»A replacement life«

/ 2014

 

Debütroman des 1979 in Minsk geborenen Autors. Der Protagonist Slawa ist ein sowjetisch-jüdischer Einwanderer in New York und ein aufstrebender junger Autor bei einem hochkarätigen New Yorker Magazin (einem fiktiven New Yorker oder Harpers). Nach dem Tod seiner Großmutter wird Slawa von seinem Großvater angestiftet, sein literarisches Talent dafür zu nutzen, gefälschte Shoah-Biografien für diesen und andere russisch-jüdische Einwanderer zu schreiben, damit sie Entschädigungsansprüche geltend machen können. Während Slawa darum ringt, die komplexen Erfahrungen und Verhaltensweisen der Generation seiner Großeltern (geprägt von Weltkrieg, Shoah, Antisemitismus und Korruption in der sowjetischen Gesellschaft) zu verstehen, hinterfragt er seine eigene Identität im Verhältnis zur amerikanischen und amerikanisch-jüdischen Gegenwart, in der er sein eigenes Leben führt.

Warum lesen?

Fishmans Roman beschäftigt sich mit Kernthemen der Shoah-Erinnerung und der Migration in der dritten Generation sowie mit tiefgreifenden Fragen nach Authentizität und Aneignung. Es ist ein humorvolles und ehrliches Buch, das uns herausfordert, über Fiktion als Rache, als Wiedergutmachung oder als Form von Gerechtigkeit nachzudenken.

[Jonathan Skolnik]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

Von Maulwürfen und Mutanten. Die Sache mit der Rache

/ 2021

»Synapsen – ein Wissenschaftspodcast«
mit Korinna Hennig/Sebastian Schirrmeister

Wozu ist Rache eigentlich gut? Sebastian Schirrmeister erforscht diese Frage aus der Perspektive der Literaturwissenschaft.

Auf der Liste:

Writing Revenge

/ 2022

English / Yiddish

»What do you think of when you hear the word revenge?

A tit for tat? The old law about an eye for an eye leaves everybody blind….

And what do you think of when you hear about Jewish revenge?

About Shimshon? About Shylock?

One definition of revenge explains that Vengeance is man's answer to injustice suffered.

In the last moments of their lives the persecuted and tortured Jews cried out for revenge.

Considering the horrific crimes committed towards the Jewish people, what could have

been an appropriate response to the sadistic murder of six million people?

Where has all this desperate energy gone?«

Auf der Liste:

Rache. Geschichte und Fantasie: Rache in jüdischer Gegenwartsliteratur

/ 2022

In der siebten und letzten Folge des Podcasts »Rache. Geschichte und Fantasie« unterhalten sich Max Czollek, Lyriker und Ideengeber der gleichnamigen Ausstellung und Museumsdirektorin Mirjam Wenzel mit Sebastian Schirrmeister. Er ist Literaturwissenschaftler, Lektor und Übersetzer und forscht u.a. zum Thema Rache in der Gegenwartsliteratur von jüdischen Autor*innen.

Für den Ausstellungskatalog hat Sebastian Schirrmeister einen Essay mit dem Titel »Wo, wenn nicht hier?« verfasst, der sich mit Rachefantasien und -handlungen in literarischen Texten jüdischer Autor*innen während und nach der Schoa beschäftigt. Ist Rache ein Thema der Diaspora? Welche Vorstellungen von Gerechtigkeit kommen in den verschiedenen Texten zum Ausdruck? Und vor allem: Wie gehen sie mit den judenfeindlichen Fremdzuschreibungen um, die das Thema Rache kennzeichnen? Zur Sprache kommen zahlreiche Klassiker, aber auch weniger bekannte Werke zeitgenössischer Autor*innen – von Maxim Billers »Der gebrauchte Jude«, Romain Garys »Der Tanz des Dschingis Cohn«, Rivka Kerens »Anatomie einer Rache« über Friedrich Torbergs »Mein ist die Rache« bis hin zu William Shakespeares »Der Kaufmann von Venedig«. Warum dessen Shylock-Figur und der wohl bekannteste Rache-Monolog der Literatur nicht Bestandteil der Ausstellung ist – auch darüber wird in diesem Podcast diskutiert.

