Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Von Max Czollek und Sebastian Schirrmeister

Von der Bibel bis in die Gegenwartskunst – jüdische Rache ist ein literarisch viel bearbeiteter Topos. Mal erscheint sie als handfeste Gewaltfantasie, mal als liebevoller Versuch, der unerträglichen Ungerechtigkeit der Geschichte einen imaginären, fantastischen oder kontrafaktischen Verlauf entgegenzusetzen. Jüdische Rache zeigt sich als Spiel mit jüdischen Mythen vom Golem bis Lilith, von Samson bis Judith oder ein Rückgriff auf reale Rächer*innen wie Abba Kovner, Vitka Kempner oder die Soldaten der Jüdischen Brigade, die als Teil der Britischen Armee Deutschland besiegten und nachher Nazis in Eigenregie den Prozess machten. Jüdische Rache kann schillern und verstören, vor allem aber ist die geballte Faust der Rache eine wichtige Ergänzung zur »ausgestreckten Hand der Versöhnung«. Damit gibt sie einer wenig beachteten Facette des Opferseins Raum: dass nämlich Ausgrenzung und Gewalt, Verletzung und Verlust nicht in jedem Fall still erduldet werden; die Suche nach Möglichkeiten, die eigene Ohnmacht in Handlungsmacht zu verwandeln, ist ebenso Teil von Opferschaft. Am Ende sind es vielleicht gerade Comic, Literatur, Theater und Film, in denen die Verletzten und Verlachten zum Gegenschlag ausholen können – ohne dass ernsthaft jemand Schaden nimmt. Und vielleicht gerät dabei auch das eine oder andere Vorurteil darüber, was und wie Jüdinnen und Juden sind oder gefälligst zu sein haben, unter die Räder.

Eine vielfältige, handverlesene Auswahl der unzähligen Texte, die sich dem Thema aus Nachkriegsperspektive angenommen haben, bietet unsere Liste. Wir wünschen aufschlussreiche Lektüren und anregende (Rache-)Gedanken.

Mein ist die Rache

/ 1943

Genau genommen fällt die erste Empfehlung auf der Liste gleich mal aus dem Rahmen, denn die Novelle erschien bereits 1943. Umso beachtlicher ist es, wie Friedrich Torberg, ein österreichischer Jude im amerikanischen Exil, in seinem Text über ein fiktives Konzentrationslager lange vor Kriegsende und dem Bekanntwerden des ganzen Ausmaßes der deutschen Verbrechen die Frage nach dem »Danach« stellt. In »Mein ist die Rache« hat der sadistische Lagerkommandant Wagenseil seine besondere Freude daran, die jüdischen Gefangenen so lange zu quälen bis sie sich mit einem bereitliegenden Revolver das Leben nehmen. Intensiv wird in der Baracke darüber diskutiert, wie man sich als Jude im Angesicht von Grausamkeit und Gewalterfahrung richtig verhalten soll: selbst handeln oder auf Gottes Rache vertrauen? Als einer der Gefangenen den Revolver benutzt, um Wagenseil zu erschießen, gelingt ihm daraufhin auch die Flucht aus dem Lager. Doch sein Gewissen lässt ihm keine Ruhe, denn Rache ist dem gläubigen Juden verboten und als Rache deutet er seine Tat. In der bangen Hoffnung, er möge nicht der einzige Überlebende sein, sitzt er Tag für Tag am Pier von New Jersey und beobachtet die Schiffe.

 

Warum lesen

Weil kaum ein anderer literarischer Text sich so früh mit der ethisch-religiösen Dimension jüdischer Rache für die Shoah beschäftigt hat und weil Erstleser wie Arnold Schönberg oder Willi S. Schlamm der Meinung waren, »alle Deutschen« (Schönberg) müssten dieses Buch lesen bzw. es müsse als »Zwangslektüre« (Schlamm) in der Schule auferlegt werden.

Bester Satz: »Ich heiße Joseph Aschkenasy.«

[ssch]

Ich tötete einen Nazi

/ 1946

Der Medizinstudent David Frankfurter war der erste Jude, der Rache an den Nazis nahm, als er 1936 den NSDAP-Landesgruppenleiter der Auslandsorganisation Wilhelm Gustloff in dem Schweizer Ort Davos erschoss. Er tat das auch, weil er die Katastrophe kommen sah und setzte ihr seinen eigenen, praktischen Widerstand entgegen. Den Krieg verbrachte Frankfurter in einem Schweizer Gefängnis, aus dem er 1945 entlassen und des Landes verwiesen wurde. Seine Biographie veröffentlichte er in Israel unter dem hebräischen Titel »Nakam« (Rache), seit 2022 liegt sie endlich auch auf Deutsch vor.

