Sendbo-o-te

/ 2018
献灯使 / 2014

Reue und der Alltag im Alter

Jeden Tag kümmert sich Yoshiro in einem längst nicht mehr allzu dicht besiedelten Tokio liebevoll um sein Urenkelkind Mumei. Jeden Tag geht er mit einem gemieteten Hund joggen. Yoshiro ist über einhundert Jahre alt. Der Bäcker, bei dem Yoshiro Brot holt – »verkohlt in der Farbe von Mitternacht, und schwer wie Granit« – ist »gerade einmal« in seinen späten Siebzigern; in Tawada’s Japan der Zukunft gilt man erst in seinen Neunzigern als »älterer Mensch mittleren Alters«. Das Land ist ökologisch verwüstet, und während die älteren Generationen scheinbar für immer leben, werden die Neugeborenen mit jedem Jahr schwächer. Das Setting bleibt manchmal vage, aber es scheint klar zu sein, dass verschiedene Formen von Schadstoffbelastung in Wasser, Erde, und Luft der Menschheit nachhaltig zusetzen. mehr

Die Novelle ist in mancherlei Hinsicht keine direkte Allegorie für den Klimawandel – das Bröckeln der Resilienz gegenüber Extremwetterereignissen, Schadstoffen, und allerlei anderen ökologischen Problemen, die unsere Gesellschaft in all ihren System und Subsystem immer stärker erfahren wird, je weiter die globale Temperatur sich erhöht, wird auch vor den älteren Generationen nicht halt machen. Im Gegenteil: Die Hitzewelle in Europa im Sommer 2003, durch die europaweit mehr als siebzigtausend Menschen verstarben, traf zum Beispiel in Paris – nicht nur aus biologisch-gesundheitlichen, sondern vor allem auch aus infrastrukturell-sozialen Gründen – insbesondere ältere Menschen. Die Erzählsituation, die Tawada erschafft, ermöglicht es ihr aber, eine mögliche Perspektive unserer gegenwärtigen älteren Generation einzunehmen, wenn diese noch in vierzig, fünfzig, achtzig Jahren auf die Welt blicken könnte: Yoshiro ist quasi ein Baby-Boomer, der dazu verdammt ist, bis zum Ende der Welt weiterzuleben, während seine Kinder, Enkel und Urenkel in einer immer schlechteren Welt aufwachsen. Dass diese Perspektive von der seit langem in Deutschland lebenden und arbeitenden Japanerin Tawada produziert wurde, ist da vielleicht nicht ganz Zufall: Abgesehen vom Stadtstaat Monako ist die Bevölkerung keines Nationalstaats im Durchschnitt so alt wie die von Japan und Deutschland.

 

Warum Lesen?

Der Text von Tawada ist über potenzielle Klimabotschaften hinaus ein mühelos vielschichtiger Text, in dem es insbesondere auch um Literatur, Sprache, und kulturelle Isolation geht. Das zukünftige Japan von Sendbo-o-te hat sich vom Rest der Welt abgekapselt, das Benutzen von Lehnwörtern ist enorm verpöhnt oder gar illegal. Der bereits erwähnte Bäcker benennt jede Brotsorte nach einer anderen deutschen Stadt, indem er chinesische Schriftzeichen (also Kanji) nutzt, deren Aussprache den jeweiligen deutschen Städtenahmen ähnelt. Yoshiro selbst ist ein Schriftsteller, der seinen einzigen historischen Roman aufgegeben hat, weil er in einer derartig xenophoben Zukunft unveröffentlichbar ist: »Ortsnamen verbreiteten sich wie Blutgefäße durch den Roman aus, teilten sich in immer kleinere Äste auf und schlugen dann Wurzeln, bis es unmöglich war, sie aus dem Text zu entfernen.« Obwohl die Novelle überaus schnell zu lesen ist, gelingt es Tawada, eine hoch selbstreflexive Zukunftsvision zu entwerfen, in der es auch um den Stellenwert der Literatur in der Zukunft geht.

 

Auf der Liste: Klimaangst und Literatur