Caca Savic: Übersprungsähnlich

Social Distancing ist das Schlagwort der Zeit. Wir haben Autor*innen gebeten, Perspektiven auf diesen Begriff zu formulieren

 

 

 

 

Übersprungsähnlich.

 

Deine Seite liegt in der Sonne und die Schaufenster lassen blaue
Kittel vermuten. Meine Seite führt an farbigen Fassaden vorbei,
der Lärm ist hier ein Vis À Vis. Musst bald über einen Seitenarm
hüpfen, damit wir weiter parallel laufen. Vor mir entsteht eine
Kurve, die auf deiner Seite fehlt. Ausgestreckt.

 

Jetzt ist, dass ich auf einer Straßenseite gehe und zu dir auf die
andere Straßenseite hinüber sehe, denn ich messe unseren Abstand.

 

eingehalten unser Mindestmaß
die Luft zu erweitern
uns mal ganz zu sehen
unmöglich zu berühren
macht unnötig

 

Gehsteigplatten ergeben einen Rhythmus und ich springe immer auf
die nächste. Aus dem Augenwinkel sehe ich deine Pirouette, wie du
dich eindrehst und mir nachkommen willst, als Figur.
An dir sehe ich den alten Haaransatz, eine Stirnwölbung. Daraus
bricht ein Gefälle und endet in der Nasenspitze. Die Grube über
der Oberlippe fängt den Tau, die Lippenbögen stülpen sich übers
Kinn. Ein Felsvorsprung, die Gurgel im Hals ein Aufzug: zur Brust
zum Kopf, zur Brust zum Kopf. Mir rutscht der Hals zwischen die
Schultern.

 

Meine Hautfärbung will sich ändern. Irgendwo in der Evolution
steht eingeschrieben, dass Anpassung und Nachahmung das Überleben
sichern. Die Schuppen stellen sich in eine bestimmte Neigung zum
Licht, variieren Farbe. Am Anfang veratme ich mich und es geht ins
Violett. Sauerstoffuntersättigt.
Im Nachjustieren fällt von der Neigung Grün, das kollateral Gelb
wird. Verbrauntgelblich.

 

Ein Kribbeln zieht in den Fingern auf. Die Durchblutung spielt
verrückt, wenn ein Band einen Fluss abschnürt. Zuerst richte ich
die Ärmel, dann die BH-Träger. Kurz schaue ich zu dir rüber. Du
hast die Hose aufgefaltet, deine Jacke lässig über den linken
Unterarm gelegt. Die Aussparungen unter den Achseln haben sich
verfärbt, du schwitzt. Im Nacken sitzt der Specht und hackt sich
Parasiten aus deinem Haar. Der Hosenknopf verfängt sich im
Pullover, sein Rot zerfließt als Ameisenstraße. Nein, das willst
du nicht sehen und gibst die Sicht frei für Sonnenbrillen.
Tierweltverspätet.

 

Ein Anruf der Grenzpatrouille genehmigt dir den nächsten
Straßenabschnitt. Ich will nicht glauben, dass ich ihn brauche,
verschwimme mit der Asphalt-Fata Morgana. Ich suche dich aus dem
Gegenüber und auf dem nächstgelegenen Randstein erkennst du ein
Ostseefossil, beugst dich hinunter und kannst es nicht
herausmeißeln. Ein kurzer Anflug von Diebstahlslust überfällt
mich. Ich sollte die Straße queren, deine Schuhe abziehen, dich
ins Stehenbleiben zwingen.

 

Auf den Kreuzungen waren wir kurz auseinandergekommen. Du lagst
hinten und hattest, ich konnte es erkennen, den Impuls umzukehren.
Ob du mich als Variation siehst, als Double, als Interpretation
einordnest? Hast du einen Blick, der dir erlaubt, mich durch die
Fenster zu sehen? Willst du dir nicht anmerken lassen, dass du
mich nachahmst? Unsere Eigenschaften bilden sich im Abstand aus
und wir können uns unterscheiden. Für dich mache ich den Sprung
und die Spiegelung in deiner Schrittabfolge. Ich will wissen, wie
weit du dein Bein-V beim Gehen aufmachst. In welchem Winkel dein
Oberkörper zur Hüfte steht. Ob die Arme mitschwingen oder starr an
den Flanken kleben. Unvervielfältigbar.

 

Wenn der Abstand zwischen uns weniger als einen Meter beträgt,
dann gehen wir nebeneinander. Wenn wir auf gleicher Höhe und in
gleicher Richtung in einem Abstand von fünf Metern zueinander
gehen, ist es das nicht. Es ist kein Übereinander, kann kein
Hintereinander sein, vielleicht ein Voneinander. Die Entfernung
ist voneinander gehend, das Wissen ist voneinander. Die Sicht
speist sich aus Voneinander und die Träume sind voneinander.
Vergangene Zeit ist historisch ein voneinander Erzähltes. Wir
bewegen uns nicht voneinander weg. Es bleibt die Richtung, es
bleibt die Tageszeit. Was, wenn es ein Füreinander ist, wir uns
nur weiter bewegen, damit der andere mitkommt?

 

Eine Mutter wartet in der Einfahrt auf mein Signal. Sie will die
Rollläden schließen, misst die Durchfahrt. Ich erhalte einen
Verweis und passiere sie wortlos. Jetzt dachte ich, dass du etwas
sagen willst. Ich drehe meine Füße ein, beinahe zum Stillstand. Du
aber weiterhin mit Sonnenbrille hast meine Familienpassage
ausgeblendet und ziehst einen Spinnenfaden durch das Frühjahr.

 

Vielleicht reitet ein Satellit seine Bahn und blinkt zu uns in die
Straße. Verlinkt uns in der virtuellen Kartografie. Bevor das
Adressbuch sich in dieser Geschwindigkeit anpasst, ist meine
Schuhsohle durchgelaufen, verteilt eine Spur aus Fetzen. Jetzt
springt der Hemdknopf auf, legt Falten auf die Taille.