Buchcover des Buches „Vor den Vätern sterben die Söhne“ von Thomas Brasch
Buchcover des Buches „Vor den Vätern sterben die Söhne“ von Thomas Brasch

Vor den Vätern sterben die Söhne

/ 1997

Mit einiger Gewissheit einer der größten Texte, die in den letzten fünfzig Jahren verfasst worden sind. Nicht nur ist Thomas Brasch ein Genie der – einfachen – Form, es gelingt ihm auch, ohne ausführlich werden zu müssen, die Tragik eines unauflöslichen Dilemmas in Literatur zu gießen. In diesem Buch schwingt in jeder Zeile zugleich die Trauer über die Unmöglichkeit einer Verwirklichung der sozialistischen Idee wie auch der brennende Wunsch nach eben dieser Realisierung mit, alles gerahmt von einer existentiellen Situation, der Flucht in den Tod, und grundiert von einer vernichtenden Kritik an einem hanebüchen absurden Staat namens DDR. mehr

(Bonus: »Kargo – 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen« ; ähnlich geniale Fragmente; ebenfalls oft dem nicht auflösbaren Widerspruch verpflichtet sind.)

 

Auf der Liste: Soziale Kämpfe in Westberlin und Westeuropa

Während der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts sowie einige Ergänzungen und Ausblicke

New York Ghost

/ 2021
Severance / 2018

Langeweile

Candace Chen ist eine second generation Chinese American in ihren Zwanzigern, die in New York für einen Bücherverlag in der Koordination und Logistik arbeitet – wobei sie in der Bibelabteilung angestellt ist, die abhängig von den Wünschen der Kunden unterschiedlich teure, komplexe, und mehr oder weniger verzierte Bibel-Sondereditionen produziert. Candace koordiniert die supply chains, die Lieferketten unserer globalisierten Wirtschaftsordnung, dieser Bibelproduktion. Die »Daily Grace Bibel« zum Beispiel (»an everyday Bible for casual use«) wird in Shenzhen in China produziert, nach Hong Kong transportiert, von da per Schiff nach Los Angeles, per Zug nach Texas, und von dort aus per LKW zu den Einzelhändlern. Entlang dieser Lieferketten verbreitet sich nun von Shenzhen aus ein Virus, der im Verlaufe des Buches zum zivilisatorischen Kollaps Amerikas führt. Infizierte Menschen agieren dabei ähnlich lethargisch wie Zombies, und verfallen in kompulsiv wiederholte Routinen – immer wieder decken Sie beispielsweise den Esstisch, essen eine Portion nichts, räumen den Tisch wieder ab, und fangen das ganze von vorne an. Die Gefühlswelt von Candace ist vor, während, und nach dem Zombie-Weltuntergang aber eigentlich immer gleich: vage unzufrieden mit ihrer Beziehung, ihren Freunden, und ihrer Familie. Tendenziell ist sie am wenigsten unglücklich, wenn sie sich ihrer ganz und gar unleidenschaftlichen Arbeit in der Bibellogistik widmen kann. Das Buch erhielt 2018 zahlreiche Preise, und erfuhr 2020 im Verlauf der Coronapandemie ähnlich wie Albert Camus’ Die Pest eine erneute Popularität – obwohl die Pandemie in New York Ghost primär die Form einer Zombieapokalypse annimmt. Durch die gefühlte Langsamkeit der Erzählung lässt sich der Roman aber auch gut im Kontext des Klimawandels lesen.

 

Warum Lesen?

Es geht im Buch viel um Nostalgie, Routinen, zwanghafte Wiederholungen – und um Langeweile. Ma hat in Interviews erklärt, dass ihr während ihres Schreibstudiums nahegelegt wurde, doch am besten einen von ihren eigenen Lebenserfahrungen informierten »traditionellen Immigrationsroman« zu schreiben. Weil ihr das abgedroschen schien, verband sie das ganze mit einer den Filmen George Romeros angelehnten Zombiegeschichte, was super funktioniert. Aber am besten sind ironischerweise vielleicht die Abschnitte des Romans, die sich mit Candaces ganz und gar eintöniger Arbeit im Supply-Chain-Management widmen: Wenn eine Katastrophe sich so langsam entwickelt, dass man erstmal weiterhin zur Arbeit muss, dann fühlt man mitunter wohl nicht nur Verzweiflung und Trauer, sondern auch Langeweile und Desinteresse oder eben auch: garnichts, eine innere Leere.

Auf der Liste: Klimaangst und Literatur