#Krieg
Das große Heft
/ 1986Wenn Jayne Anne Phillips die Beschwörerin der atmosphärischen Dichte ist, dann ist Agota Kristof die Sängerin des bloßen Skeletts. Wenn Thomas Brasch der Meister der Antinomie ist, dann kann Agota Kristof als diejenige bezeichnet werden, deren Genius es in diesem einen Buch gelingt, darüber hinauszugehen: sie beschreibt eine Amoralität, die sich solidarisch wendet; sie beschreibt eine nüchterne Grausamkeit, die sich als menschlich warm nachempfinden lässt; sie schreibt in der ersten Person Plural – und es gelingt.
Die Sommer
Leyla ist das Kind eines ezidischen Vaters, der mit 14 Jahren in die Kommunistische Partei Syriens eintrat, und einer deutschen Mutter. Gemeinsam gingen sie nach München, wo Leyla aufwächst. Jedes Jahr fährt sie mit ihrer Familie in den syrischen Teil Kurdistans, als Kind erlebt sie die Sommer im Dorf der Großmutter, später, als der IS große Teile Aleppos zerstört, betrachtet sie alles fassungslos aus der Ferne. Sie ist zerrissen zwischen Distanz und Verbundenheit mit den Orten ihrer Kindheit – sie kann nicht zusehen, wie ihre deutschen Freundinnen auf Facebook fröhlich Urlaubsbilder posten, während an anderen Orten Tag für Tag so Vieles zerstört wird. Ein Roman über die Liebe zu Orten, die durch Gewalt im Verschwinden begriffen sind, über die Wut und den Schmerz, der sich über Erinnerungen legt, zwischen dem Hier und Dort, dem Vergangenen und der Zukunft.
Warum lesen?
Leyla hat viele biographische Parallelen zur Autorin, auch sie verbrachte an der Seite ihrer Eltern viele Sommer in Kurdistan im Dorf ihrer Großmutter, auch das Geburtsjahr der Protagonistin ist an das der Autorin angelehnt. Ronya Othmann erinnert daran, dass wir alle miteinander verbunden sind und somit auch mitverantwortlich sind für die Welt, in der wir leben werden.
Schlachthaus 5 oder der Kinderkreuzzug
/ 2022Ich gebe zu, ich muss mit der Gegenwartsliteratur ein wenig schummeln, denn in meiner Aktualitätenliste steht immer wieder dieser Klassiker, ja, muss dieser Klassiker von 1969 stehen: Kurt Vonneguts »Schlachthaus 5 oder der Kinderkreuzzug«. Es ist das Buch zur Stunde, in der wir (wer wir? – ja richtig, kein wir) uns seit über einem Jahr oder schon gar viel länger permanent befinden, und es überrascht nicht, dass sein Verlag es so fein von Gregor Hens neu übersetzen ließ. Ich erlebe es durchaus auch auf leidvolle Weise als literarischen Wiedergänger, aus der Perspektive eines Zeitspastikers erzählt, weil man nur durch seine Augen auf einen Krieg blicken kann, wo es kein Vorher und Nachher mehr gibt. Die Kontrolle über die eigene Lebensgeschichte ist in diesem Rahmen nicht mal mehr als Illusion zu halten. Vonnegut stellt in diesem Buch nicht weniger als die Frage nach dem Unfasslichen der »Wahrheit« angesichts des Krieges, einer Wahrheit der Bombardierung Dresdens 1944, eine Wahrheit des Vietnamkrieges, und er nimmt den telegraphisch-schizophrenen Stil des Planeten Tralfmador zur Hilfe, denn nur mit Außerirdischen ist diese Wahrheit zu erkunden, nur mit der äußersten Fiktion ist dem äußerstem Realen nahezukommen. Vielleicht hat das sogar mit der einfachen Aussage von Literatur als Herzensbildung zu tun. So it goes.
»Dieses Buch ist ein Reinfall« schreibt er »was abzusehen war, denn es wurde von einer Salzsäule geschrieben. Es fängt so an: Hört mal her: Billy Pilgrim hat sich aus dem Lauf der Zeit gelöst. Es endet so: Tschilp-tschilp?« Und das ist doch ein großartiges Versprechen, nicht?
Von Rache und Regen
/ 2019Juretzkis Fantasyroman führt in die Eisenzeit einer fiktiven Welt. Hier ist Krieg das prägende Element – doch in diesem Krieg wurde etwas entfesselt, das Tote zu Zombies erweckt. Protagonist Riagh gehört zu einem von den imperialen Legionen eroberten Volk und wurde selbst Soldat. Doch er hat bereits zu Beginn des Buchs eine Desertation hinter sich. Sein Ziehbruder, mit dem ihn mehr als brüderliche Liebe verband, starb auf der Flucht, und Riagh schleppt schwer an seiner Trauer und seinem Zorn. Auf dem Weg zu seiner Verlobten Anryn muss er ein Land durchqueren, das sich nicht nur im Griff des allgegenwärtigen Regens, sondern neuerdings auch der Untoten befindet. Als er Zeuge von Selbstjustiz durch die noch menschlichen Bewohnenden wird, greift er ein und rettet den verfeindeten Nekromanten Nuzar. Nuzars Sprache verwendet das generische Femininum, was ebenso wie Riaghs auf Regen basierende Kultur zu einer faszinierend vielschichtigen und detailreichen Welt beiträgt, durch die die beiden ungleichen Hauptfiguren sich schlagen müssen.
Warum lesen
Wie Riagh versucht, Schuld, Wut und gleichzeitig seiner eigenen internalisierten Queerfeindlichkeit und seinen Gefühlen für Nuzar Herr zu werden, hält einige der bestgeschriebenen emotionalen Szenen der letzten Phantastik-Jahre bereit. Auch die Migrations- und Umbenennungserfahrung der in Polen geborenen Autorin und Religionswissenschaftlerin findet sich im Roman, der immer wieder einen Spiegel in Richtung der Dominanzkultur bereithält.
Die Götter müssen sterben
/ 2021Nora Bendzko hat mit ihrem Verlagsdebüt bei Droemer Knaur einen blutigen, kraftvollen, facettenreichen Roman über Amazonen in der Zeit des Trojanischen Kriegs verfasst. Als Amazonen den verhassten Ehemann der Hellenin Areto töten, schließt diese sich ihnen an. Obwohl sie keine Kriegerin ist und oft in der Düsternis ihrer eigenen Seele versinkt, wird sie von Artemis auserwählt, die Amazonen in ein neues Zeitalter zu führen – wenn Troja erst gefallen ist, werden es die Amazonen sein, die endlich herrschen. Nach und nach finden Aretos Verbündete heraus, dass Göttern nicht zu trauen ist. mehr
»Die Götter müssen sterben« ist einer der Eckpfeiler der Progressiven Phantastik: Der kritische Blick auf Patriarchat, aber auch auf ein Matriarchat, das ebenfalls Krieg und Versklavung über seine Feind*innen bringt, ergänzt sich zur brutalen, kompromisslosen, klugen, modernen Adaption einer alten Sage um weibliches Empowerment.
Warum lesen
Bendzko gelingt es, antike Motive direkt in die Gegenwart zu erzählen und dabei die Waage zwischen feministischer Power-Fantasy und machtkritischem Hintersinn zu halten. Das klassische Setting der griechischen Mythologie hat zudem sowohl Schau- als auch Wiedererkennungswert und lässt Leser*innen das Neue inmitten des Altbekannten noch einmal mehr wertschätzen.