollen gebracht, der sich eine Machtposition in der Klasse sichern will. Wie Nachbarn plötzlich zu Feinden werden und wie diese Prozesse den einzelnen Menschen in Mitleidenschaft ziehen, ihn korrumpieren und welche persönlichen und sozialen Möglichkeiten zur Konfliktlösung es geben kann, zeigt Jokl in einem spannend erzählten Soziogramm. Die Verbindung von historischer Situiertheit (s. Vorwort) und allegorischer Erzählweise (die Ereignisse könnten jederzeit überall stattfinden) macht den Text besonders empfehlenswert mehr

Warum lesen?

Wer auf der Suche nach einer differenzierten und zugleich spannend erzählten Alternative zu “Die Welle” ist, greife zu diesem “Kinderroman für fast alle Leute”

Infos zu dieser Liste
Erstveröffentlicht: 27.05.2022
Zuletzt aktualisiert: 27.05.2022

Wiebke von Bernstorff ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität Hildesheim