Für den Ausstellungskatalog hat Sebastian Schirrmeister einen Essay mit dem Titel »Wo, wenn nicht hier?« verfasst, der sich mit Rachefantasien und -handlungen in literarischen Texten jüdischer Autor*innen während und nach der Schoa beschäftigt.

Auf der Liste:

Inglourious Basterds. Das Drehbuch

/ 2009

Welche Liste zum Thema jüdische Rache wäre vollständig ohne diesen modernen Klassiker jüdischer Rachekunst? Die Inglourious Basterds sind eine Bande jüdischer US-Soldaten, die sich hinter den feindlichen Linien absetzen lassen, um Rache an den Nazis zu nehmen. Gemeinsam mit Shosanna Dreyfus, der einzigen Überlebenden einer jüdischen Familie aus Frankreich, sperren sie die Nazielite am Ende des Films in ein Kino und zünden einen Haufen Filmrollen an. Lustvoller ist jüdische Rache selten inszeniert worden.

 

Warum lesen

Weil Rache manchmal eine Gegenerzählung sein kann, gerade auch angesichts einer Geschichte, die ganze anders stattgefunden hat.

Bester Satz: »And the German will be sickened by us, and the German will talk about us, and the German will fear us. And when the German closes their eyes at night and they're tortured by their subconscious for the evil they have done, it will be with thoughts of us they are tortured with. Sound good?«

[mc]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Justice for Some

/ 2018

Seit sie als Kind das Konzentrationslager überlebt hat, ist Roza Grundstein eine geübte, eiskalte Killerin und macht mit beachtlichem Erfolg Jagd auf Nazis. »Nie wieder« ist für sie jahrzehntelang keine Phrase, sondern eine Handlungsmaxime. Ihr Enkel Hersh dagegen bestraft und beseitigt mit seinen Freunden Menschen, die Kinder und Frauen misshandeln. Das familiäre Gespann mit dem ‚besonderen‘ Sinn für Gerechtigkeit gerät ins Visier der amerikanischen Behörden und wird von der attraktiven und hochintelligenten Polizistin Marian Webber verfolgt. Während es die hochbetagte Roza längst nicht mehr kümmert, ob sie geschnappt wird, macht sie sich doch Sorgen um Hersh, der Marian sehr, sehr nah an sich heranlässt. In bester Tradition schwarzhumoriger Kriminalgeschichten und -filme jagt Cherner sein Publikum in rasantem Erzähltempo durch die Geschichte. Leser*innen mit einer Ader für die ‚hard-boiled novels‘ von Dashiell Hammet, Raymond Chandler oder Philip Kerr, für Filmzitate und Popmusikanspielungen, kommen in diesem Buch voll auf ihre Kosten.

 

Warum lesen

Weil es großen Spaß macht, sich für die Zeit der Lektüre auf die Kompromisslosigkeit der Figuren einzulassen, gerade in Sachen Rache. Ein Meisterstück des „was wäre, wenn…“.

Bester Satz: »The only promise I make is this: the dog does not die in this story.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Überbitten

/ 2017

Man muss Unorthodox nicht unbedingt gelesen haben. Bestseller hin oder her. Und die merkwürdig bemühte Netflix-Adaption macht auch nicht direkt Lust auf die Lektüre. Aber Feldmans zweite autobiografische Erzählung hat in ihrer deutschen Fassung trotz ihres Umfangs von mehr als 700 Seiten etwas sehr Faszinierendes. Nicht nur, weil so viel mehr drinsteht als in der schmalen Version »Exodus« für den amerikanischen Markt. »Überbitten« ist in vielerlei Hinsicht beachtenswert, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zu Deutschland und auf den Umgang mit geerbten Rachegefühlen. Was macht eine junge Mutter aus ultraorthodoxem Haus, der man als Kind zum Einschlafen vorgesungen hat »nimm nekume ojf dejn mames blut« (Nimm Rache für deiner Mutter Blut), wenn sie sich ein neues Leben im Land der Täter*innen einrichtet? Wie viele Anläufe braucht es, um eine ‚unbelastete‘ Liebesbeziehung mit einem Deutschen zu führen? Der Text wird nach hinten raus vielleicht ein bisschen arg versöhnlich und bildungsromanig: Die Erzählerin hat eine Entwicklung durchgemacht und erfolgreich ihre Ressentiments gewilhelmmeistert. Aber das ungeschminkte Vermessen der privaten wie kollektiven Gefühlslandschaften mitsamt der zahlreichen Literaturverweise lohnt die Lektüre allemal.

