Soziale Kämpfe in Westberlin und Westeuropa
Während der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts sowie einige Ergänzungen und Ausblicke
Die angeführten Romane stellen zwar wesentlich auf die fraglichen Kämpfe während der 70er und 80er Jahre ab, die bislang letzte Epoche, in denen die Linke versucht hat, anzugreifen und so die Verhältnisse immerhin partiell zum Tanzen zu bringen, greift aber darüber hinaus.
Weil es sich um eine sehr subjektive literarische Geschichte der thematisierten Erhebungen, revolutionären Versuche und Revolten handelt – die jedoch, so die Hoffnung, einen wenn auch vagen Bogen des letzten „roten Zyklus“ schlagen –, beginne ich, wie es sich für eine geschichtlichen Abriss gehört, mit zwei Vorgriffen, Büchern von Anna Seghers, die vor und während des 2. Weltkriegs spielen und zum einen („Die Gefährten“) die Niederschlagung der großen Hoffnung thematisieren, zum anderen den Versuch einer Behauptung im Feld der maximalen Konterrevolution, der KZ-Gesellschaft.
Hinzukommen zwei bis drei Hinweise auf Bücher, die nicht nur auf formale Aspekte abheben, sondern auch andere gesellschaftliche Kontexte anreißen: den US-amerikanischen und den des gewesenen Ostblocks.
Insgesamt gilt für die vorgestellten Bücher, dass sie fraglos auch jedes für sich gelesen werden können – was spräche dagegen? –, in ihrer Gesamtheit jedoch den Kern dessen darbieten, was mich literarisch motiviert hat.
Objektive Aspekte ließen sich gewiss finden, waren für mein persönliches Lesen – für das, was mich an Literatur wohl inspiriert hat – jedoch kaum von Interesse.
Das siebte Kreuz
/ 1942Nicht ganz so grandios wie das frühere Buch „Die Gefährten“, aber berühmter, weil individualistischer. Geschildert wird die Flucht eines Gefangenen aus dem KZ. Er, als einziger von sieben, überlebt – nicht, weil politisch „bewusste“ Genossen ihm zur Seite stehen, sondern, weil ein ehemaliger Kamerad aus der Jugendzeit ihn rettet. mehr
(Bonus: „Der Aufstand der Fischer von St. Barbara“ – wegen des genialen Satzes zu Beginn, der ein umfassendes Verstehen der Revolte zum Ausdruck bringt: „Aber längst, nachdem die Soldaten zurückgezogen, die Fischer auf See waren, saß der Aufstand noch auf dem leeren, weißen, sommerlich kahlen Marktplatz und dachte ruhig an die Seinigen, die er geboren, aufgezogen, gepflegt und behütet hatte für das, was für sie am besten war.“)
Die Gefährten
/ 1932Roman über die Niederschlagung der ungarischen Räterepublik im Sommer 1919, vor allem aber über die Exilsituation der geflüchteten Revolutionäre in verschiedenen großen Städten Europas. Grandios in der Beschreibung von deren Verlorenheit – und dem existentiellen Widerstehen in aussichtsloser Situation. Interessant, da der eigentliche Protagonist des Romans ein kollektiver ist, die kommunistische Partei, genauer: das Kollektiv der Kämpfer im Exil.
Das Brot mit der Feile
/ 1973Ein Roman, der insbesondere an der (sub-)proletarischen Figur Ahlers die Zeit in der vergangnen Bundesrepublik zwischen 1956 (KP-Verbot) und der Baader-Befreiung 1970 thematisiert, d.h.: die Jahre der illegalen KP bis zur Geburt der RAF. Damit bereitet Christian Geissler vor, was er in seinem Hauptwerk »kamalatta« zum Austrag bringen wird: die Behandlung der Frage, ob die Rote Armee Fraktion als Fortführung der bewaffnet kämpfenden KP Anfang der 1930er Jahre verstanden werden kann und muss.
kamalatta
/ 1988Als »romantisches Fragment« und über weite Strecken zu lesen wie ein Gedicht ist der über 500 Seiten starke Roman ganz und gar der Befragung von Sinn und Zweck bewaffneter Politik kleiner Gruppen (»minoritärer Reflexe«) in den Metropolen gewidmet. Inwieweit die Reflexion einer nur noch moralisch begründeten Politik, wie sie heute von der sogenannten Linken favorisiert wird, darin mit vorausschauender Absicht zum zentralen Thema wird, lässt sich kaum beantworten; das Elend der heutigen Linken ist indes schon spürbar. mehr
(Bonus: »Wird Zeit, daß wir leben«. Etwas zu viel Kommunisten-Gedöns; aber als in den 1930er Jahren angesiedelte Vorgeschichte der beiden erwähnten Romane durchaus interessant.)
