#Berlin


»broken german«
/ 2016
Tomer Gardis Roman fällt auf mehreren Ebenen aus dem Rahmen einer etablierten Sprache und Literatur und sorgt für zahlreiche Irritationen. Das von der Kritik kontrovers diskutierte, »fehlerhafte« Deutsch auf der einen Seite, die Figurenverwirrung, das Verschwimmen der Grenzen zwischen Fiktion und textinterner Realität, die Wendungen und Narrationsbrüche sowie die Vermischung verschiedener Textsorten auf der anderen Seite – all diese Besonderheiten des Romans zeigen, dass sowohl der Autor als auch sein Text diverse Austritte aus tradierten (Kultur-)Diskursen literarisch realisieren und zum Thema machen. Broken German erzählt in Form von kurzen, nicht chronologisch aufgebauten Episoden von einer Vielzahl von Figuren, die sich wie der unzuverlässige Erzähler in einem dezidiert (post)migrantischen Berlin bewegen und sich mit Fragen kultureller und sprachlicher Zugehörigkeiten auseinandersetzen.
Warum lesen?
Gardi und seine Erzählfiguren kommen gleichsam »von außen« in die deutsche Sprache und Literatur. Dabei geben sie ihre Außenseiterposition nicht preis, sondern machen gerade diese zu ihrer wesentlichen literarischen Waffe, mit der sie Möglichkeiten des Sprechens, Schreibens über Vergangenheit und Gegenwart erweitern und bereichern. Der die Normen der (Schrift-)Sprache missachtende Prosatext dekonstruiert das Paradigma der deutschen »Leitkultur« und unterläuft das »Reinheitsgebot« der Sprache als Garant einer gelungenen Integration.
[Anna Rutka]


Träumer des Absoluten
/ 2008Roman einer Radikalisierung, der einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren umfasst. Tariq, die zentrale Figur, gebürtig im Libanon, orientiert an Tarek Mousli (unterdessen mit neuem Namen), wird, beginnend in frühester Jugend, alle Phasen einer linken Politisierung durchlaufen, bis er sich, verblendet vom Trugbild vermeintlicher Identität, auf seine Herkunft zu besinnen glaubt und sich, schlussendlich, den Militanten des politischen Islam zuwendet. mehr
(Bonus: »zum beispiel k.«; schmaler Roman einer exemplarischen Figur aus der Besetzer-Bewegung der frühen 80er Jahre; kann als Prolog zu »Die kalte Haut der Stadt« gelesen werden.)


Die kalte Haut der Stadt
/ 1991Ein multiperspektivischer Roman über die sozialen Kämpfe vor allem – aber nicht nur – im Westberlin der 80er Jahre. Die Erzählung setzt ein mit der Niederlage der Hausbesetzerbewegung und dem damit einhergehenden Tod eines Demonstranten am 22. September 1981. Zwar nicht das Ende, aber den abschließenden Fluchtpunkt sozialer Kämpfe, in deren Zentrum – noch einmal – materielle Interessen und nicht symbolisch-moralische Invektiven stehen, markiert der Aufstand vom 1. Mai 1987, in dessen Folge größere Teile Kreuzbergs von den Revoltierenden kontrolliert und gegen die Polizeikräfte verteidigt worden sind.


Avantgarde
/ 1963Die Autorin war 61 Jahre alt, als sie 1962 schreibend die Zwanziger Jahre auferstehen lässt und sich an Brecht erinnert, als der Person, die für ihr eigenes Schaffen so zentral war: »Brecht war schon sechs Jahre tot, ich war allein, ich wollte ihn mir ins Leben zurückrufen und habe ihn im Schreiben sehr nah an mich herangezogen, es war wie eine Beschwörung…«. Die Geisterbeschwörung zeigt die junge Schriftstellerin Cilly Ostermeier in der riesigen, kalten Stadt Berlin, die dort eine Beziehung eingeht zu einem »Genie«, einem »Dompteur«: »Der Mann war eine Potenz, er brach sie sofort.« Aber auch: »Der Dichter stellte ihre Arbeit großzügig heraus, interessierte die richtigen Männer dafür, man begann von ihr zu wissen.« Cillys Sehnsüchte und Liebeswünsche finden keine Erfüllung und der vom Dichter inszenierte Theaterskandal, den sie ausbaden muss, bringt das Fass zum Überlaufen: „Auskommen ohne ihn mußte sie lernen, der Weg lief anders ab heut. Sie hatte ihr persönliches Leben und wenn nicht in seinem Glanz, dann ohne den Glanz.“ Klingt neusachlich, meint aber einen lebenslangen Schmerz.
Warum lesen?
Ver- und Entzauberung: Die turbulente Weimarer Republik, das aufregende Berlin, die künstlerischen Avantgarden und die hedonistischen Bohemiens – in Fleißers Rückblick werden die glänzenden Bilder heruntergebrochen auf eine Chiffre, die den Preis der weiblichen Emanzipation benennt und zum Schlagwort wurde: »die Fröste der Freiheit«.