 

Warum lesen

Weil weibliche Stimmen im literarischen Universum jüdischer Rache eine Seltenheit sind und Rachegefühle nachweislich auch in der dritten Generation fortwirken.

Bester Satz: »Nazis hatten in meiner Kindheit eine übermäßige Rolle gespielt.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Rachel Rising

/ 2011 – 2016

Wenn es bei Chabon um den Zusammenhang von Comic und jüdischer Rache an den Nationalsozialist*innen geht, dann ist Moores Rachel Rising ein Beispiel für eine Form innerjüdischer Rache. Verfasst aus einer feministischen und zumindest implizit lesbischen Perspektive greift die Comicserie den Mythos um die jüdische Dämonin Lilith auf, die sich für ihre Vertreibung aus dem Paradies rächt. Rachel Rising wirft neues Licht auf diese Dämonin in dem Bewusstsein, dass es auch in der jüdischen Tradition genug Anlass dafür gibt, Rache für die Diskriminierung und Herabwürdigung von Frauen und Lesben zu nehmen.

 

Warum lesen

Weil die feministische Relektüre der jüdischen Tradition unterstreicht, dass es auch innerjüdisch genug Grund für Rache gibt. Denn die Geschichte von Gewalt und Ausschluss endet ja nicht bei der diskriminierten Gruppe, sondern durchzieht sie auch im Sinne der Intersektionalität von Diskriminierungsformen.

[mc]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Das Meer der Erinnerung

/ 1999
Tu, Mio / 1998

Italien in den 1950ern. Der Krieg ist vorbei, der Faschismus passé. Geblieben sind Sommer, Sonne und massenhaft deutsche Urlauber, die ihren Wirtschaftswunderwohlstand genießen und hier und dort auch mal SS-Lieder grölen. Der jugendliche italienische Erzähler ist den Sommer über auf Ischia und verbringt viel Zeit mit dem Fischer Nicola, der ihm als einziger davon erzählt, was er im Krieg erlebt und gesehen hat. Als sich der Junge in die mysteriöse Caia verliebt und erfährt, dass ihre Eltern von den Nazis umgebracht wurden, sieht er die Deutschen noch einmal mit ganz anderen Augen. Aus Unbehagen und Ablehnung wird Zorn. Er beobachtet sie genau und schmiedet schließlich einen Plan.

 

Warum lesen

Weil de Luca auf gerade einmal 120 Seiten eindrücklich zeigt, dass es angesichts der Shoah keine ‚Unbeteiligten‘ geben kann und dass Liebe und Rache durchaus Hand in Hand gehen können.

Bester Satz: »Sie taten so, als wären sie lediglich Touristen und nie etwas anderes gewesen. In Gruppen, in Scharen schwärmten sie von Juni bis Oktober über die Insel, von der Sonne gerötet, den Bauch voll mit Limonade und von Sonnenöl glänzend wie Rumtörtchen mit Zuckerguß.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Anatomie einer Rache

/ 2001
Anatomiya shel nekama / 1993

Was ist damals im Wald passiert? Gabriel Jedermann, Professor für deutsche Literatur in Jerusalem, will wissen, wie seine Mutter gestorben ist – damals in Europa, als er selbst noch ein Kind war. Götz Engeldorf, deutscher Botaniker und Experte für Moose will die Vergangenheit seiner Eltern lieber nicht so genau kennen, doch er kann ihr nicht entkommen. »Sie war schön wie eine Gazelle« – rund um diesen Satz entspinnt sich ein psychologisches Katz- und Mausspiel zwischen zwei Akademikern der zweiten Generation. Wer es gern komplex, widersprüchlich und mysteriös hat, ist bei Rivka Keren an der richtigen Adresse. Innerhalb dieser Leseliste ist es vermutlich der Text, der seine Leser*innen vor die größten Herausforderungen stellt. Erzählperspektiven wechseln sich ab, es gibt fremdsprachige Einsprengsel, typografische Unterschiede. Erinnerung und Fantasie verschränken sich, die Aufzeichnungen der toten Väter geraten in den Erzählfluss und schließlich sind Geschichte und Gegenwart, Väter und Söhne, Wunsch und Wirklichkeit nicht mehr recht auseinanderzuhalten.

