#Experiment


»Fluchten«
/ 2022
Alexander Estis, 1986 in Moskau geboren und später in Hamburg aufgewachsen, lebt seit einigen Jahren als freier Autor in der Schweiz. Er schreibt für verschiedene deutschsprachige Zeitungen und veröffentlicht Sammlungen kurzer, kürzerer und kürzester Texte mit klingenden Titeln wie Handwörterbuch der russischen Seele (2021). Fluchten ist bereits seine siebte Buchveröffentlichung und widmet sich dem titelgebenden, hochaktuellen Thema aus allen nur erdenklichen menschlichen Perspektiven. Unter dem spürbaren Eindruck des Angriffskrieges in der Ukraine stehen historische Fluchtgeschichten neben Alltagserfahrungen, skurrile Begebenheiten wechseln sich ab mit tragischen Schicksalen. Die Textsorten wechseln munter zwischen Kurzgeschichte, Anekdote, Parabel und Witz. Fluchten lässt sich ebenso nach- wie durcheinander lesen. Dabei treten die einzelnen Texte auf ganz unterschiedliche Weise in ein Gespräch ein, das von Fluchtlinien und Fliehkräften durchzogen ist – mal sehr konkret, mal eher metaphorisch. Die über den Band verteilten, geometrischen Ausschnitte aus abstrakten Gemälden von Nikolai Estis ergänzen diese Konversation der Texte um einen intermedialen, intergenerationellen Dialog zwischen Kunst und Literatur, zwischen Vater und Sohn.
Warum lesen?
Weil die Literatur der dritten Generation nicht nur aus autobiografischen Familienromanen und der Suche nach den eigenen Wurzeln besteht und weil Alexander Estis ein literarisch überzeugendes Plädoyer für die kleine Form liefert, bei der reichlich Raum für eigene Gedanken und überraschende Korrespondenzen bleibt.
[Sebastian Schirrmeister]


Die Anomalie
/ 2021Auf Hervé Le Telliers Buch »Die Anomalie« hat mich eine DLF-Besprechung aufmerksam gemacht, die in höchsten Tönen von dem Buch sprach. Das Buch des Oulipo-Autors aus Frankreich ist tatsächlich erst einmal interessant: Ein Flugzeug wird in einem heftigen Sturm kopiert und landet zeitversetzt zweimal. Man folgt den verdoppelten und versetzten Lebensgeschichten. Eine Spitzenidee, die aber real in viele sich doch sehr ähnelnde Mittel- und Upperclassgeschichten zerfällt (immer der einsame 60-Jährige weiße Mann, der es zu keiner Familie geschafft hat) und dann noch ernsthaft verwissenschaftlicht wird, um sich ab der Mitte zu einer Art Krimi zu mausern. Am Ende sitze ich also doch in einer Netflixserie für Reflektierte drin. Schade. Warum kann man nicht diese Behauptung leben lassen und sich mehr auf die Frage konzentrieren, wie das Leben mit Doppelgängern aussieht und was das mit unserer Gegenwart zu tun hat. Aber warum das Buch nicht weiter- oder umschreiben?