»broken german«

/ 2016

 

Tomer Gardis Roman fällt auf mehreren Ebenen aus dem Rahmen einer etablierten Sprache und Literatur und sorgt für zahlreiche Irritationen. Das von der Kritik kontrovers diskutierte, »fehlerhafte« Deutsch auf der einen Seite, die Figurenverwirrung, das Verschwimmen der Grenzen zwischen Fiktion und textinterner Realität, die Wendungen und Narrationsbrüche sowie die Vermischung verschiedener Textsorten auf der anderen Seite – all diese Besonderheiten des Romans zeigen, dass sowohl der Autor als auch sein Text diverse Austritte aus tradierten (Kultur-)Diskursen literarisch realisieren und zum Thema machen. Broken German erzählt in Form von kurzen, nicht chronologisch aufgebauten Episoden von einer Vielzahl von Figuren, die sich wie der unzuverlässige Erzähler in einem dezidiert (post)migrantischen Berlin bewegen und sich mit Fragen kultureller und sprachlicher Zugehörigkeiten auseinandersetzen.

Warum lesen?

Gardi und seine Erzählfiguren kommen gleichsam »von außen« in die deutsche Sprache und Literatur. Dabei geben sie ihre Außenseiterposition nicht preis, sondern machen gerade diese zu ihrer wesentlichen literarischen Waffe, mit der sie Möglichkeiten des Sprechens, Schreibens über Vergangenheit und Gegenwart erweitern und bereichern. Der die Normen der (Schrift-)Sprache missachtende Prosatext dekonstruiert das Paradigma der deutschen »Leitkultur« und unterläuft das »Reinheitsgebot« der Sprache als Garant einer gelungenen Integration.

[Anna Rutka]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»Vielleicht Esther«

/ 2014

 

Mit ihrem Debüt hat die 1970 in Kiew geborene Autorin ein faszinierendes Kaleidoskop autobiografischer Geschichten vorgelegt. Es handelt sich um ein Buch über den Versuch einer Rückkehr wie auch über das Reisen und Suchen in den Trümmerfeldern der eigenen jüdisch-ukrainischen Familiengeschichte. Die Nachverfolgung der weit verteilten Spuren dieser Geschichte führt die Erzählerin nicht nur in ihre Heimatstadt Kiew, in der auch die titelgebende – und auf dem Bachmann-Wettbewerb 2014 preisgekrönte – Episode über ihre von den Nazis ermordete jüdische Großmutter situiert ist, sondern ebenso nach Berlin, Warschau, Moskau, Odessa und Mauthausen. Petrowskaja hat ein sehr persönliches Buch geschrieben, doch finden sich darin auch allgemeine Erfahrungen, etwa der Recherche in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung, in höchst einprägsamer Weise dargestellt. Vor allem aber ist es ein Buch über den Zauber der Vermischung von Sprachen, insofern sich die Erzählerin immer wieder von sehr subjektiven Assoziationen russischer, ukrainische, griechischer und deutscher Begrifflichkeiten leiten lässt und hierbei in nachgerade zauberhafter Weise neue Formen des Sagens und Beschreibens findet.

Warum lesen?

Weil die Vielfalt der Zusammenhänge, Orte und Perspektiven, die Petrowskaja in ihrem Erstling zusammengefügt hat, immer wieder neue Lektürewege ermöglicht. Dies gilt gerade auch für ihre Sicht auf die Ukraine und Russland, die heute, in Zeiten eines weiteren erbitterten Krieges, eine Differenzierung des Blicks ermöglicht, wie sie im allgemeinen Schwarzweiß der Kriegsberichterstattung allzu schnell verloren zu gehen droht.

[Andree Michaelis-König]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

WTF Berlin

/ 2022

Die Autorin kommt aus Großbritannien und lebt seit 20 Jahren in Berlin. In WTF Berlin teilt sie ihre Beobachtungen aus 20 Jahren in herrlich witzigen, feministischen Texten. Wer bereits »Die schlechteste Hausfrau der Welt« oder ihre Kolumnen im Missy Magazin gelesen hat, weiß bereits, dass Jacinta Nandi so schreibt, dass man das Gefühl hat, neben ihr zu sitzen und ihr zu lauschen, wie sie schnell und schlagfertig mit Worten um sich wirft.

Im Unterschied zu ihren anderen beiden Büchern ist WTF Berlin auf Englisch geschrieben, was aber einen besonderen Reiz hat, wenn sie deutsche Begriffe erklärt. Die Reise beginnt bei »Abendbrot« und hangelt sich das Alphabet entlang wie in einem Wörterbuch: Von »Abtreibung« über »Erziehung« , »Migrationshintergrund«, »Reizwäsche“ und »Spielplatz« bis »Zecke“ und vielen anderen Begriffen dazwischen. Mehrdeutigkeiten, Übersetzungs- und Erklärungsverwirrungen und Entirrungen vom Feinsten! Auch wunderbar zum Vorlesen und Sich-Freuen über Jacinta Nandis Texte, die easy daherkommen, aber der »deep shit« steckt immer mit drin!