 

Warum lesen

Weil Rivka Keren sich nicht nur in die Gedankenwelt des jüdischen Rächers, sondern ebenso in die der alten und neuen Nazis hineinversetzt und das Publikum unweigerlich mit in die Abgründe zieht.

Bester Satz: »Der Waffenschein trifft per Post ein.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Der eiserne Pfad

/ 1999
Mesilat barzel / 1991

Erwin Siegelbaum ist unterwegs. Auf jährlichen Touren durch die Dörfer und Kleinstädte Österreichs spürt der israelische Antiquitätenhändler die materiellen Hinterlassenschaften der ermordeten Juden Europas auf. Dank einiger Schwarzmarktdeals ist er wirtschaftlich unabhängig. Er kennt alle Strecken und alle Orte, die Züge sind sein Zuhause. Doch seine unentwegten Wanderungen haben noch ein anderes Ziel: den Mörder seiner Eltern zur Strecke bringen. Betagt, zahnlos und unbehelligt lebt Oberstleutnant Nachtigel auf dem Land – bis Siegelbaum ihm schließlich auf die Spur kommt. In schnörkellosen Szenen und den lakonischen Reflexionen seines Erzählers gewährt Aharon Appelfeld, der 1932 als Erwin Appelfeld in der Bukowina geboren wurde, tiefe Einblicke in das Seelenleben eines Überlebenden, der mit der Vergangenheit nicht abschließen kann. Die offenen Rechnungen mit Europa wiegen schwerer als die Verheißung von Ruhe und Sicherheit in Israel. Und die unüberwindbare Einsamkeit des Rächenden ist in jeder Zeile greifbar.

 

Warum lesen

Weil sich Appelfeld nichts Überflüssiges erlaubt. Ein Racheplot in Reinform. Wie auf Schienen läuft die Erzählung auf ihr unausweichliches Ende zu.

Bester Satz: »In Sprache steckt fast immer Verstellung. Ich traue nur den Schweigsamen.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Wenn ich einmal reich und tot bin

/ 1990

Auch wenn Maxim Biller behauptet, dass es so etwas wie jüdische Rache niemals gegeben habe, ist sein erster Kurzgeschichtenband ein Beispiel für eine deutschsprachige Beschäftigung mit dem Thema jüdischer Rache. Unvergesslich die Figur Amichai Süß, die das Scheckbuch zückt und fragt, was wohl ein Schützenpanzer für die israelische Armee kostet und das Teil dann einfach bezahlt. Ein Frankfurter Immobilienhai als Wutfisch, seine Zuhälterei als Gegenschlag und das Scheckbuch als Rache.

 

Warum lesen

Weil jüdische Rache hier nach Jurek Beckers »Bronsteins Kinder« auch einmal in einem westdeutschen Buch eine Rolle spielt.

[mc]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Mein Kampf

/ 1987

George Tabori gilt als eine der große Theaterautor*innen der Nachkriegszeit. In seiner Groteske »Mein Kampf« erleben wir Hitler in einem Männerasyl, begleitet von den zwei Juden Schlomo Herzl und dem Koch Lobkowitz, die ihm beibringen, wie man das Publikum begeistert. Ein Lehrstück über die Freiheit der Literatur, mit der Geschichte und ihren Figuren anzustellen, was sie will. Und die darin eine Ruhe entdeckt, die man auch als Stille nach dem Schuss beschreiben kann. Eine literarische Rache, die auch darum so gut funktioniert, weil wir wissen, dass es doch eigentlich ganz anders gewesen ist.

 

Warum lesen

Weil Taboris »Mein Kampf« unterstreicht, dass Rache nicht immer eine gewaltvolle Sache sein muss. Rache kann auch bedeuten, zentrale Akteure der Gewalt ihrer Autonomie zu berauben und als Hanswürste neu zu erzählen. Hannah Arendt lässt grüßen.

