#Tagebuch
Die Parabel vom Sämann
/ 1999Trauer und die Hoffnung im Kleinen
Wenn Verzweiflung und Trauer als Gefühlszustände weiterhin möglich sein sollen, wie es Rebecca Solnit sagt, dann bietet die Science-Fiction zu diesem Zweck enorm viele Variationen einer zerstören Welt an: von den Folgen eines nuklearen Krieges zum steigenden Meeresspiegel, Erderwärmung, Meteoriteneinschlag und immer stärker grassierender Umweltverschmutzung, ist alles dabei, und zwar bereits seit den 1950er Jahren. Aber am schönsten erzählt ist vielleicht Octavia Butlers Parabel vom Sämann. Die jugendliche Lauren Olamina lebt in einem Kalifornien der nahen Zukunft, das langsam zerbricht. Die Siedlung, in der sie lebt, bewohnt von einer schwindenden Mittelschicht, ist umgeben von Mauern: Es sind die Überbleibsel einer gated community. Außerhalb der Mauern herrschen nicht endend wollende Arbeitslosigkeit, steigende Temperaturen, absolute Verzweiflung. Der Präsident der Vereinigten Staaten klingt erstaunlich ähnlich wie Donald Trump. Doch Nationalpolitik und Weltgeschehnisse sind kaum präsent. Fast gänzlich im Hintergrund gibt es noch eine Weltraummission, für die sich eigentlich niemand interessiert. Die Bezugspersonen von Lauren – ihre Eltern, ihre Geschwister, und ihre verschiedenen Nachbarn, die allesamt detailreich gezeichnet sind – konzentrieren sich alle auf ihren Alltag, möchten sich nur, so gut es geht, über Wasser halten. Die einzig mögliche Verbesserung der Lebensumstände der Menschen in Laurens Siedlung scheint es dabei zu sein, die Siedlung zu verlassen, und in eine company town zu ziehen, also in eine Stadt, die mehr oder weniger im Besitz eines Privatunternehmens ist. Die Gemeinschaft zerbricht, Stück für Stück, auf teils – content warning – brutalste Art und Weise. Der Roman ist fesselnd, aber sicherlich nicht immer leicht zu lesen. mehr
Doch Lauren, die an einer Art Hyperempathie leidet, möchte als einzige nicht nur im Wasser treiben, sondern etwas neues schaffen, was sie Earthseed nennt: eine neue Religion oder Philosophie vielleicht, auf jeden Fall aber etwas Sinnstiftendes, auf dem eine neue community fußen soll. Als ihre Siedlung gewaltsam zerstört wird, entschließt sie sich, mit zwei anderen Überlebenden aus ihrer Heimat auf den längst nicht mehr von Autos befahrenen Highways Richtung Norden zu wandern; ihr Ziel ist ein Stück Land, das einem der Überlebenden gehört, um dort eine neue Siedlung zu gründen. Doch viel wichtiger ist vielleicht, dass durch Lauren, die mehrmals dafür plädiert, weitere Menschen in Not in ihre Reisegruppe aufzunehmen, die Gemeinschaft bereits auf dem Weg zum Ziel entsteht. So wandelt sich die Verzweiflung schließlich auch zur Hoffnung..
Warum Lesen?
Octavia Butler gehört zu den wichtigsten Autorinnen der Science-Fiction überhaupt, und das aus gutem Grund. Die Prosa ist durchgehend unaufdringlich und doch erstklassig. Aber mehr alles andere zeichnet sich Die Parabel vom Sämann durch komplex gezeichnete Lebenswelten aus, innere wie äußere. Wie in vielen andere Romanen von Butler werden auch hier Rassismus, Armut, und Genderdynamiken thematisiert. Und es gelingt ihr durchgehend, komplexe, realistische Gemeinschaften zu imaginieren. Insbesondere deswegen ist der Roman wohl auch unter Aktivist*innen beliebt; die Aktivistin und Autorin adrienne maree brown bezieht sich in vielen ihrer Sachbücher auf Butler.