Fabius Mayland

Seit wann setzt sich die Literatur mit der Klimakatastrophe auseinander? Der englische Begriff climate fiction wird seit ungefähr zehn bis zwanzig Jahren verwendet, vordergründig für Werke wie Richard Powers »Die Wurzeln des Lebens« (2018), Barbara Kingsolvers »Das Flugverhalten der Schmetterlinge« (Deutsch 2014, auf Englisch 2012), oder Jenny Offills »Weather« (2020). Das sind Werke, die im Englischen zumeist als »literary fiction« bezeichnet, also als »ernste« Literatur, Literatur, die im Feuilleton oder in Amerika zumindest in der Buchsektion der New York Times besprochen wird. In der Genre-Lteratur, allen voran in der Science-Fiction gibt es bereits eine ganze Tradition an von Umweltzerstörung und Klimawandel durchzogenen Texten, die sich über einen deutlich längeren Zeitraum erstreckt: Von J. G. Ballards The »Drowned World« (1962) über Ursula K. Le Guins The »Lathe of Heaven« (1971) bis zu so ziemlich allen Werken Kim Stanley Robinsons, der seit über vier Jahrzehnten immer wieder Welten kreiert, die in irgendeiner Form von Umweltkatastrophen heimgesucht werden. Diese Grenze zwischen »hoher« Literatur und »niederen« Genres ist dabei sicherlich bereits seit geraumer Zeit längst nicht mehr so undurchlässig, wie sie es mal war; Cormac McCarthys »The Road« (2006) fühlt sich sicherlich in beiden Kategorien wohl, auch wenn die Leserin sich bei der Lektüre von dieser immens niederschlagenden Welt wohl alles andere als wohl fühlt.

Kein Wohlgefühl: Welche Affekte produzieren diese Werke denn dann? Die Worte »Katastrophe« und »Zerstörung« sind bereits gefallen: Klimafiktion, vor allem diejenige, die aus der Science-Fiction entspringt, besteht zu einem beträchtlichen Anteil aus post-apokalyptischen Werken. Es gibt Ausnahmen, Ernest Callenbachs »Ökotopia« (1975, auf Englisch 1971) zum Beispiel ist ganz und gar utopisch. Dennoch dürften an Gefühlen wohl Trauer, Angst, und Sorge dominieren. Selbst wenn die Katastrophe noch bevorsteht, wie in Jenny Offills »Weather«, ist das vordergründige Gefühl eines der Beklemmung. Irgendwie ja auch verständlich: Wir wissen alle, dass das Klima bisher noch auf einem gefährlichen, viel zu gefährlichen Kurs ist, dass noch nicht genug getan wird. Und gleichzeitig können wir als Individuen äußerst wenig daran ändern. Ein Problem, dass uns permanent begleitet, gegenüber welchem wir uns aber machtlos fühlen: da sind Angst, Trauer, und Verzweiflung nicht überraschend. Und wenn es sich sowieso so anfühlt, als könnte man nichts ändern, kommt es natürlich affektiv auch zur Leugnung – ob unbewusst im Alltag, oder bewusst politisch – dass es überhaupt ein Problem gebe. Der indische Autor Amitav Ghosh hat in seinem Essay »Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare« (2017) entsprechend angemerkt, dass sich die Literatur eigentlich immer noch viel zu wenig mit dem Klimawandel auseinandersetzt, einfach weil es, auch aufgrund der Gepflogenheiten unserer literarischen Formen, zu schwer ist.

Im Folgenden habe ich neben fünf Romanen, die verschiedene Gefühle im Angesicht der Klimakatastrophe abklopfen, auch über zwei Sachbücher geschrieben, die sich explizit mit der Frage auseinandersetzen, welche Emotionen für uns im Angesicht des Klimawandels angemessen sind. Den apokalyptischen Klimakatastrophen der Science-Fiction wird häufig vorgeworfen, dass sie ja eigentlich nur Angst und Panik verbreiten würden, und dass derartige Gefühle demotivierend wirken: Viele von uns machen sich schließlich sowieso bereits genügend Sorgen. Sollte die Frage nicht eher sein, was uns Hoffnung machen kann? Dem sollte man vielleicht entgegen halten, dass die durch Literatur entstehenden Gefühle so oder so wohl nicht ausschlaggebend dafür sein werden, was aus unserer Welt wird. Aber vor allem scheint es mir, dass Angst und Trauer ja nicht nur Endhaltestelle sein müssen, sondern auch zu weiteren darauffolgenden Emotionen führen können: zu Solidarität mit denen zum Beispiel, die vom Klimawandel am stärksten bedroht werden. Und dann wären auch diese negativen Affekte ja durchaus hilfreich.