[mc]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Bronsteins Kinder

/ 1986

Haben Opfer auch nach 30 Jahren noch ein Recht, Rache an ihren Peinigern zu nehmen? Und sind die Kinder der Opfer ohne es zu wollen vielleicht selbst Opfer? Hat die DDR ihr Versprechen eines ‚besseren Deutschlands‘ eingelöst? Warum laufen dann immer noch ehemalige Täter frei herum? Was heißt es, Mitte der 1970er in Ostdeutschland als Jude erwachsen zu werden? Diese und andere Fragen stehen im Zentrum von Jurek Beckers drittem Roman zum Thema Judentum und Shoah. Hans, der jugendliche Erzähler, ist eigentlich mit Abiturprüfungen, Zukunftsplänen und seiner Liebe zu Martha ganz gut beschäftigt. Doch als er entdeckt, dass sein eigener Vater und zwei andere Überlebende einen ehemaligen SS-Mann entführt haben, ihn gefangen halten und foltern, gerät alles aus den Fugen. Am Ende wird der Tod des Vaters für Hans zum Anlass, diese generationenübergreifende Rachegeschichte auf zwei Zeitebenen und mit zahlreichen Selbstreflexionen zu erzählen. Und wer genau hinliest, stößt auf ein Kapitel, dass beinahe eins zu eins aus dem Drehbuch von Masel Tov Cocktail stammen könnte.

 

Warum lesen

Weil es immer noch zu wenige Texte gibt, die sich mit dem Jüdischsein in der DDR befassen und weil es Jurek Becker gelingt, allen einfachen Antworten aus dem Weg zu gehen.

Bester Satz: »Ein bißchen mehr Zorn auf Lumpen und Mörder könntest du ruhig haben.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Wann, wenn nicht jetzt?

/ 1986
Se non ora, quando? / 1982

In den wenigen Fällen, in denen jüdische Rache für die Shoah dann doch einmal groß erzählt und inszeniert wird, sind es meist Geschichten von Kämpfern: Die Bielski-Brüder in den Wäldern Weißrusslands, Abba Kovner und sechs Millionen tote Deutsche, die Jüdische Brigade. Überlebende der Lager spielen in diesen Geschichten meist keine große Rolle. Umso lesenswerter ist der Roman von Primo Levi, vor allem bekannt für seine Lagererinnerungen »Das periodische System« und »Ist das ein Mensch?«. Es ist die Partisanenfantasie eines KZ-Überlebenden. Basierend auf den Erzählungen eines Bekannten und intensiven Recherchen lässt Levi eine wachsende Gruppe von Versprengten in den letzten zwei Kriegsjahren quer durch Osteuropa ziehen. Mendel und Leonid und Dov und Gedale und Rokhele und Line und Pavel und Mottel und all die anderen – jede Figur hat ihre eigene Geschichte und wird von Levi liebevoll und detailliert gezeichnet. Für einige ist der Wunsch nach Rache der wichtigste Antrieb zu überleben und weiterzukämpfen. Und als der Krieg plötzlich vorüber ist, ist er es eben nicht für alle…

 

Warum lesen

Weil ohne diesen Roman im Periodensystem von Primo Levi ein paar wichtige Elemente fehlen würden.

Bester Satz: »Freu dich nicht, wenn dein Feind stürzt; hilf ihm aber auch nicht beim Aufstehen.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Point of No Return

/ 1948

Jacob Levy ist Soldat. Einer von hunderttausenden amerikanischen GIs, die sich Ende 1944 durch Frankreich und Belgien in Richtung Deutschland kämpfen. Alles, was er sich von diesem Krieg erwartet, ist ihn zu überleben. Erst als er die junge Französin Kathe kennenlernt, schmiedet er Pläne für ein Leben im Frieden. Dass Levy Jude ist, interessiert seine Umgebung oft mehr als ihn selbst und insgeheim wirft er den europäischen Juden vor, dass sie sich nicht längst aus dem Staub gemacht haben – so wie seine Vorfahren. Doch mit dem Vorrücken auf Deutschland ändert sich seine Haltung, wächst die Angst, was die »Krauts« seiner Freundin Kathe antun könnten. Er denkt an die Ermordeten – und an seine Eltern. Als er nach der deutschen Kapitulation zum ersten Mal das Wort »Dachau« hört, will er den Ort unbedingt sehen. Danach gibt es – wie im Titel des Romans – für ihn kein Zurück mehr. Unfähig, das Grauen des Lagers mit den lachenden Gesichtern der Deutschen in Einklang zu bringen, nimmt Jacob Levy Rache. Er steht zu seiner Tat und letztlich auch zu seinem Jüdischsein.