 

Warum lesen

Weil es sich bei David Frankfurter um eine echte Neuentdeckung für den deutschsprachigen Raum handelt. Und weil sich damit eine Lücke schließt, die die offizielle deutsche Erinnerungskultur zwischen der Pogromnacht vom 9. November 1938 und der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 lässt.

[mc]

Point of No Return

/ 1948

Jacob Levy ist Soldat. Einer von hunderttausenden amerikanischen GIs, die sich Ende 1944 durch Frankreich und Belgien in Richtung Deutschland kämpfen. Alles, was er sich von diesem Krieg erwartet, ist ihn zu überleben. Erst als er die junge Französin Kathe kennenlernt, schmiedet er Pläne für ein Leben im Frieden. Dass Levy Jude ist, interessiert seine Umgebung oft mehr als ihn selbst und insgeheim wirft er den europäischen Juden vor, dass sie sich nicht längst aus dem Staub gemacht haben – so wie seine Vorfahren. Doch mit dem Vorrücken auf Deutschland ändert sich seine Haltung, wächst die Angst, was die »Krauts« seiner Freundin Kathe antun könnten. Er denkt an die Ermordeten – und an seine Eltern. Als er nach der deutschen Kapitulation zum ersten Mal das Wort »Dachau« hört, will er den Ort unbedingt sehen. Danach gibt es – wie im Titel des Romans – für ihn kein Zurück mehr. Unfähig, das Grauen des Lagers mit den lachenden Gesichtern der Deutschen in Einklang zu bringen, nimmt Jacob Levy Rache. Er steht zu seiner Tat und letztlich auch zu seinem Jüdischsein.

 

Warum lesen

Weil Martha Gellhorn nicht nur die Frau von Ernest Hemingway war, sondern selbst Kriegsreporterin, und weil es ihr gelingt, die Sicht der Soldaten auf den Krieg ebenso überzeugend zu erzählen wie Jacob Levys allmähliche Wandlung zum Rächer. Und woher stammt doch gleich der Satz »fighting for one thing and one thing only«?

Bester Satz: »They said it wasn’t murder but he had intended it to be murder.«

[ssch]

Flowers for Hitler

/ 1964

Leonard Cohen dürfte den meisten Menschen vor allem wegen seiner balladenhaften Musik und seiner Doppelbass-Stimmlage bekannt sein. Ursprünglich war Cohen aber ein Lyriker, der die Gitarre seinen eigenen Angaben nach nur darum in die Hand nahm, weil die Leute auf diese Weise endlich seiner Lyrik Aufmerksamkeit schenkten. Auch deutsche Lyriker*innen können ein Lied davon singen. Der Gedichtband »Flowers for Hitler« aus dem Jahr 1964 widmet sich der Frage nach der Intimität zwischen Opfer und Täter, einer Verbindung, auf die Cohen nicht reagiert, indem er den Tätern Rosen auf den Weg streut, sondern ihnen einen ganzen Blumenstrauß reicht. Sicherlich sind es weiße Lilien.

 

Warum lesen

Weil Leonard Cohen viel zu oft als Dichter tiefsinniger Liebeslieder und viel zu selten als Verfasser wehrhafter Lyrik wahrgenommen wird. Und weil Rache manchmal auch bedeuten kann, die Intimität, die zwischen Täter und Opfer entsteht, abzubilden und zu unterlaufen.

[mc]

Wann, wenn nicht jetzt?

/ 1986
Se non ora, quando? / 1982

In den wenigen Fällen, in denen jüdische Rache für die Shoah dann doch einmal groß erzählt und inszeniert wird, sind es meist Geschichten von Kämpfern: Die Bielski-Brüder in den Wäldern Weißrusslands, Abba Kovner und sechs Millionen tote Deutsche, die Jüdische Brigade. Überlebende der Lager spielen in diesen Geschichten meist keine große Rolle. Umso lesenswerter ist der Roman von Primo Levi, vor allem bekannt für seine Lagererinnerungen »Das periodische System« und »Ist das ein Mensch?«. Es ist die Partisanenfantasie eines KZ-Überlebenden. Basierend auf den Erzählungen eines Bekannten und intensiven Recherchen lässt Levi eine wachsende Gruppe von Versprengten in den letzten zwei Kriegsjahren quer durch Osteuropa ziehen. Mendel und Leonid und Dov und Gedale und Rokhele und Line und Pavel und Mottel und all die anderen – jede Figur hat ihre eigene Geschichte und wird von Levi liebevoll und detailliert gezeichnet. Für einige ist der Wunsch nach Rache der wichtigste Antrieb zu überleben und weiterzukämpfen. Und als der Krieg plötzlich vorüber ist, ist er es eben nicht für alle…

 

Warum lesen

Weil ohne diesen Roman im Periodensystem von Primo Levi ein paar wichtige Elemente fehlen würden.