 

 

 

Not Too Late. Changing the Climate Story from Despair to Possibility

/ 2023

Verzweiflung und Hoffnung

Titel und Untertitel, sollte man meinen, sagen ja eigentlich alles über den prinzipiellen Affekt, den dieses Sachbuch durcharbeitet. In 26 allesamt recht kurzen Kapiteln vermitteln verschiedenste Autor*innen ein Gefühl von Hoffnung ob der Klimakrise. Aber das soll nicht heißen, dass es sich hier leicht gemacht wird. So merkt Solnit in ihrer Einführung gleich an, dass Hoffnung nicht das gleiche wie Optimismus ist, und, vielleicht noch überraschender: dass Hoffnung und Verzweiflung sich nicht ausschließen: »To hope is to accept despair as an emotion but not as an analysis.« Den vielen literarischen Klimadystopien (siehe nächster Eintrag) wird oft vorgeworfen, dass die primäre Emotion, die sie auslösen, wohl eher eine niederschmetternde, politisch deaktivierende Verzweiflung ist. Diese von Solnit sehr klug aufgestellte Zweiteilung von emotionaler und analytischer Verzweiflung zeigt uns, dass das nicht so sein muss: Auch das Gefühl der Verzweiflung kann uns zu einer hoffnungsvollen Analyse bringen. Das Buch produziert diese Zweiteilung konsequent: Julian Aguons Kapitel, dass die Situation zahlreicher vom Klimawandel besonders bedrohten Inseln – von Guam und Kiribati bis nach Fidschi und den Cartaret-Inseln – schildert, macht klar, wie katastrophal für die Bewohner mancher Gebiete der Klimawandel bereits jetzt ist, oder es schon bald sein wird. Aber er schildert auch eindrücklich, welche Strategien und Erfolge die Bewohner*innen dieser Inseln verfolgen und verzeichnen. Und auf Aguons Kapitel folgt eine wahrlich Hoffnung schaffende »ganz und gar nicht vollständige Liste« weltweiter Klimaerfolge. mehr

Eine weitere Intervention, die ich als sehr hilfreich empfinde, kommt von Mary Annaïse Heglar, die eine gute Formel dafür findet, wie es sich anfühlen wird, an einer lebenswerten Zukunft zu arbeiten: »Responding to this crisis is going to have to become part of who we are. All the time. Once you understand that, you understand that this isn’t about climate action at all. It’s about climate commitment.« Es wird ein Teil unseres Wesens sein werden, auf ökologische Krisen zu reagieren, mit ihnen umzugehen. Vielleicht lässt sich damit auch gut der potenzielle Wert von Literatur für die Klimakrise erklären: Sie kann uns bereits jetzt einen Geschmack davon geben, wie sich die Zukunft anfühlen könnte.

 

Warum lesen?

Das Buch ist primär von Nordamerikaner*innen für eine nordamerikanische Leserschaft geschrieben, versammelt aber dennoch eine enorme Vielzahl an Perspektiven: Policyexpert*innen für Klima und Elektrifizierung, Menschenrechtsanwälte, Lyriker*innen und Autor*innen, und natürlich Aktivist*innen kommen hier alle zum sprechen – von denen nur die wenigstens weiße cis-Männer sind. Die Kapitel sind allesamt short and to the point, fast durchgehend interessant und dabei auch für Laien nie überfordernd.