WTF Berlin
/ 2022Die Autorin kommt aus Großbritannien und lebt seit 20 Jahren in Berlin. In WTF Berlin teilt sie ihre Beobachtungen aus 20 Jahren in herrlich witzigen, feministischen Texten. Wer bereits »Die schlechteste Hausfrau der Welt« oder ihre Kolumnen im Missy Magazin gelesen hat, weiß bereits, dass Jacinta Nandi so schreibt, dass man das Gefühl hat, neben ihr zu sitzen und ihr zu lauschen, wie sie schnell und schlagfertig mit Worten um sich wirft.
Im Unterschied zu ihren anderen beiden Büchern ist WTF Berlin auf Englisch geschrieben, was aber einen besonderen Reiz hat, wenn sie deutsche Begriffe erklärt. Die Reise beginnt bei »Abendbrot« und hangelt sich das Alphabet entlang wie in einem Wörterbuch: Von »Abtreibung« über »Erziehung« , »Migrationshintergrund«, »Reizwäsche“ und »Spielplatz« bis »Zecke“ und vielen anderen Begriffen dazwischen. Mehrdeutigkeiten, Übersetzungs- und Erklärungsverwirrungen und Entirrungen vom Feinsten! Auch wunderbar zum Vorlesen und Sich-Freuen über Jacinta Nandis Texte, die easy daherkommen, aber der »deep shit« steckt immer mit drin!
Warum lesen?
Jacinta Nandi erklärt uns Berlin – aber eigentlich greift der Titel viel zu kurz – sie erklärt deutsche Selbstverständlichkeiten so, dass man einerseits sehr viel lachen muss und sich andererseits fragt, warum zur Hölle einer selbst das bisher nicht aufgefallen ist.


Ede und Unku
/ 1931/2005Anfang der 1930er Jahre lernen sich der Arbeiterjunge Ede und das ‘Zigeunermädchen’ Unku auf einem Rummelplatz kennen und werden Freunde. Ede wird in Unkus Familie herzlich aufgenommen. Umgekehrt aber funktioniert das nicht. Edes Eltern verbieten ihm die Freundschaft mit Unku sowie mit seinem Freund Maxe, dessen Vater bei den Sozialisten aktiv ist. Als Edes Vater arbeitslos wird, erklärt Maxes Vater den beiden Jungen mit einer Parabel die Gründe für Arbeitslosigkeit und die Ausbeutung der Arbeiterklasse. Später verhilft Maxes Mutter Ede zu einer Arbeit, mit der er seine Familie unterstützen kann. Als es bei der AEG einen Streik gibt, an dem auch Maxes Vater teilnimmt, wird Edes Vater, ohne sich darüber im Klaren zu sein, als Streikbrecher angeheuert. Die drei Kinder verstecken Maxes Vater auf der Flucht vor der Polizei zunächst bei Unkus Familie und dann bei Ede. In einem ‘Showdown’ kommt es zum Kennenlernen und zur Freundschaft der Familien untereinander. mehr
Warum lesen?
Eine “Emil und die Detektive”- Geschichte aus sozialistischer Perspektive. Politische Themen (Diskriminierung, Streik, Sozialismus) werden hier spannend und humorvoll erzählt. Das Berlin der 1930er Jahre wird lebendig.