Bester Satz: »Freu dich nicht, wenn dein Feind stürzt; hilf ihm aber auch nicht beim Aufstehen.«

[ssch]

Bronsteins Kinder

/ 1986

Haben Opfer auch nach 30 Jahren noch ein Recht, Rache an ihren Peinigern zu nehmen? Und sind die Kinder der Opfer ohne es zu wollen vielleicht selbst Opfer? Hat die DDR ihr Versprechen eines ‚besseren Deutschlands‘ eingelöst? Warum laufen dann immer noch ehemalige Täter frei herum? Was heißt es, Mitte der 1970er in Ostdeutschland als Jude erwachsen zu werden? Diese und andere Fragen stehen im Zentrum von Jurek Beckers drittem Roman zum Thema Judentum und Shoah. Hans, der jugendliche Erzähler, ist eigentlich mit Abiturprüfungen, Zukunftsplänen und seiner Liebe zu Martha ganz gut beschäftigt. Doch als er entdeckt, dass sein eigener Vater und zwei andere Überlebende einen ehemaligen SS-Mann entführt haben, ihn gefangen halten und foltern, gerät alles aus den Fugen. Am Ende wird der Tod des Vaters für Hans zum Anlass, diese generationenübergreifende Rachegeschichte auf zwei Zeitebenen und mit zahlreichen Selbstreflexionen zu erzählen. Und wer genau hinliest, stößt auf ein Kapitel, dass beinahe eins zu eins aus dem Drehbuch von Masel Tov Cocktail stammen könnte.

 

Warum lesen

Weil es immer noch zu wenige Texte gibt, die sich mit dem Jüdischsein in der DDR befassen und weil es Jurek Becker gelingt, allen einfachen Antworten aus dem Weg zu gehen.

Bester Satz: »Ein bißchen mehr Zorn auf Lumpen und Mörder könntest du ruhig haben.«

[ssch]

Mein Kampf

/ 1987

George Tabori gilt als eine der große Theaterautor*innen der Nachkriegszeit. In seiner Groteske »Mein Kampf« erleben wir Hitler in einem Männerasyl, begleitet von den zwei Juden Schlomo Herzl und dem Koch Lobkowitz, die ihm beibringen, wie man das Publikum begeistert. Ein Lehrstück über die Freiheit der Literatur, mit der Geschichte und ihren Figuren anzustellen, was sie will. Und die darin eine Ruhe entdeckt, die man auch als Stille nach dem Schuss beschreiben kann. Eine literarische Rache, die auch darum so gut funktioniert, weil wir wissen, dass es doch eigentlich ganz anders gewesen ist.

 

Warum lesen

Weil Taboris »Mein Kampf« unterstreicht, dass Rache nicht immer eine gewaltvolle Sache sein muss. Rache kann auch bedeuten, zentrale Akteure der Gewalt ihrer Autonomie zu berauben und als Hanswürste neu zu erzählen. Hannah Arendt lässt grüßen.

[mc]

Wenn ich einmal reich und tot bin

/ 1990

Auch wenn Maxim Biller behauptet, dass es so etwas wie jüdische Rache niemals gegeben habe, ist sein erster Kurzgeschichtenband ein Beispiel für eine deutschsprachige Beschäftigung mit dem Thema jüdischer Rache. Unvergesslich die Figur Amichai Süß, die das Scheckbuch zückt und fragt, was wohl ein Schützenpanzer für die israelische Armee kostet und das Teil dann einfach bezahlt. Ein Frankfurter Immobilienhai als Wutfisch, seine Zuhälterei als Gegenschlag und das Scheckbuch als Rache.

 

Warum lesen

Weil jüdische Rache hier nach Jurek Beckers »Bronsteins Kinder« auch einmal in einem westdeutschen Buch eine Rolle spielt.