 

Die Parabel vom Sämann

/ 1999
Parable of the Sower

Trauer und die Hoffnung im Kleinen

Wenn Verzweiflung und Trauer als Gefühlszustände weiterhin möglich sein sollen, wie es Rebecca Solnit sagt, dann bietet die Science-Fiction zu diesem Zweck enorm viele Variationen einer zerstören Welt an: von den Folgen eines nuklearen Krieges zum steigenden Meeresspiegel, Erderwärmung, Meteoriteneinschlag und immer stärker grassierender Umweltverschmutzung, ist alles dabei, und zwar bereits seit den 1950er Jahren. Aber am schönsten erzählt ist vielleicht Octavia Butlers Parabel vom Sämann. Die jugendliche Lauren Olamina lebt in einem Kalifornien der nahen Zukunft, das langsam zerbricht. Die Siedlung, in der sie lebt, bewohnt von einer schwindenden Mittelschicht, ist umgeben von Mauern: Es sind die Überbleibsel einer gated community. Außerhalb der Mauern herrschen nicht endend wollende Arbeitslosigkeit, steigende Temperaturen, absolute Verzweiflung. Der Präsident der Vereinigten Staaten klingt erstaunlich ähnlich wie Donald Trump. Doch Nationalpolitik und Weltgeschehnisse sind kaum präsent. Fast gänzlich im Hintergrund gibt es noch eine Weltraummission, für die sich eigentlich niemand interessiert. Die Bezugspersonen von Lauren – ihre Eltern, ihre Geschwister, und ihre verschiedenen Nachbarn, die allesamt detailreich gezeichnet sind – konzentrieren sich alle auf ihren Alltag, möchten sich nur, so gut es geht, über Wasser halten. Die einzig mögliche Verbesserung der Lebensumstände der Menschen in Laurens Siedlung scheint es dabei zu sein, die Siedlung zu verlassen, und in eine company town zu ziehen, also in eine Stadt, die mehr oder weniger im Besitz eines Privatunternehmens ist. Die Gemeinschaft zerbricht, Stück für Stück, auf teils – content warning – brutalste Art und Weise. Der Roman ist fesselnd, aber sicherlich nicht immer leicht zu lesen. mehr

Doch Lauren, die an einer Art Hyperempathie leidet, möchte als einzige nicht nur im Wasser treiben, sondern etwas neues schaffen, was sie Earthseed nennt: eine neue Religion oder Philosophie vielleicht, auf jeden Fall aber etwas Sinnstiftendes, auf dem eine neue community fußen soll. Als ihre Siedlung gewaltsam zerstört wird, entschließt sie sich, mit zwei anderen Überlebenden aus ihrer Heimat auf den längst nicht mehr von Autos befahrenen Highways Richtung Norden zu wandern; ihr Ziel ist ein Stück Land, das einem der Überlebenden gehört, um dort eine neue Siedlung zu gründen. Doch viel wichtiger ist vielleicht, dass durch Lauren, die mehrmals dafür plädiert, weitere Menschen in Not in ihre Reisegruppe aufzunehmen, die Gemeinschaft bereits auf dem Weg zum Ziel entsteht. So wandelt sich die Verzweiflung schließlich auch zur Hoffnung..

 

Warum Lesen?

Octavia Butler gehört zu den wichtigsten Autorinnen der Science-Fiction überhaupt, und das aus gutem Grund. Die Prosa ist durchgehend unaufdringlich und doch erstklassig. Aber mehr alles andere zeichnet sich Die Parabel vom Sämann durch komplex gezeichnete Lebenswelten aus, innere wie äußere. Wie in vielen andere Romanen von Butler werden auch hier Rassismus, Armut, und Genderdynamiken thematisiert. Und es gelingt ihr durchgehend, komplexe, realistische Gemeinschaften zu imaginieren. Insbesondere deswegen ist der Roman wohl auch unter Aktivist*innen beliebt; die Aktivistin und Autorin adrienne maree brown bezieht sich in vielen ihrer Sachbücher auf Butler.

 

