#Gegenwart
WTF Berlin
/ 2022Die Autorin kommt aus Großbritannien und lebt seit 20 Jahren in Berlin. In WTF Berlin teilt sie ihre Beobachtungen aus 20 Jahren in herrlich witzigen, feministischen Texten. Wer bereits »Die schlechteste Hausfrau der Welt« oder ihre Kolumnen im Missy Magazin gelesen hat, weiß bereits, dass Jacinta Nandi so schreibt, dass man das Gefühl hat, neben ihr zu sitzen und ihr zu lauschen, wie sie schnell und schlagfertig mit Worten um sich wirft.
Im Unterschied zu ihren anderen beiden Büchern ist WTF Berlin auf Englisch geschrieben, was aber einen besonderen Reiz hat, wenn sie deutsche Begriffe erklärt. Die Reise beginnt bei »Abendbrot« und hangelt sich das Alphabet entlang wie in einem Wörterbuch: Von »Abtreibung« über »Erziehung« , »Migrationshintergrund«, »Reizwäsche“ und »Spielplatz« bis »Zecke“ und vielen anderen Begriffen dazwischen. Mehrdeutigkeiten, Übersetzungs- und Erklärungsverwirrungen und Entirrungen vom Feinsten! Auch wunderbar zum Vorlesen und Sich-Freuen über Jacinta Nandis Texte, die easy daherkommen, aber der »deep shit« steckt immer mit drin!
Warum lesen?
Jacinta Nandi erklärt uns Berlin – aber eigentlich greift der Titel viel zu kurz – sie erklärt deutsche Selbstverständlichkeiten so, dass man einerseits sehr viel lachen muss und sich andererseits fragt, warum zur Hölle einer selbst das bisher nicht aufgefallen ist.
Eure Heimat ist unser Albtraum
/ 2019Heimat finden, Heimat haben, heimatlos sein, viele Schriftsteller*innen haben sich schon mit Heimat beschäftigt. Welche Vorstellungen haben wir von Heimat und wer ist eigentlich wir?
Das Buch »Eure Heimat ist unser Albtraum« ist der Widerstand derjenigen, die vom Konzept der Heimat ausgeschlossen werden – und so lautet auch die Widmung der Autor*innen: »Für Uns«. Es beginnt mit einer Einordnung der aktuellen Erweckung des Heimatbegriffs und der damit verbundenen Gefühle und Annahmen. Weiter geht es mit Alltagssituationen, in denen auffällt, dass anscheinend selbstverständlich Menschen davon ausgeschlossen sind, mitgedacht und gemeint zu werden. Die Schlüsse, die die Texte zulassen, sind eindeutig: Die Vorstellung des bundesdeutschen »Wir« ist immer noch vor allem an rassistische Kriterien geknüpft: Aussehen, Sprache, Religion.
Warum lesen?
Fatma Aydemir, Max Czollek, Sharon Dodua Otoo, Margarete Stokowski und acht weitere Autor*innen schreiben von Sichtbarkeit, von Arbeit und deren Wert, sie schreiben über Sprache, Blicke, Zuhause und Gegenwartsbewältigung. Es wird deutlich, dass Heimat immer völkisch gedacht und rassistisch genutzt wird – von Nationalist*innen wie von vielen Menschen, die sich für neutral halten und meinen, eine vermeintliche »Mitte« zu repräsentieren.
Eine Formalie in Kiew
/ 2021»Mir brauch'n jetzt nür nöch eine arneuerde Gebürdsürgünde un eine Abösdille von Ihn'n.« Das sind Frau Kunzes Worte, Sachbearbeiterin auf der Leipziger Ausländerbehörde, bei der sich Dmitrij eingefunden hat, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Statt Residenzpflicht, die seinen Wohnort innerhalb Sachsens festlegt, Freizügigkeit. Statt der zukünftigen Vermieterin den ukrainischen Pass vorzulegen, die sich daraufhin fast belogen fühlt, als ob er sie durch Sprache und Aussehen habe täuschen wollen, einfach das Papier mit dem Bundesadler auf den Tisch legen. Reisen können in fast alle Länder der Welt! Nun, Geburtsurkunde in Übersetzung, Loyalitätserklärung zur deutschen Verfassung, Einkommensnachweis – alles ist für den Einbürgerungsantrag eingereicht. Außer der noch fehlenden Apostille, in Frau Kunzes Erklärung: Die behördliche Bestätigung einer behördlichen Bestätigung der nächsthöheren Behörde. Wo diese erhältlich ist? Nur in der Ukraine.