[mc]

Der eiserne Pfad

/ 1999
Mesilat barzel / 1991

Erwin Siegelbaum ist unterwegs. Auf jährlichen Touren durch die Dörfer und Kleinstädte Österreichs spürt der israelische Antiquitätenhändler die materiellen Hinterlassenschaften der ermordeten Juden Europas auf. Dank einiger Schwarzmarktdeals ist er wirtschaftlich unabhängig. Er kennt alle Strecken und alle Orte, die Züge sind sein Zuhause. Doch seine unentwegten Wanderungen haben noch ein anderes Ziel: den Mörder seiner Eltern zur Strecke bringen. Betagt, zahnlos und unbehelligt lebt Oberstleutnant Nachtigel auf dem Land – bis Siegelbaum ihm schließlich auf die Spur kommt. In schnörkellosen Szenen und den lakonischen Reflexionen seines Erzählers gewährt Aharon Appelfeld, der 1932 als Erwin Appelfeld in der Bukowina geboren wurde, tiefe Einblicke in das Seelenleben eines Überlebenden, der mit der Vergangenheit nicht abschließen kann. Die offenen Rechnungen mit Europa wiegen schwerer als die Verheißung von Ruhe und Sicherheit in Israel. Und die unüberwindbare Einsamkeit des Rächenden ist in jeder Zeile greifbar.

 

Warum lesen

Weil sich Appelfeld nichts Überflüssiges erlaubt. Ein Racheplot in Reinform. Wie auf Schienen läuft die Erzählung auf ihr unausweichliches Ende zu.

Bester Satz: »In Sprache steckt fast immer Verstellung. Ich traue nur den Schweigsamen.«

[ssch]

Anatomie einer Rache

/ 2001
Anatomiya shel nekama / 1993

Was ist damals im Wald passiert? Gabriel Jedermann, Professor für deutsche Literatur in Jerusalem, will wissen, wie seine Mutter gestorben ist – damals in Europa, als er selbst noch ein Kind war. Götz Engeldorf, deutscher Botaniker und Experte für Moose will die Vergangenheit seiner Eltern lieber nicht so genau kennen, doch er kann ihr nicht entkommen. »Sie war schön wie eine Gazelle« – rund um diesen Satz entspinnt sich ein psychologisches Katz- und Mausspiel zwischen zwei Akademikern der zweiten Generation. Wer es gern komplex, widersprüchlich und mysteriös hat, ist bei Rivka Keren an der richtigen Adresse. Innerhalb dieser Leseliste ist es vermutlich der Text, der seine Leser*innen vor die größten Herausforderungen stellt. Erzählperspektiven wechseln sich ab, es gibt fremdsprachige Einsprengsel, typografische Unterschiede. Erinnerung und Fantasie verschränken sich, die Aufzeichnungen der toten Väter geraten in den Erzählfluss und schließlich sind Geschichte und Gegenwart, Väter und Söhne, Wunsch und Wirklichkeit nicht mehr recht auseinanderzuhalten.

 

Warum lesen

Weil Rivka Keren sich nicht nur in die Gedankenwelt des jüdischen Rächers, sondern ebenso in die der alten und neuen Nazis hineinversetzt und das Publikum unweigerlich mit in die Abgründe zieht.

Bester Satz: »Der Waffenschein trifft per Post ein.«

[ssch]

Das Meer der Erinnerung

/ 1999
Tu, Mio / 1998

Italien in den 1950ern. Der Krieg ist vorbei, der Faschismus passé. Geblieben sind Sommer, Sonne und massenhaft deutsche Urlauber, die ihren Wirtschaftswunderwohlstand genießen und hier und dort auch mal SS-Lieder grölen. Der jugendliche italienische Erzähler ist den Sommer über auf Ischia und verbringt viel Zeit mit dem Fischer Nicola, der ihm als einziger davon erzählt, was er im Krieg erlebt und gesehen hat. Als sich der Junge in die mysteriöse Caia verliebt und erfährt, dass ihre Eltern von den Nazis umgebracht wurden, sieht er die Deutschen noch einmal mit ganz anderen Augen. Aus Unbehagen und Ablehnung wird Zorn. Er beobachtet sie genau und schmiedet schließlich einen Plan.

 

Warum lesen

Weil de Luca auf gerade einmal 120 Seiten eindrücklich zeigt, dass es angesichts der Shoah keine ‚Unbeteiligten‘ geben kann und dass Liebe und Rache durchaus Hand in Hand gehen können.

