Jan Böttcher: Drähte, Distanzen

Social Distancing ist das Schlagwort der Zeit. Wir haben Autor*innen gebeten, Perspektiven auf diesen Begriff zu formulieren

 

 

 

Foto © Timm Kölln

 

 

Drähte, Distanzen

 

 

1

„Mondschein, Schnee und äußerst strenge Kälte. (…) Es sang im ganzen Haus. (…) Es war der Gesang in den Telephondrähten, wobei das alte Holzhaus als Resonanzboden diente, den ich nie vergessen würde. Ich hatte den Eindruck, als ob der Weltraum sang, als ob ich mich im Kern der gigantischen Schnecke des Weltalls befand, die alle äußeren Geräusche auffing und sie an mich weiterleitete. (…) Dies war die Himmelsharfe. Der Gesang in den Drähten schien anzudeuten, dass weit dort draußen ein Gespräch geführt wurde.“

 

Ein Bild der Einsamkeit, doch ich verbinde damit gleich drei Orte. Den Seminarraum in Berlin, in dem ich erstmals die Himmelsharfe hörte. Die nordschwedische Landschaft, in der Per Olov Enquist ihren Gesang ansimmte.  Und auch mein graues Norddeutschland, ich dachte an das Rote Telefon und den Kalten Krieg, ich sah die Telefondrähte von unserem Hochhausblock hinaufführen in die Wälder an der sogenannten Panzerstraße, über die Kiefern hinweg in den Sternenhimmel.

 

Und nun sang Enquists Harfe auch in mir. Sie war eine Übersetzerin. Sie nahm das göttliche Wort, das immer eindeutig war, und sie nahm das Wort der Mutter, das immer eindeutig sein wollte, und wandelte es um, sie machte das Wort gefügig, melodisch, vieldeutig, schön.

 

Mich ergriff das Harfenbild auch, weil Musik meine zweite Leidenschaft war, weil ich Text und Ton gleichermaßen liebte. Hier bildeten sie zwei Kammern eines Herzens. War sie also doch nicht unüberwindbar, die Kluft zwischen Himmel und Erde, zwischen Bedeutung und Gegenstand, zwischen mir und denendadraußen?

 

Dass man Drähte über die Kluft spannen musste, wurde immer offensichtlicher. Ich studierte die Modernisten. Sie hatten oft davon gesprochen, dass die Welt auf physikalischen Gesetzen beruhte. Die Metapher beschrieben sie als die energetische Entladung, die geschieht, wenn zwei Bilder unvermittelt aufeinanderstoßen. An der Kluft zu existieren und zu experimentieren, dort, wo die geheimnisvollen Kräfte der Sprache hin und her zischten, dort, wo es donnerte, blitzte und summte – das hatte sich die moderne Poesie geradezu zur Aufgabe gemacht.

 

 

2

Zwanzig Jahre danach erschienen auch in deutscher Sprache die Gesammelten Werke von Danilo Kiš. In diesem Buch gab es eine Erzählung, in der es nicht Nacht war, sondern hellichter Tag. Wir befanden uns nicht am schwedischen Polarkreis, sondern in Pannonien, einem idealistischen, weil vereinten Südosteuropa. Aber Kiš schrieb tatsächlich:

 

„Im Alter von neun Jahren hatte ich eine Harfe. Sie bestand aus Stromleitungsmasten und sechs Paar elektrischen Drähten, die um Porzellanisolatoren geschlungen waren, welche aussahen wie ein unvollständiges Teeservice.(…)“

 

Der Autor erzählt akkurat von den günstigsten Bedingungen, unter denen die Harfe singt. Die Masten sind aus geteertem Tannenholz, sie sollten fünfzig Meter auseinander stehen, es darf kein Wind wehen, man befindet sich auf einem alten, verwaisten Postweg.

 

„Wenn jemand, der von Musik nichts versteht, sein Ohr an den Mast lehnen würde, könnte er wirklich glauben, das ferne Dröhnen von Flugzeugen zu hören oder (…) dass sich ein Bombengeschwader nähert. Aber das ist nur der erste (falsche) Eindruck; das ist nur die Begleitung, das sind Bässe, in denen das Gehör des Knaben den Klang der Zeit erkennt; denn aus der Tiefe der Zeit und der Geschichte dringen Klänge wie von Quasaren, entfernten Sternen.“ Der Neunjährige wird, so endet die Erzählung konsequent, „eine Geschichte über eine Äolsharfe aus Stromleitungsmasten und Drähten schreiben“.

 

 

3

Enquist und Kiš. Ich legte alles nebeneinander aus. Datum und Vokabular. Sie kannten einander nicht. Die Texte sind fast zeitgleich entstanden, vor 1970. Keiner konnte die Sprache des anderen sprechen. Nichts war übersetzt. „Als hätten Teile des Lebens an anderer Stelle stattgefunden, weit entfernt“, steht in Lutz Seilers neuem Roman Stern 111.  So war es wohl gewesen. Ich nahm den Atlas und ging das Ferngespräch ab, die Harfe zog sich über den gesamten Kontinent, von Hjoggböle, Västerbotten, tausend Kilometer nördlich von Stockholm – hinunter bis nach Subotica, Serbien, nahe der ungarischen Grenze.

 

Ich hörte, dass die beiden Jungs miteinander sprachen, aber die Sprachen waren alles andere als deckungsgleich. Da begann einer zu summen, eine Melodie zu singen, sie zu wiederholen, vielleicht dachte er an den Rhythmus, in dem die Telefonmasten vorbeizogen, wenn man auf dem Weg spazierte. Er summte so behutsam, er wiederholte so oft, dass der andere Junge einsteigen konnte. So überbrückten sie zweieinhalbtausend Kilometer, als wären es zwei Meter. Sie waren jetzt sprachlos.

 

Es gibt jetzt viele solcher Geschichten, sie handeln nicht alle von zwei neunjährigen Jungs. Aber von dem Glück, Musik zu hören und Bücher zu lesen.  Die Künste sind Klangerzeuger. Man hält das Ohr in ein Buch und gewahrt doch Abstand. Die Drähte summen. Wir nehmen den Ton ab. Und es entsteht wie zwischen Kiš und Enquist ein Drittes. Ein Gespräch. Korrespondenz.