Wir wollen alles
/ 1971Roman über die Fabrikkämpfe in Turin 1969. Sprachlich etwas hölzern, formal großartig (weil der individuelle Protagonist am Ende im »Wir« der umfassenden Erhebung aufgeht). Inhaltlich unschlagbar, weil eine (vielleicht letzte) zu Teilen erfolgreiche Arbeiterrevolte – Arbeiter, die zugleich subproletarische Migranten (aus Süditalien) sind – in Westeuropa geschildert wird und die damit notwendig einhergehende Militanz der Akteure keineswegs ausgespart, sondern durchaus betont wird.
Die Unsichtbaren
/ 2001Markiert das Ende des „roten Zyklus‘“ Ende der 1970er Jahre und ist Balestrinis bestes Buch, das parallel, als Gegenschnitt-Montage, retrospektiv die Politisierung des jugendlichen Protagonisten erzählt und, gegenwärtig, einen Knastaufstand, in den er verwickelt ist und der mit einer Brutalität niedergeschlagen wird, die der Leser in Westeuropa nach dem 2. Weltkrieg nicht für möglich gehalten hätte. Formal, als Vorgriff auf ein weiteres Meisterwerk – „Die Wütenden“ –, ohne Satzzeichen in Gestalt kurzer Abschnitte komponiert, die Strophen antiker Gesänge ähneln. mehr
(Bonus: „Der Verleger“; ein experimentell angelegter Roman über Giangiacomo Feltrinelli, den legendären Verleger Italiens und Gründer besagten Verlags, und seinen umstrittenen Tod unter einem Strommast bei Mailand.)
Mauser / Philoktet
/ 1970Heiner Müller, der sicherlich relevanteste Dramatiker der DDR und grandiose Nachfolger Brechts, der seinen Vorgänger insofern an Qualität überragt, als er insbesondere in den späteren Stücken auf jede Moral und jede Botschaft verzichtet: »Mauser“; aber auch »Philoktet«. Die »Versuche zum Lehrstück« sind insofern enorm bemerkenswert, als Heiner Müller das Brechtsche Lehrstück seiner Botschaft – und damit seiner Lüge – entkleidet und die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv, essentiell für jede linke Bewegung, nackt, weil sowohl unbeantwortet wie wohl unbeantwortbar, im kahlen, frostigen Raum stehen lässt.
Die schöne Schrift
/ 1999Ein schmales Buch, in dem eine alte Frau, nicht lange, bevor sie stirbt, anhand des titelgebenden Motivs vom Spanischen Bürgerkrieg berichtet und den in ihre Familie tief eingreifenden Friktionen dieser Geschehen. Herausragend in seiner Geschlossenheit.
Der Fall von Madrid
/ 2000Exemplarischer Roman von überragender sprachlicher Kraft über die Unfähigkeit der Linken, sich (wie so oft) den historischen Augenblick zunutze zu machen, obwohl sie – nach dem Tod Carrero Blancos durch ein Attentat der ETA – hätten wissen können und müssen, dass das erwartbare Ableben Francos 1975 ihnen eine Chance in die Hände spielt. (Bonus: »Der lange Marsch«; Langversion über den Spanischen Bürgerkrieg des Meisters aus Valencia.)
Die kalte Haut der Stadt
/ 1991Ein multiperspektivischer Roman über die sozialen Kämpfe vor allem – aber nicht nur – im Westberlin der 80er Jahre. Die Erzählung setzt ein mit der Niederlage der Hausbesetzerbewegung und dem damit einhergehenden Tod eines Demonstranten am 22. September 1981. Zwar nicht das Ende, aber den abschließenden Fluchtpunkt sozialer Kämpfe, in deren Zentrum – noch einmal – materielle Interessen und nicht symbolisch-moralische Invektiven stehen, markiert der Aufstand vom 1. Mai 1987, in dessen Folge größere Teile Kreuzbergs von den Revoltierenden kontrolliert und gegen die Polizeikräfte verteidigt worden sind.