New York Ghost

/ 2021
Severance / 2018

Langeweile

Candace Chen ist eine second generation Chinese American in ihren Zwanzigern, die in New York für einen Bücherverlag in der Koordination und Logistik arbeitet – wobei sie in der Bibelabteilung angestellt ist, die abhängig von den Wünschen der Kunden unterschiedlich teure, komplexe, und mehr oder weniger verzierte Bibel-Sondereditionen produziert. Candace koordiniert die supply chains, die Lieferketten unserer globalisierten Wirtschaftsordnung, dieser Bibelproduktion. Die »Daily Grace Bibel« zum Beispiel (»an everyday Bible for casual use«) wird in Shenzhen in China produziert, nach Hong Kong transportiert, von da per Schiff nach Los Angeles, per Zug nach Texas, und von dort aus per LKW zu den Einzelhändlern. Entlang dieser Lieferketten verbreitet sich nun von Shenzhen aus ein Virus, der im Verlaufe des Buches zum zivilisatorischen Kollaps Amerikas führt. Infizierte Menschen agieren dabei ähnlich lethargisch wie Zombies, und verfallen in kompulsiv wiederholte Routinen – immer wieder decken Sie beispielsweise den Esstisch, essen eine Portion nichts, räumen den Tisch wieder ab, und fangen das ganze von vorne an. Die Gefühlswelt von Candace ist vor, während, und nach dem Zombie-Weltuntergang aber eigentlich immer gleich: vage unzufrieden mit ihrer Beziehung, ihren Freunden, und ihrer Familie. Tendenziell ist sie am wenigsten unglücklich, wenn sie sich ihrer ganz und gar unleidenschaftlichen Arbeit in der Bibellogistik widmen kann. Das Buch erhielt 2018 zahlreiche Preise, und erfuhr 2020 im Verlauf der Coronapandemie ähnlich wie Albert Camus’ Die Pest eine erneute Popularität – obwohl die Pandemie in New York Ghost primär die Form einer Zombieapokalypse annimmt. Durch die gefühlte Langsamkeit der Erzählung lässt sich der Roman aber auch gut im Kontext des Klimawandels lesen.

 

Warum Lesen?

Es geht im Buch viel um Nostalgie, Routinen, zwanghafte Wiederholungen – und um Langeweile. Ma hat in Interviews erklärt, dass ihr während ihres Schreibstudiums nahegelegt wurde, doch am besten einen von ihren eigenen Lebenserfahrungen informierten »traditionellen Immigrationsroman« zu schreiben. Weil ihr das abgedroschen schien, verband sie das ganze mit einer den Filmen George Romeros angelehnten Zombiegeschichte, was super funktioniert. Aber am besten sind ironischerweise vielleicht die Abschnitte des Romans, die sich mit Candaces ganz und gar eintöniger Arbeit im Supply-Chain-Management widmen: Wenn eine Katastrophe sich so langsam entwickelt, dass man erstmal weiterhin zur Arbeit muss, dann fühlt man mitunter wohl nicht nur Verzweiflung und Trauer, sondern auch Langeweile und Desinteresse oder eben auch: garnichts, eine innere Leere.

Generation Dread – Finding Purpose in an Age of Climate Crisis

/ 2022

Angst, Besorgnis, Trauer, Freude, und alles andere

2017 fingen die kanadische Wissenschaftskommunikatorin Britt Wray und ihr Partner an, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen, ob sie ein Kind bekommen wollten. Wray fühlte sich überkommen von ökologischen Sorgen: Würde man diesem Kind ein gutes Leben bieten können? Diese Fragenkonstellation – Kinder bekommen, während unser Ökosystem möglichweise auf den Abgrund zusteuert? – wurde seitdem von unzähligen Magazinen und Feuilletons durchgekaut. Wray hat sie zum Anlass genommen, erst einen regelmäßigen Newsletter und schließlich ein Buch über das Phänomen ganz allgemein zu schreiben: Welche Emotionen und Gefühle fühlen wir im Angesicht dieser Krise? Sind eco-anxiety, Schuld, und Scham die »richtigen« Gefühle für Bürger in den reichen Industrienationen? Wie gehen Menschen mit ambivalenten Gefühlen um, etwas für das Klima tun zu wollen, aber gleichzeitig auch emissionsintensive Luxusgüter zu begehren? Welcher Arten der Trauerarbeit stehen uns zur Verfügung, um den durch Klimawandel verursachten Verlust von Natur und Menschen zu betrauern? Wray gelingt es, die gesamte Bandbreite des affektiven Registers wissenschaftlich fundiert und doch von ihren eigenen Erfahrungen geleitet durchzuarbeiten: Sie erläutert die verschiedenen Schweregrade an eco-anxiety, die die Psychotherapeutin Caroline Hickmann basierend auf klinischen Beobachtungen in den Malediven, den Vereinigen Staaten, Brasilien, Nigerien, Bangladesch, und in Großbritannien entwickelt hat (dabei ganz wichtig: »Das Ziel ist es nicht, Menschen in feinsäuberlich getrennte klinische Schubladen zu stecken, sondern soll sie dabei unterstützen, ihre eigenen Erfahrungen und Gefühle zu verstehen«). Sie berichtet von ihrem eigenen Vortrag vor einem Haufen skandinavischer Manager von Öl- und Kohlefirmen, der mit minutenlanger Stille beantwortet wird, weil die Manager emotional erst einmal vollkommen überfordert sind. Sie fragt sich sofort, was sie nächstes mal besser tun könnte, damit sich ein dynamischeres Gespräch entwickelt – bis eine Kollegin ihr sagt, dass es vielleicht viel wichtiger wäre, besser darin zu werden, mit Stille und Unbehagen umzugehen, als diese immer zu verhindern.

