Das Jahr des magischen Denkens

/ Oktober 2005
The Year of Magical Thinking. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel / 2005

Wie funktioniert Erinnerung? Warum erinnern wir uns an manches verschwommen, an anderes detailliert? Was erzählen die Lücken in der Erinnerung über uns? Was wird weiter erzählt, und was verschwiegen? Und wie lässt sich darüber schreiben? Was passiert mit der Erinnerung, wenn wir Schreibenden sie in Literatur kleiden? Fünf Autor:innen, die diesen Fragen in einer Genauigkeit, einer Ehrlichkeit und einer Tiefe nachgehen, dass es sich wie ein Geschenk anfühlt, diese Zeilen lesen zu dürfen, sollen hier vorgestellt werden.

 

Warum lesen?
Weil es weh tut. Weil es zurecht weh tut. Und weil das, was aus dem Schmerz entstand, magisch ist.

Auf der Liste: Erinnern und Schreiben. Oder Schreiben und Erinnern.

Fünf grandiose Bücher, in denen die Erinnerung zur Protagonistin wird.

40 Signs of Rain und Das Ministerium für die Zukunft

/ 2004 und 2021
The Ministry for the Future / 2020

Leugnung und Überzeugungsarbeit; politische Hoffnung und Wut

Vielleicht lässt sich diese Literaturliste am besten mit zwei Titeln beenden, die sich der Science- Fiction zuordnen lassen, und doch ganz und gar Romane ihrer eigenen Entstehungszeit sind. Die Rede ist von Kim Stanley Robinson’s 40 Signs of Rain aus dem Jahre 2004, und seinem neustem Roman Das Ministerium für die Zukunft. Ersterer wurde nie übersetzt, dabei ist Robinson auf dem Feld der Science-Fiction, die sich mit Umwelt und Klimawandel auseinandersetzt, wohl so renommiert wie sonst niemand. Dass der Roman nie auf deutsch erschien, könnte daran liegen, dass er ganz und gar amerikanisch ist; er handelt primär von amerikanischen Wissenschaftler*innen in Washington DC, die im Bereich zwischen Wissenschaft, Forschungsfinanzierung, und Parlamentspolitik agieren. Es ist auch bei weitem nicht Robinsons bestes Werk, gerade die Figuren sind selbst für die Verhältnisse der »harten« (also besonders wissenschaftlich-trockenen) Science-Fiction dünn gezeichnet. Aber vor allem ist der Roman eindeutig aus der Zeit der amerikanischen Bush-Regierung, in der das grundsätzliche politisch-emotionale Problem das Problem der Klimawandelleugnung von obersten Regierungs-vertreter*innen war. Der Roman spielt in einer Zeit, in der die CO2-Konzentration in der Atmosphäre bereits bei katastrophalen 440 ppm (Partikel pro Millionen) liegt, und in der trotzdem immer noch ein Präsident der Manier George W. Bush regiert. Diese Problematik fühlte sich wohl recht schnell nicht mehr so richtig relevant an. mehr

Vielleicht hat Robinson auch deswegen mit Das Ministerium für die Zukunft das Thema, wie der Klimawandel Schritt für Schritt über die Jahrzehnte politisch-ökonomisch gelöst werden könnte, noch einmal aufgenommen. Robinsons aktuellster Roman ist weniger amerikanisch in seiner Perspektive, eher ganz explizit polyphon: Politiker*innen aus Indien und Europa; Menschen, die vor Klimakatastrophen fliehen müssen; versklavte Minenarbeiter in Namibia, die nach seltenen Mineralien schürfen müssen; anonyme Demonstrant*innen und schließlich selbst die Sonne; die Photonen »der Markt«, und verschiedene andere nicht-menschliche Entitäten bekommen alle Platz in der Narration. So darf man auch von allerlei Gefühlen erfahren. Die beiden Protagonist*innen – die irische Chefin des namentlichen transnationalen Ministerium für die Zukunft, Mary Murphy, und der amerikanische Hilfsarbeiter Frank May – verkörpern dabei ganz und gar gegensätzliches. Aus Murphys Perspektive hören wir allerlei über quälend lange Regierungssitzungen und Treffen, in denen Verträge und Strategien ausgehandelt werden – die am Ende des Romans aber ihren Erfolg gezeigt haben. Der Roman ist in diesen Kapiteln mehr oder weniger eine Fiktionalisierung von echten Regierungs- und Denkfabrikdokumenten, die kleinatmig aufdröseln, was politisch und ökonomisch passieren muss, damit wir auf dem 1.5-Grad-Pfad bleiben. Was trocken klingt, ist vielleicht einer der hoffnungsreicheren fiktionalen Texte der letzten Jahre: Es entsteht ein echtes Gefühl dafür, dass »wir« es immer noch schaffen können; dass es immer noch politische Pfade zu einer auch in Zukunft lebenswerten Welt gibt.

