Elke Brüns

Der Apfel

/ 1925, überarbeitet 1972

Die Erzählung, 1925 erschienen, ist eine von Fleißers frühen Texten, umfasst nur wenige – vier, fünf – Seiten und dreht sich um einen sehr unscheinbaren Gegenstand, den titelgebenden Apfel. Die Geschichte ist diese: Ein sehr armes Mädchen bekommt unerwartet von einer Freundin zwei Äpfel geschenkt. Einen wird sie essen, den anderen will sie ihrem Freund schenken. Was danach passiert, ist abgrundtief traurig und soll hier nicht verraten werden, nur so viel: Fleißers transformiert die schöne Geste des Schenkens und Liebens zur bitteren Lektion für das Mädchen: »Man nannte erwachsen, wem ein Licht aufgegangen war über die natürliche Feindschaft unter den Menschen.« Der Apfel der Erkenntnis: Hier schmeckt er sehr bitter.

 

Warum lesen?

Einstiegsdroge: Schon dieser frühe Text offenbart Fleißers meisterhafte Fähigkeit, aus den allerkleinsten Begebenheiten ein Drama existentieller Dimension zu entfalten.

Eine Zierde für den Verein

/ 1972
Mehlreisende Frieda Geier. Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen. / 1931

Neue Frauen gab es einige in der Weimarer Republik und sie tummelten sich vornehmlich in Berlin. Fleißers einziger Roman »Mehlreisende Frieda Geier« hingegen spielt in der bayerischen Provinz, durch die die titelgebende Protagonistin in ihrem Wagen, dem Laubfrosch tourt, um ihre Ware an den Mann zu bringen. Zuhause wartet der Tabakwarenhändler und Sportschwimmer Gustl, dem diese Emanzipationsbewegungen nicht geheuer sind und der sie gerne an die kurze Leine legen möchte. Frieda Geier macht, was Fleißer nicht tat: Sie trennt sich von ihrem Freund, das biographische Vorbild hingegen wurde Fleißers Ehemann, mit ihm lebte die Autorin »angehängt wie einen Kettenhund«. Fleißer überarbeitete den Roman später unter dem Titel »Eine Zierde für den Verein« und fokussierte damit den männlichen Protagonisten – schade eigentlich.

 

Warum lesen?

Genussmittel: Die Aufzählung im Untertitel – »Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen« – benennt die sinnlich-erotische Dimension, die Fleißer gemeinsam mit der ökonomischen als Grundlage weiblicher Emanzipation in Szene setzt.

Fegefeuer in Ingolstadt

/ 1926

Fleißers erstes Drama, uraufgeführt 1926 im Deutschen Theater Berlin, sollte ursprünglich »Die Fußwaschung« heißen und das hätte auch gut gepasst für dieses Stück, das, so die Autorin, aus dem »Zusammenprall meiner katholischen Klostererziehung und meiner Begegnung mit Feuchtwanger und den Werken Brechts« entstand. Es geht um eine Gruppe junger Gymnasiasten; Bausteine des Dramas sind: Liebe und Verachtung, eine Engelmacherin und eine Engelsanrufung, Gestank und Wässerungen, Selbstmordversuche und eingestochene Hundeaugen. Nicht zu vergessen: die unheimlichen Figuren Protasius und Gervasius, von denen niemand weiß, ob sie in den imaginierten Himmel oder das erlebte Fegefeuer gehören.

 

Warum lesen?

Erkenntnisgewinn: Fleißer nannte »Fegefeuer« ein Stück über das »Rudelgesetz« – wer wissen möchte, wie dieses unter Menschen funktioniert, lernt hier die Regeln kennen.

Avantgarde

/ 1963

Die Autorin war 61 Jahre alt, als sie 1962 schreibend die Zwanziger Jahre auferstehen lässt und sich an Brecht erinnert, als der Person, die für ihr eigenes Schaffen so zentral war: »Brecht war schon sechs Jahre tot, ich war allein, ich wollte ihn mir ins Leben zurückrufen und habe ihn im Schreiben sehr nah an mich herangezogen, es war wie eine Beschwörung…«. Die Geisterbeschwörung zeigt die junge Schriftstellerin Cilly Ostermeier in der riesigen, kalten Stadt Berlin, die dort eine Beziehung eingeht zu einem »Genie«, einem »Dompteur«: »Der Mann war eine Potenz, er brach sie sofort.« Aber auch: »Der Dichter stellte ihre Arbeit großzügig heraus, interessierte die richtigen Männer dafür, man begann von ihr zu wissen.« Cillys Sehnsüchte und Liebeswünsche finden keine Erfüllung und der vom Dichter inszenierte Theaterskandal, den sie ausbaden muss, bringt das Fass zum Überlaufen: „Auskommen ohne ihn mußte sie lernen, der Weg lief anders ab heut. Sie hatte ihr persönliches Leben und wenn nicht in seinem Glanz, dann ohne den Glanz.“ Klingt neusachlich, meint aber einen lebenslangen Schmerz.

 

Warum lesen?

Ver- und Entzauberung: Die turbulente Weimarer Republik, das aufregende Berlin, die künstlerischen Avantgarden und die hedonistischen Bohemiens – in Fleißers Rückblick werden die glänzenden Bilder heruntergebrochen auf eine Chiffre, die den Preis der weiblichen Emanzipation benennt und zum Schlagwort wurde: »die Fröste der Freiheit«.

Der Heinrich Kleist der Novellen (1927), Meine Biographie (1972)

Diese, mit großem Zeitabstand erschienenen Texte, repräsentieren Fleißers Leben und Werk wie in einem Kaleidoskop: »Meine Biographie« verdichtet Fleißers Lebenslauf zu großer Dringlichkeit, mit Kleist scheint sie eine Spiegelungs- und Reflexionsfigur auch für das eigene Schreiben gefunden zu haben. Zu Kleist schreibt sie: »Es ist, wie wenn er nachsehen möchte, wieviel eigentlich ein Mensch aushalten kann, ob er dann, wenn er ihn durch alle Abgründe geschleift hat, noch ein inneres Leben aufweist.« Dabei sei »seine Teilnahme an seinen Personen ist weit eher als eine von außen betrachtende eine sehr mitbeteiligte, von innen nachspürende; er hat sich ihrer Muskelgefühle bemächtigt, zu seinem Leib gemacht, und geht ihnen mitschwingend von innen nach.« Beides könnte man auch über Fleißers Texte sagen.

Warum lesen:

Verdichtungen: Wie sieht das Konzentrat eines Lebens und das eines Werkes aus?

Infos zu dieser Liste
Erstveröffentlicht: 06.06.2023
Zuletzt aktualisiert: 06.06.2023

Elke Brüns ist habilitierte Literaturwissenschaftlerin. Sie lehrt Neuere Deutsche Literatur an der NYU Berlin; zudem publiziert sie Texte zu Themen, die sie gerade umtreiben. Zuletzt erschienen »unbehaust. Ein Essay« bei mikrotext und »Game of Thrones. 100 Seiten« bei Reclam.