Die geheimste Erinnerung der Menschen

/ 2022

Wie der Autor selbst stammt der Protagonist Diégane aus dem Senegal und versucht in Paris sein Glück als Schriftsteller. Dabei stößt er auf Spuren des rätselhaften Schriftstellers T.C. Elimane, der Jahrzehnte zuvor ebenfalls aus dem Senegal nach Frankreich kam und dort einen Roman veröffentlichte. Autor wie Roman sind verschollen – doch durch Zufall kommt Diégane an ein Exemplar des Romans, ist zutiefst fasziniert und gerät auf der Suche nach Elimane in immer tiefere Schichten der Vergangenheit. In verschachtelten Erzählebenen erfährt die Leserin zwar mehr als Diégane selbst, dennoch bleibt vieles ungelöst und im Verborgenen. Ob der Roman vorrangig eine Kriminalgeschichte, eine Abrechnung mit Rassismus, Literaturelite und Kolonialismus, eine unglückliche Liebesgeschichte oder die Suche nach einem Zuhause und der eigenen Berufung auf drei Kontinenten ist, bleibt ebenfalls unklar. Eins wird jedoch deutlich: Ein Leben ohne Bücher und Literatur ist unvorstellbar.

 

Warum lesen?

In Frankreich wurde der Roman mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, es ist das erste Buch Sarrs, das auch auf Deutsch erscheint. Die Verfasserin dieser Zeilen hat die 448 Seiten des Romans an einem Nachmittag verschlungen und kann nur dazu ermutigen, sich ebenfalls in diese Geschichte zu stürzen!

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Schlachthaus 5 oder der Kinderkreuzzug

/ 2022

Ich gebe zu, ich muss mit der Gegenwartsliteratur ein wenig schummeln, denn in meiner Aktualitätenliste steht immer wieder dieser Klassiker, ja, muss dieser Klassiker von 1969 stehen: Kurt Vonneguts »Schlachthaus 5 oder der Kinderkreuzzug«. Es ist das Buch zur Stunde, in der wir (wer wir? – ja richtig, kein wir) uns seit über einem Jahr oder schon gar viel länger permanent befinden, und es überrascht nicht, dass sein Verlag es so fein von Gregor Hens neu übersetzen ließ. Ich erlebe es durchaus auch auf leidvolle Weise als literarischen Wiedergänger, aus der Perspektive eines Zeitspastikers erzählt, weil man nur durch seine Augen auf einen Krieg blicken kann, wo es kein Vorher und Nachher mehr gibt. Die Kontrolle über die eigene Lebensgeschichte ist in diesem Rahmen nicht mal mehr als Illusion zu halten. Vonnegut stellt in diesem Buch nicht weniger als die Frage nach dem Unfasslichen der »Wahrheit« angesichts des Krieges, einer Wahrheit der Bombardierung Dresdens 1944, eine Wahrheit des Vietnamkrieges, und er nimmt den telegraphisch-schizophrenen Stil des Planeten Tralfmador zur Hilfe, denn nur mit Außerirdischen ist diese Wahrheit zu erkunden, nur mit der äußersten Fiktion ist dem äußerstem Realen nahezukommen. Vielleicht hat das sogar mit der einfachen Aussage von Literatur als Herzensbildung zu tun. So it goes.

»Dieses Buch ist ein Reinfall« schreibt er »was abzusehen war, denn es wurde von einer Salzsäule geschrieben. Es fängt so an: Hört mal her: Billy Pilgrim hat sich aus dem Lauf der Zeit gelöst. Es endet so: Tschilp-tschilp?« Und das ist doch ein großartiges Versprechen, nicht?

Auf der Liste: Kein Vorwärtsgang

Oder?

/ 2021

Jetzt verstoße ich gegen ein eigenes Kriterium. Dieses kleine, großartige Buch habe ich für eine Moderation gelesen. Aber ich habe es auch für die Moderation vorgeschlagen, denn es ist eines der besten, kleinen, großartigen Bücher, die ich gelesen habe (und darunter sind auch Bücher aus der Zeit, als ich viele Bücher las). Es geht darum um Emanzipation, um eine Odyssee, aber auch darum, dass sich die Romanfiguren ihrer Figurenhaftigkeit bewusst werden und anschließend die Kontrolle über den Text übernehmen.

 

Warum lesen

Lesen für eine einmalige metafiktionale Erfahrung, Witz und Fressen.

Auf der Liste: Fünf Bücher aus den letzten siebeneinhalb Jahren