 

Warum lesen

Weil Martha Gellhorn nicht nur die Frau von Ernest Hemingway war, sondern selbst Kriegsreporterin, und weil es ihr gelingt, die Sicht der Soldaten auf den Krieg ebenso überzeugend zu erzählen wie Jacob Levys allmähliche Wandlung zum Rächer. Und woher stammt doch gleich der Satz »fighting for one thing and one thing only«?

Bester Satz: »They said it wasn’t murder but he had intended it to be murder.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Ich tötete einen Nazi

/ 1946

Der Medizinstudent David Frankfurter war der erste Jude, der Rache an den Nazis nahm, als er 1936 den NSDAP-Landesgruppenleiter der Auslandsorganisation Wilhelm Gustloff in dem Schweizer Ort Davos erschoss. Er tat das auch, weil er die Katastrophe kommen sah und setzte ihr seinen eigenen, praktischen Widerstand entgegen. Den Krieg verbrachte Frankfurter in einem Schweizer Gefängnis, aus dem er 1945 entlassen und des Landes verwiesen wurde. Seine Biographie veröffentlichte er in Israel unter dem hebräischen Titel »Nakam« (Rache), seit 2022 liegt sie endlich auch auf Deutsch vor.

 

Warum lesen

Weil es sich bei David Frankfurter um eine echte Neuentdeckung für den deutschsprachigen Raum handelt. Und weil sich damit eine Lücke schließt, die die offizielle deutsche Erinnerungskultur zwischen der Pogromnacht vom 9. November 1938 und der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 lässt.

[mc]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945

Mein ist die Rache

/ 1943

Genau genommen fällt die erste Empfehlung auf der Liste gleich mal aus dem Rahmen, denn die Novelle erschien bereits 1943. Umso beachtlicher ist es, wie Friedrich Torberg, ein österreichischer Jude im amerikanischen Exil, in seinem Text über ein fiktives Konzentrationslager lange vor Kriegsende und dem Bekanntwerden des ganzen Ausmaßes der deutschen Verbrechen die Frage nach dem »Danach« stellt. In »Mein ist die Rache« hat der sadistische Lagerkommandant Wagenseil seine besondere Freude daran, die jüdischen Gefangenen so lange zu quälen bis sie sich mit einem bereitliegenden Revolver das Leben nehmen. Intensiv wird in der Baracke darüber diskutiert, wie man sich als Jude im Angesicht von Grausamkeit und Gewalterfahrung richtig verhalten soll: selbst handeln oder auf Gottes Rache vertrauen? Als einer der Gefangenen den Revolver benutzt, um Wagenseil zu erschießen, gelingt ihm daraufhin auch die Flucht aus dem Lager. Doch sein Gewissen lässt ihm keine Ruhe, denn Rache ist dem gläubigen Juden verboten und als Rache deutet er seine Tat. In der bangen Hoffnung, er möge nicht der einzige Überlebende sein, sitzt er Tag für Tag am Pier von New Jersey und beobachtet die Schiffe.

 

Warum lesen

Weil kaum ein anderer literarischer Text sich so früh mit der ethisch-religiösen Dimension jüdischer Rache für die Shoah beschäftigt hat und weil Erstleser wie Arnold Schönberg oder Willi S. Schlamm der Meinung waren, »alle Deutschen« (Schönberg) müssten dieses Buch lesen bzw. es müsse als »Zwangslektüre« (Schlamm) in der Schule auferlegt werden.

Bester Satz: »Ich heiße Joseph Aschkenasy.«

[ssch]

Auf der Liste: Jüdische Rache

Auf der Suche nach Gerechtigkeit in der Literatur nach 1945