 

Warum lesen?

Jacinta Nandi erklärt uns Berlin – aber eigentlich greift der Titel viel zu kurz – sie erklärt deutsche Selbstverständlichkeiten so, dass man einerseits sehr viel lachen muss und sich andererseits fragt, warum zur Hölle einer selbst das bisher nicht aufgefallen ist.

Auf der Liste: Lieblingsbücher – Kritische Literatur muss nicht kompliziert sein!

Schlachthaus 5 oder der Kinderkreuzzug

/ 2022

Ich gebe zu, ich muss mit der Gegenwartsliteratur ein wenig schummeln, denn in meiner Aktualitätenliste steht immer wieder dieser Klassiker, ja, muss dieser Klassiker von 1969 stehen: Kurt Vonneguts »Schlachthaus 5 oder der Kinderkreuzzug«. Es ist das Buch zur Stunde, in der wir (wer wir? – ja richtig, kein wir) uns seit über einem Jahr oder schon gar viel länger permanent befinden, und es überrascht nicht, dass sein Verlag es so fein von Gregor Hens neu übersetzen ließ. Ich erlebe es durchaus auch auf leidvolle Weise als literarischen Wiedergänger, aus der Perspektive eines Zeitspastikers erzählt, weil man nur durch seine Augen auf einen Krieg blicken kann, wo es kein Vorher und Nachher mehr gibt. Die Kontrolle über die eigene Lebensgeschichte ist in diesem Rahmen nicht mal mehr als Illusion zu halten. Vonnegut stellt in diesem Buch nicht weniger als die Frage nach dem Unfasslichen der »Wahrheit« angesichts des Krieges, einer Wahrheit der Bombardierung Dresdens 1944, eine Wahrheit des Vietnamkrieges, und er nimmt den telegraphisch-schizophrenen Stil des Planeten Tralfmador zur Hilfe, denn nur mit Außerirdischen ist diese Wahrheit zu erkunden, nur mit der äußersten Fiktion ist dem äußerstem Realen nahezukommen. Vielleicht hat das sogar mit der einfachen Aussage von Literatur als Herzensbildung zu tun. So it goes.

»Dieses Buch ist ein Reinfall« schreibt er »was abzusehen war, denn es wurde von einer Salzsäule geschrieben. Es fängt so an: Hört mal her: Billy Pilgrim hat sich aus dem Lauf der Zeit gelöst. Es endet so: Tschilp-tschilp?« Und das ist doch ein großartiges Versprechen, nicht?

Auf der Liste: Kein Vorwärtsgang

Mensch ausser sich

/ 2022

Valère Novarinas Mensch »Ausser sich« ist ein Theatertext, der gleichzeitig wie bei ihm üblich weit darüber hinausgeht oder den Begriff des Theatertextes neu definiert. Ein Langgedicht könnte man auch sagen oder ein ausgeschriebener Raum mit Lücken. Er arbeitet mit Listen, Wiederholungen, Litaneien, vertraut auf die Kraft der Anrufung und die absurdesten ausgedachten Grammatiken und Namen. Man könnte freilich sagen, es melden sich Stimmen zu Wort, die ich sagen, aber hier klingt das so: »Ich war Erdarbeiter bei Hans Städtisch, Rausschmeißer bei Rohling, Club-Retter in Sommerfrisch, Aufspürer in München-Pasing, Gerichtsaufspürer bei den Leuten-Abdrängern«. Prekarisierte Figuren, die eben nicht einfach »ich« sagen können, an den Rand gedrängte, mit den Instanzen - transzendent oder real - Hadernde. Der französische Theaterautor, der mir wie eine Mischung aus Ernst Jandl und Elfriede Jelinek und Jean Dubuffet vorkommt, stellt eine aberwitzige Aufgabe für seinen Übersetzer Leopold von Verschuer dar, der hier mehr zu einem Koliteraten wird. Und man ist erstaunt, wie etwas gleichzeitig derart aus der Zeit gefallen wirken kann und gleichzeitig voll da, einen Raum schaffend, der jenseits narratologischer Üblichkeiten voller Spannung ist. Und es wundert nicht, dass wir darin 1624 fiktive grammatische Zeiten finden, darin »die ferne Gegenwart, das Futur Inaktiv, die Vordermöglichkeit und den Inkonditional, sowie den Verfallsdatal«.

Auf der Liste: Kein Vorwärtsgang

Sprache und Sein

/ 2020

Wer sind wir? Wir sind das Sprechen, wir sind die Kommunikation, wir – jede und jeder von uns – eine eigene mannigfaltige Welt, und wir sind aber auch die Perspektive eines Sprechers oder Sprecherin auf uns selbst, wir sind die, die Perspektiven bauen und das Sprechen benutzen als Weg zueinander und leider auch gegeneinander.

 

Warum lesen

Lesen, weil so ein kluges Plädoyer fürs Aufpassen beim Mundaufmachen.

Auf der Liste: Fünf Bücher aus den letzten siebeneinhalb Jahren