Warum lesen?
Die autobiografische Erzählung ist unglaublich witzig und unterhaltsam und Dmitrij Kapitelman flicht gesellschaftliche und politische Verhältnisse, sowohl in Deutschland als auch in der Ukraine ein und verbindet alles zusammen mit seiner jüdisch-ukrainisch-deutschen-Familiengeschichte. Ein Buch, das viel zu schnell ausgelesen ist, sich wunderbar zum Vorlesen eignet und die Leser*innen zum Schmunzeln, Ärgern, Kopfschütteln und Nachdenken bringt.
Der gemeine Lumpfisch
/ 2023Der Klimawandel ist nicht mehr aufzuhalten gewesen, selbst der Pandabär ist ausgestorben. In einer Zukunft, die gleich um die Ecke geschieht, reagiert die Welt auf die katastrophalen Verhältnisse, indem Zertifikate verkauft werden, die dazu berechtigen, Arten vernichten zu dürfen, analog zu den heutigen Zertifikaten zum Kohlendioxidausstoß. In dieser hyperneoliberalen Welt, in der schmackhaftes Essen zum Luxusgut für die Reichen geworden ist und Engländer in finnischen Flüchtlingslagern leben, spielt der neue Roman von Ned Beauman.
Die Protagonistin erforscht den gemeinen Lumpfisch, eine intelligente Lebensform, die vom Aussterben bedroht ist und gerade zufällig ausgerottet wurde. Dabei steht ihr ein Angestellter der für die Ausrottung verantwortlichen Firma zur Seite, der verzweifelt ein letztes Lumpfisch-Exemplar sucht, weil er sich mit Zertifikaten verspekuliert hat. Beide bewegen sich in einer Welt, in der sonderbare Dinge passieren, die jedoch ihre eigene Logik haben, die Logik des Kapitals, das noch vom Sterben der Arten profitiert. Ein Happy End gibt es, wie in der Wirklichkeit, nicht.
Warum lesen?
Wer sich schon immer gefragt hat, wieso das Bezahlen für die Erlaubnis, Kohlendioxid in die Luft blasen zu dürfen, etwas mit Umweltschutz zu tun haben soll – und das schon immer bezweifelt hat, für die ist diese bissige Satire genau das Richtige.
Die Anomalie
/ 2021Auf Hervé Le Telliers Buch »Die Anomalie« hat mich eine DLF-Besprechung aufmerksam gemacht, die in höchsten Tönen von dem Buch sprach. Das Buch des Oulipo-Autors aus Frankreich ist tatsächlich erst einmal interessant: Ein Flugzeug wird in einem heftigen Sturm kopiert und landet zeitversetzt zweimal. Man folgt den verdoppelten und versetzten Lebensgeschichten. Eine Spitzenidee, die aber real in viele sich doch sehr ähnelnde Mittel- und Upperclassgeschichten zerfällt (immer der einsame 60-Jährige weiße Mann, der es zu keiner Familie geschafft hat) und dann noch ernsthaft verwissenschaftlicht wird, um sich ab der Mitte zu einer Art Krimi zu mausern. Am Ende sitze ich also doch in einer Netflixserie für Reflektierte drin. Schade. Warum kann man nicht diese Behauptung leben lassen und sich mehr auf die Frage konzentrieren, wie das Leben mit Doppelgängern aussieht und was das mit unserer Gegenwart zu tun hat. Aber warum das Buch nicht weiter- oder umschreiben?