 

Warum Lesen?

Da der Klimawandel und ökologische Zerstörung Probleme sind, mit denen wir uns für den Rest aller unserer Leben auseinandersetzen müssen, werden wir über kurz oder lang wohl so ziemlich jedes Gefühl mindestens einmal in diesem Kontext fühlen: Freude über kleine oder große Siege; Trauer um das, was bereits verloren ist; immer wiederkehrende Angst um das, was noch passieren könnte; Burnout; Langeweile; manchmal auch Leugnung, um es überhaupt nur durch den Tag zu schaffen. Wray bietet in Generation Dread ein breites Fundament dafür an, über all diese Emotionen nachzudenken. Das gelingt ihr, weil ihre Schreibperspektive nie weniger als verständnisvoll ist, für jegliche Gefühle, die die Menschen im Angesicht des Klimawandels fühlen könnten.

 

Sendbo-o-te

/ 2018
献灯使 / 2014

Reue und der Alltag im Alter

Jeden Tag kümmert sich Yoshiro in einem längst nicht mehr allzu dicht besiedelten Tokio liebevoll um sein Urenkelkind Mumei. Jeden Tag geht er mit einem gemieteten Hund joggen. Yoshiro ist über einhundert Jahre alt. Der Bäcker, bei dem Yoshiro Brot holt – »verkohlt in der Farbe von Mitternacht, und schwer wie Granit« – ist »gerade einmal« in seinen späten Siebzigern; in Tawada’s Japan der Zukunft gilt man erst in seinen Neunzigern als »älterer Mensch mittleren Alters«. Das Land ist ökologisch verwüstet, und während die älteren Generationen scheinbar für immer leben, werden die Neugeborenen mit jedem Jahr schwächer. Das Setting bleibt manchmal vage, aber es scheint klar zu sein, dass verschiedene Formen von Schadstoffbelastung in Wasser, Erde, und Luft der Menschheit nachhaltig zusetzen. mehr

Die Novelle ist in mancherlei Hinsicht keine direkte Allegorie für den Klimawandel – das Bröckeln der Resilienz gegenüber Extremwetterereignissen, Schadstoffen, und allerlei anderen ökologischen Problemen, die unsere Gesellschaft in all ihren System und Subsystem immer stärker erfahren wird, je weiter die globale Temperatur sich erhöht, wird auch vor den älteren Generationen nicht halt machen. Im Gegenteil: Die Hitzewelle in Europa im Sommer 2003, durch die europaweit mehr als siebzigtausend Menschen verstarben, traf zum Beispiel in Paris – nicht nur aus biologisch-gesundheitlichen, sondern vor allem auch aus infrastrukturell-sozialen Gründen – insbesondere ältere Menschen. Die Erzählsituation, die Tawada erschafft, ermöglicht es ihr aber, eine mögliche Perspektive unserer gegenwärtigen älteren Generation einzunehmen, wenn diese noch in vierzig, fünfzig, achtzig Jahren auf die Welt blicken könnte: Yoshiro ist quasi ein Baby-Boomer, der dazu verdammt ist, bis zum Ende der Welt weiterzuleben, während seine Kinder, Enkel und Urenkel in einer immer schlechteren Welt aufwachsen. Dass diese Perspektive von der seit langem in Deutschland lebenden und arbeitenden Japanerin Tawada produziert wurde, ist da vielleicht nicht ganz Zufall: Abgesehen vom Stadtstaat Monako ist die Bevölkerung keines Nationalstaats im Durchschnitt so alt wie die von Japan und Deutschland.

 

Warum Lesen?