Träumer des Absoluten
/ 2008Roman einer Radikalisierung, der einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren umfasst. Tariq, die zentrale Figur, gebürtig im Libanon, orientiert an Tarek Mousli (unterdessen mit neuem Namen), wird, beginnend in frühester Jugend, alle Phasen einer linken Politisierung durchlaufen, bis er sich, verblendet vom Trugbild vermeintlicher Identität, auf seine Herkunft zu besinnen glaubt und sich, schlussendlich, den Militanten des politischen Islam zuwendet. mehr
(Bonus: »zum beispiel k.«; schmaler Roman einer exemplarischen Figur aus der Besetzer-Bewegung der frühen 80er Jahre; kann als Prolog zu »Die kalte Haut der Stadt« gelesen werden.)
Vor den Vätern sterben die Söhne
/ 1997Mit einiger Gewissheit einer der größten Texte, die in den letzten fünfzig Jahren verfasst worden sind. Nicht nur ist Thomas Brasch ein Genie der – einfachen – Form, es gelingt ihm auch, ohne ausführlich werden zu müssen, die Tragik eines unauflöslichen Dilemmas in Literatur zu gießen. In diesem Buch schwingt in jeder Zeile zugleich die Trauer über die Unmöglichkeit einer Verwirklichung der sozialistischen Idee wie auch der brennende Wunsch nach eben dieser Realisierung mit, alles gerahmt von einer existentiellen Situation, der Flucht in den Tod, und grundiert von einer vernichtenden Kritik an einem hanebüchen absurden Staat namens DDR. mehr
(Bonus: »Kargo – 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen« ; ähnlich geniale Fragmente; ebenfalls oft dem nicht auflösbaren Widerspruch verpflichtet sind.)
Das himmlische Tier / Überholspur
/ Das himmliche Tier (1979) / Überholspur (1987)Wer etwas über Atmosphäre und deren Darstellung erfahren resp. lernen möchte, sollte insbesondere die Erzählungen von Jayne Anne Phillips lesen (»Das himmlische Tier«; »Überholspur«). Faulkner, immerhin Nobelpreisträger, fällt verblüffend gegen sie ab. mehr
(Bonus: »Maschinenträume«, der Roman zu den literarischen Formen, die sie früh entwickelt und zur Vollkommenheit getrieben hat.)
Das große Heft
/ 1986Wenn Jayne Anne Phillips die Beschwörerin der atmosphärischen Dichte ist, dann ist Agota Kristof die Sängerin des bloßen Skeletts. Wenn Thomas Brasch der Meister der Antinomie ist, dann kann Agota Kristof als diejenige bezeichnet werden, deren Genius es in diesem einen Buch gelingt, darüber hinauszugehen: sie beschreibt eine Amoralität, die sich solidarisch wendet; sie beschreibt eine nüchterne Grausamkeit, die sich als menschlich warm nachempfinden lässt; sie schreibt in der ersten Person Plural – und es gelingt.
Zuletzt aktualisiert: 06.09.2023
Michael Wildenhain ist 1958 in Berlin geboren, wo er auch heute lebt. Nach einem Philosophie- und Informatikstudium engagierte er sich in der Hausbesetzerszene - Stoff u. a. für seine ersten literarischen Veröffentlichungen: »zum beispiel k.«, »Prinzenbad« und »Die kalte Haut der Stadt«. Für sein literarisches Schaffen wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Alfred-Döblin-Preis, dem Ernst-Willner-Preis, dem Stipendium der Villa Massimo sowie dem London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds. »Das Lächeln der Alligatoren« war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Brandenburger Kunstpreis ausgezeichnet.
Wildenhain schrieb mehrere Theaterstücke, von denen 2012 ein Auswahlband erschienen ist. Sein Roman »Das Singen der Sirenen« (2017) war für den Deutschen Buchpreis nominiert, 2018 würdigte das Literaturforum im Brecht-Haus sein Gesamtwerk mit einem Symposium. Zuletzt erschien sein Roman »Die Erfindung der Null«.