Bester Satz: »Sie taten so, als wären sie lediglich Touristen und nie etwas anderes gewesen. In Gruppen, in Scharen schwärmten sie von Juni bis Oktober über die Insel, von der Sonne gerötet, den Bauch voll mit Limonade und von Sonnenöl glänzend wie Rumtörtchen mit Zuckerguß.«

[ssch]

The Amazing Adventures of Cavalier and Clay

/ 2000

Michael Chabon gehört zu den besten jüdischen Romanciers der Gegenwart, für The Amazing Adventures of Cavalier and Clay (Deutsch: Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier und Clay) gewann er sogar den Pulitzer Preis. Im Zentrum der Geschichte stehen die zwei jungen Comic-Fans und bald auch -Macher Josef »Joe« Kavalier und sein Cousin Sammy Klayman. Die Erfindung von Superheld*innen wie The Escapist, Captain America oder Batman werden von Chabon auch als eine Antwort auf die Ohnmacht verstanden, mit denen zwei junge Juden aus Prag und Brooklyn, New York der Vernichtung ihrer Familien durch die Nazis trotzen. Und zugleich zu einer Antwort auf verbotenes Begehren in den USA der 1940er und 50er Jahre.

 

Warum lesen

Weil Rache manchmal auch eine Form der literarischen Selbstermächtigung sein kann, gerade auch angesichts einer Realität, in der man tatenlos zuschauen muss, wie die anderen Gewalt ausüben.

[mc]

Rachel Rising

/ 2011 – 2016

Wenn es bei Chabon um den Zusammenhang von Comic und jüdischer Rache an den Nationalsozialist*innen geht, dann ist Moores Rachel Rising ein Beispiel für eine Form innerjüdischer Rache. Verfasst aus einer feministischen und zumindest implizit lesbischen Perspektive greift die Comicserie den Mythos um die jüdische Dämonin Lilith auf, die sich für ihre Vertreibung aus dem Paradies rächt. Rachel Rising wirft neues Licht auf diese Dämonin in dem Bewusstsein, dass es auch in der jüdischen Tradition genug Anlass dafür gibt, Rache für die Diskriminierung und Herabwürdigung von Frauen und Lesben zu nehmen.

 

Warum lesen

Weil die feministische Relektüre der jüdischen Tradition unterstreicht, dass es auch innerjüdisch genug Grund für Rache gibt. Denn die Geschichte von Gewalt und Ausschluss endet ja nicht bei der diskriminierten Gruppe, sondern durchzieht sie auch im Sinne der Intersektionalität von Diskriminierungsformen.

[mc]

Überbitten

/ 2017

Man muss Unorthodox nicht unbedingt gelesen haben. Bestseller hin oder her. Und die merkwürdig bemühte Netflix-Adaption macht auch nicht direkt Lust auf die Lektüre. Aber Feldmans zweite autobiografische Erzählung hat in ihrer deutschen Fassung trotz ihres Umfangs von mehr als 700 Seiten etwas sehr Faszinierendes. Nicht nur, weil so viel mehr drinsteht als in der schmalen Version »Exodus« für den amerikanischen Markt. »Überbitten« ist in vielerlei Hinsicht beachtenswert, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zu Deutschland und auf den Umgang mit geerbten Rachegefühlen. Was macht eine junge Mutter aus ultraorthodoxem Haus, der man als Kind zum Einschlafen vorgesungen hat »nimm nekume ojf dejn mames blut« (Nimm Rache für deiner Mutter Blut), wenn sie sich ein neues Leben im Land der Täter*innen einrichtet? Wie viele Anläufe braucht es, um eine ‚unbelastete‘ Liebesbeziehung mit einem Deutschen zu führen? Der Text wird nach hinten raus vielleicht ein bisschen arg versöhnlich und bildungsromanig: Die Erzählerin hat eine Entwicklung durchgemacht und erfolgreich ihre Ressentiments gewilhelmmeistert. Aber das ungeschminkte Vermessen der privaten wie kollektiven Gefühlslandschaften mitsamt der zahlreichen Literaturverweise lohnt die Lektüre allemal.

 

Warum lesen

Weil weibliche Stimmen im literarischen Universum jüdischer Rache eine Seltenheit sind und Rachegefühle nachweislich auch in der dritten Generation fortwirken.