Der Text von Tawada ist über potenzielle Klimabotschaften hinaus ein mühelos vielschichtiger Text, in dem es insbesondere auch um Literatur, Sprache, und kulturelle Isolation geht. Das zukünftige Japan von Sendbo-o-te hat sich vom Rest der Welt abgekapselt, das Benutzen von Lehnwörtern ist enorm verpöhnt oder gar illegal. Der bereits erwähnte Bäcker benennt jede Brotsorte nach einer anderen deutschen Stadt, indem er chinesische Schriftzeichen (also Kanji) nutzt, deren Aussprache den jeweiligen deutschen Städtenahmen ähnelt. Yoshiro selbst ist ein Schriftsteller, der seinen einzigen historischen Roman aufgegeben hat, weil er in einer derartig xenophoben Zukunft unveröffentlichbar ist: »Ortsnamen verbreiteten sich wie Blutgefäße durch den Roman aus, teilten sich in immer kleinere Äste auf und schlugen dann Wurzeln, bis es unmöglich war, sie aus dem Text zu entfernen.« Obwohl die Novelle überaus schnell zu lesen ist, gelingt es Tawada, eine hoch selbstreflexive Zukunftsvision zu entwerfen, in der es auch um den Stellenwert der Literatur in der Zukunft geht.

 

40 Signs of Rain und Das Ministerium für die Zukunft

/ 2004 und 2021
The Ministry for the Future / 2020

Leugnung und Überzeugungsarbeit; politische Hoffnung und Wut

Vielleicht lässt sich diese Literaturliste am besten mit zwei Titeln beenden, die sich der Science- Fiction zuordnen lassen, und doch ganz und gar Romane ihrer eigenen Entstehungszeit sind. Die Rede ist von Kim Stanley Robinson’s 40 Signs of Rain aus dem Jahre 2004, und seinem neustem Roman Das Ministerium für die Zukunft. Ersterer wurde nie übersetzt, dabei ist Robinson auf dem Feld der Science-Fiction, die sich mit Umwelt und Klimawandel auseinandersetzt, wohl so renommiert wie sonst niemand. Dass der Roman nie auf deutsch erschien, könnte daran liegen, dass er ganz und gar amerikanisch ist; er handelt primär von amerikanischen Wissenschaftler*innen in Washington DC, die im Bereich zwischen Wissenschaft, Forschungsfinanzierung, und Parlamentspolitik agieren. Es ist auch bei weitem nicht Robinsons bestes Werk, gerade die Figuren sind selbst für die Verhältnisse der »harten« (also besonders wissenschaftlich-trockenen) Science-Fiction dünn gezeichnet. Aber vor allem ist der Roman eindeutig aus der Zeit der amerikanischen Bush-Regierung, in der das grundsätzliche politisch-emotionale Problem das Problem der Klimawandelleugnung von obersten Regierungs-vertreter*innen war. Der Roman spielt in einer Zeit, in der die CO2-Konzentration in der Atmosphäre bereits bei katastrophalen 440 ppm (Partikel pro Millionen) liegt, und in der trotzdem immer noch ein Präsident der Manier George W. Bush regiert. Diese Problematik fühlte sich wohl recht schnell nicht mehr so richtig relevant an. mehr

Vielleicht hat Robinson auch deswegen mit Das Ministerium für die Zukunft das Thema, wie der Klimawandel Schritt für Schritt über die Jahrzehnte politisch-ökonomisch gelöst werden könnte, noch einmal aufgenommen. Robinsons aktuellster Roman ist weniger amerikanisch in seiner Perspektive, eher ganz explizit polyphon: Politiker*innen aus Indien und Europa; Menschen, die vor Klimakatastrophen fliehen müssen; versklavte Minenarbeiter in Namibia, die nach seltenen Mineralien schürfen müssen; anonyme Demonstrant*innen und schließlich selbst die Sonne; die Photonen »der Markt«, und verschiedene andere nicht-menschliche Entitäten bekommen alle Platz in der Narration. So darf man auch von allerlei Gefühlen erfahren. Die beiden Protagonist*innen – die irische Chefin des namentlichen transnationalen Ministerium für die Zukunft, Mary Murphy, und der amerikanische Hilfsarbeiter Frank May – verkörpern dabei ganz und gar gegensätzliches. Aus Murphys Perspektive hören wir allerlei über quälend lange Regierungssitzungen und Treffen, in denen Verträge und Strategien ausgehandelt werden – die am Ende des Romans aber ihren Erfolg gezeigt haben. Der Roman ist in diesen Kapiteln mehr oder weniger eine Fiktionalisierung von echten Regierungs- und Denkfabrikdokumenten, die kleinatmig aufdröseln, was politisch und ökonomisch passieren muss, damit wir auf dem 1.5-Grad-Pfad bleiben. Was trocken klingt, ist vielleicht einer der hoffnungsreicheren fiktionalen Texte der letzten Jahre: Es entsteht ein echtes Gefühl dafür, dass »wir« es immer noch schaffen können; dass es immer noch politische Pfade zu einer auch in Zukunft lebenswerten Welt gibt.