Frank May’s Perspektive hingegen eröffnet das Buch: er ist ein aid worker in Indien am Tag einer katastrophalen Hitzwelle, bei der zwanzig Millionen Menschen sterben. Robinson nutzt dieses erste Kapitel, um in erdrückendem Detailreichtum darzustellen, was die »Kühlgrenztemperatur« ist: die Kombination von Temperatur und Leuftfeuchte, bei der ein menschlicher Körper sich über einen Zeitraum von mehr als einigen Stunden schlicht nicht mehr abkühlen kann, und irgendwann unweigerlich stirbt. Bei aller Hoffnung, die der Roman in den folgenden Kapiteln produzieren zu vermag, stehen hier Schock, Horror und Angst im Vordergrund. Und aus diesen Gefühlen nährt sich eine weitere Emotion, die in unserer Klimaliteratur vielleicht noch nicht genügend verarbeitet wurde: Wut und blanker Hass. Frank May überlebt die Hitzewelle, aber sein Hass auf Menschen, die den Klimawandel besonders befeuert haben, wird immer größer, bis er in der Schweiz schließlich wahllos einen Mann im feinen Anzug erschlägt. Ist diese Wut produktiv? Im Roman zumindest eher nicht: Frank May erreicht fast nichts, ist mehr Beobachter als Akteur. Dennoch sollten wir auch diese Gefühle des Hasses und der Wut – auf Ölfirmen und deren CEOs, auf Präsident*innen und Minister*innen, auf Menschen, deren reaktionäre Gesinnung geradezu im Genuss von Klimazerstörung aufgeht – ernst nehmen: sie werden uns noch lange begleiten.

 

Warum lesen?

Die CO2-Konzentration liegt heute bei ungefähr 421ppm; das ist beängstigend genug. Aber auf eine gewisse Art ist 40 Signs of Rain, der erste Roman der Science in the Capital-Trilogie ganz ungewollt viel dystopischer, weil er überhaupt nicht aus seiner Zeit herauskommt, in der es für die Hälfte aller Politiker noch ganz natürlich war, den Klimawandel nicht einmal als Realität anzuerkennen. Es ist schwer, sich 20 Jahre später in diese Problematik zurückzuversetzen. Gerade das macht es interessant, diesen Roman zu lesen – als eine Art historisches Dokument. Das Ministerium für die Zukunft wird in zwanzig Jahren vielleicht ganz ähnlich veraltet klingen; ein kleines bisschen ist es das jetzt schon, der politische Horizont unserer Welt scheint durch die Coronapandemie bereits schon wieder ein anderer zu sein, als er es noch vor wenigen Jahren war. Im großen und ganzen fühlt sich der Roman aber wie ein durchaus realistischer Pfad in eine lebenswerte Zukunft an: Ja, ungefähr so könnte es vielleicht passieren.

Auf der Liste: Klimaangst und Literatur

Not Too Late. Changing the Climate Story from Despair to Possibility

/ 2023

Verzweiflung und Hoffnung

Titel und Untertitel, sollte man meinen, sagen ja eigentlich alles über den prinzipiellen Affekt, den dieses Sachbuch durcharbeitet. In 26 allesamt recht kurzen Kapiteln vermitteln verschiedenste Autor*innen ein Gefühl von Hoffnung ob der Klimakrise. Aber das soll nicht heißen, dass es sich hier leicht gemacht wird. So merkt Solnit in ihrer Einführung gleich an, dass Hoffnung nicht das gleiche wie Optimismus ist, und, vielleicht noch überraschender: dass Hoffnung und Verzweiflung sich nicht ausschließen: »To hope is to accept despair as an emotion but not as an analysis.« Den vielen literarischen Klimadystopien (siehe nächster Eintrag) wird oft vorgeworfen, dass die primäre Emotion, die sie auslösen, wohl eher eine niederschmetternde, politisch deaktivierende Verzweiflung ist. Diese von Solnit sehr klug aufgestellte Zweiteilung von emotionaler und analytischer Verzweiflung zeigt uns, dass das nicht so sein muss: Auch das Gefühl der Verzweiflung kann uns zu einer hoffnungsvollen Analyse bringen. Das Buch produziert diese Zweiteilung konsequent: Julian Aguons Kapitel, dass die Situation zahlreicher vom Klimawandel besonders bedrohten Inseln – von Guam und Kiribati bis nach Fidschi und den Cartaret-Inseln – schildert, macht klar, wie katastrophal für die Bewohner mancher Gebiete der Klimawandel bereits jetzt ist, oder es schon bald sein wird. Aber er schildert auch eindrücklich, welche Strategien und Erfolge die Bewohner*innen dieser Inseln verfolgen und verzeichnen. Und auf Aguons Kapitel folgt eine wahrlich Hoffnung schaffende »ganz und gar nicht vollständige Liste« weltweiter Klimaerfolge. mehr

Eine weitere Intervention, die ich als sehr hilfreich empfinde, kommt von Mary Annaïse Heglar, die eine gute Formel dafür findet, wie es sich anfühlen wird, an einer lebenswerten Zukunft zu arbeiten: »Responding to this crisis is going to have to become part of who we are. All the time. Once you understand that, you understand that this isn’t about climate action at all. It’s about climate commitment.« Es wird ein Teil unseres Wesens sein werden, auf ökologische Krisen zu reagieren, mit ihnen umzugehen. Vielleicht lässt sich damit auch gut der potenzielle Wert von Literatur für die Klimakrise erklären: Sie kann uns bereits jetzt einen Geschmack davon geben, wie sich die Zukunft anfühlen könnte.

 

Warum lesen?

Das Buch ist primär von Nordamerikaner*innen für eine nordamerikanische Leserschaft geschrieben, versammelt aber dennoch eine enorme Vielzahl an Perspektiven: Policyexpert*innen für Klima und Elektrifizierung, Menschenrechtsanwälte, Lyriker*innen und Autor*innen, und natürlich Aktivist*innen kommen hier alle zum sprechen – von denen nur die wenigstens weiße cis-Männer sind. Die Kapitel sind allesamt short and to the point, fast durchgehend interessant und dabei auch für Laien nie überfordernd.

 

Auf der Liste: Klimaangst und Literatur