Bester Satz: »Nazis hatten in meiner Kindheit eine übermäßige Rolle gespielt.«

[ssch]

Justice for Some

/ 2018

Seit sie als Kind das Konzentrationslager überlebt hat, ist Roza Grundstein eine geübte, eiskalte Killerin und macht mit beachtlichem Erfolg Jagd auf Nazis. »Nie wieder« ist für sie jahrzehntelang keine Phrase, sondern eine Handlungsmaxime. Ihr Enkel Hersh dagegen bestraft und beseitigt mit seinen Freunden Menschen, die Kinder und Frauen misshandeln. Das familiäre Gespann mit dem ‚besonderen‘ Sinn für Gerechtigkeit gerät ins Visier der amerikanischen Behörden und wird von der attraktiven und hochintelligenten Polizistin Marian Webber verfolgt. Während es die hochbetagte Roza längst nicht mehr kümmert, ob sie geschnappt wird, macht sie sich doch Sorgen um Hersh, der Marian sehr, sehr nah an sich heranlässt. In bester Tradition schwarzhumoriger Kriminalgeschichten und -filme jagt Cherner sein Publikum in rasantem Erzähltempo durch die Geschichte. Leser*innen mit einer Ader für die ‚hard-boiled novels‘ von Dashiell Hammet, Raymond Chandler oder Philip Kerr, für Filmzitate und Popmusikanspielungen, kommen in diesem Buch voll auf ihre Kosten.

 

Warum lesen

Weil es großen Spaß macht, sich für die Zeit der Lektüre auf die Kompromisslosigkeit der Figuren einzulassen, gerade in Sachen Rache. Ein Meisterstück des „was wäre, wenn…“.

Bester Satz: »The only promise I make is this: the dog does not die in this story.«

[ssch]

Inglourious Basterds. Das Drehbuch

/ 2009

Welche Liste zum Thema jüdische Rache wäre vollständig ohne diesen modernen Klassiker jüdischer Rachekunst? Die Inglourious Basterds sind eine Bande jüdischer US-Soldaten, die sich hinter den feindlichen Linien absetzen lassen, um Rache an den Nazis zu nehmen. Gemeinsam mit Shosanna Dreyfus, der einzigen Überlebenden einer jüdischen Familie aus Frankreich, sperren sie die Nazielite am Ende des Films in ein Kino und zünden einen Haufen Filmrollen an. Lustvoller ist jüdische Rache selten inszeniert worden.

 

Warum lesen

Weil Rache manchmal eine Gegenerzählung sein kann, gerade auch angesichts einer Geschichte, die ganze anders stattgefunden hat.

Bester Satz: »And the German will be sickened by us, and the German will talk about us, and the German will fear us. And when the German closes their eyes at night and they're tortured by their subconscious for the evil they have done, it will be with thoughts of us they are tortured with. Sound good?«

[mc]

Infos zu dieser Liste
Erstveröffentlicht: 04.01.2023
Zuletzt aktualisiert: 04.01.2023
Diese Liste wurde gefördert durch

Max Czollek ist Autor und lebt in Berlin. Er ist Teil des Lyrikkollektivs G13 und Mitherausgeber des Magazins »Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart«. Mit Sasha Marianna Salzmann initiierte er den »Desintegrationskongress« 2016 sowie die „Radikalen Jüdischen Kulturtage“ 2017 am Maxim Gorki Theater Berlin, Studio Я, außerdem 2020 die »Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur«. 2022 Ko-Kurator der Ausstellung »Rache – Geschichte und Fantasie« im Jüdischen Museum Frankfurt am Main. Seine Gedichtbände erscheinen im Verlagshaus Berlin und die Essays im Carl Hanser Verlag, zuletzt der Ausstellungskatalog zur oben genannten Ausstellung. Im Januar 2023 erscheint der dritte Essayband »Versöhnungstheater«.

 

Sebastian Schirrmeister ist Literaturwissenschaftler an der Universität Hamburg. Er hat in Potsdam und Haifa Jüdische Studien und Germanistik studiert und in Hamburg über Verflechtungen deutsch- und hebräischsprachiger Literatur promoviert. Er war u.a. wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg, Fellow am Rosenzweig-Zentrum in Jerusalem und am Lichtenberg-Kolleg in Göttingen sowie Amos-Oz-Gastprofessor in München. Er ist Autor der Bücher »Das Gastspiel« (2012) und »Begegnung auf fremder Erde« (2019) sowie zahlreicher Aufsätze. Sein aktuelles Forschungsprojekt untersucht Rache(fantasien) im jüdischen Schreiben nach der Shoah.