Frank May’s Perspektive hingegen eröffnet das Buch: er ist ein aid worker in Indien am Tag einer katastrophalen Hitzwelle, bei der zwanzig Millionen Menschen sterben. Robinson nutzt dieses erste Kapitel, um in erdrückendem Detailreichtum darzustellen, was die »Kühlgrenztemperatur« ist: die Kombination von Temperatur und Leuftfeuchte, bei der ein menschlicher Körper sich über einen Zeitraum von mehr als einigen Stunden schlicht nicht mehr abkühlen kann, und irgendwann unweigerlich stirbt. Bei aller Hoffnung, die der Roman in den folgenden Kapiteln produzieren zu vermag, stehen hier Schock, Horror und Angst im Vordergrund. Und aus diesen Gefühlen nährt sich eine weitere Emotion, die in unserer Klimaliteratur vielleicht noch nicht genügend verarbeitet wurde: Wut und blanker Hass. Frank May überlebt die Hitzewelle, aber sein Hass auf Menschen, die den Klimawandel besonders befeuert haben, wird immer größer, bis er in der Schweiz schließlich wahllos einen Mann im feinen Anzug erschlägt. Ist diese Wut produktiv? Im Roman zumindest eher nicht: Frank May erreicht fast nichts, ist mehr Beobachter als Akteur. Dennoch sollten wir auch diese Gefühle des Hasses und der Wut – auf Ölfirmen und deren CEOs, auf Präsident*innen und Minister*innen, auf Menschen, deren reaktionäre Gesinnung geradezu im Genuss von Klimazerstörung aufgeht – ernst nehmen: sie werden uns noch lange begleiten.

 

Warum lesen?

Die CO2-Konzentration liegt heute bei ungefähr 421ppm; das ist beängstigend genug. Aber auf eine gewisse Art ist 40 Signs of Rain, der erste Roman der Science in the Capital-Trilogie ganz ungewollt viel dystopischer, weil er überhaupt nicht aus seiner Zeit herauskommt, in der es für die Hälfte aller Politiker noch ganz natürlich war, den Klimawandel nicht einmal als Realität anzuerkennen. Es ist schwer, sich 20 Jahre später in diese Problematik zurückzuversetzen. Gerade das macht es interessant, diesen Roman zu lesen – als eine Art historisches Dokument. Das Ministerium für die Zukunft wird in zwanzig Jahren vielleicht ganz ähnlich veraltet klingen; ein kleines bisschen ist es das jetzt schon, der politische Horizont unserer Welt scheint durch die Coronapandemie bereits schon wieder ein anderer zu sein, als er es noch vor wenigen Jahren war. Im großen und ganzen fühlt sich der Roman aber wie ein durchaus realistischer Pfad in eine lebenswerte Zukunft an: Ja, ungefähr so könnte es vielleicht passieren.

Infos zu dieser Liste
Erstveröffentlicht: 22.05.2023
Zuletzt aktualisiert: 22.05.2023

Fabius Mayland, geboren 1993, hat von 2019 bis 2023 am Exzellenzcluster Temporal Communities der Freien Universität Berlin gearbeitet, und schließt derzeit seine Promotion zur Geschichte der ökologischen Science-Fiction Amerikas an der Graduate School of North American Studies der FU Berlin ab. Nebenbei arbeitet er freiberuflich als Übersetzer und schreibt Essays zu verschiedenen kulturwissenschaftlichen Themen, zum Beispiel für das Onlinefeuilleton 54books und für Ancillary Review of Books.