Julia Bertschik: „Als anziehend stellt sich im Glücksfall das uns Verwandte heraus“: Brigitte Kronauer, Wilhelm Raabe und der Realismus

Beitrag von Julia Bertschik für die Veranstaltung „Brigitte Kronauer – nichts ist mehr so, wie es einmal war“

 

Brigitte Kronauer gehörte nicht nur zu den sprachmächtigsten und ambitioniertesten, sondern auch zu den gebildetsten Schriftsteller*innen im deutschen Sprachraum der Gegenwartsliteratur. Das zeigt sich auch an ihrer lebenslangen Auseinandersetzung mit anderen Autor*innen der Literaturgeschichte. Zuletzt, 2010, sind einige Zeugnisse davon noch einmal gebündelt in ihrer Aufsatzsammlung Favoriten erschienen. Neben Zeitgenossen wie Ror Wolf, Hubert Fichte und Eckhard Henscheid finden sich hier u.a. Texte über Wilhelm Raabe, Knut Hamsun, Joseph Conrad, Herman Melville, Georg Büchner, Robert Walser, Eduard Mörike, Victor Hugo, Adalbert Stifter, Gerard Manley Hopkins und Jean Paul. Einige der Genannten spielten dabei schon lange eine wichtige Rolle für Kronauer und ihr Schreiben. Raabe hingegen, dieser zwischen 1831 und 1910 lebende niedersächsische Vertreter ‚realistischer‘ Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist neu in diesem Kreis der Lektüre-„Favoriten“ Kronauers – eine recht späte, dafür aber umso nachdrücklichere „Entdeckung“ dieses „bis zur Mühseligkeit umständlichen Autor[s]“, von dem sie zunächst „weder Feuer noch mich betreffende Erkenntnis erwartete“. So beschreibt sie es jetzt, in dem Raabe gewidmeten Eröffnungsbeitrag ihres Lektüre-Favoriten-Bandes.1

Überhaupt fällt eine auffällige Zurückhaltung Kronauers bezüglich deutschsprachiger Autor*innen des sogenannten Poetischen Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf; sieht man einmal ab von Kronauers Angabe der Frauengestalten Gottfried Kellers als ihren Lieblingsheldinnen in der Dichtung sowie gelegentlichen Erwähnungen Theodor Fontanes, mit dessen ‚steter‘, ‚stilvollendeter Ausgewogenheit‘ sie sich jedoch nie so recht anfreunden konnte.2 Dabei setzte sich gerade der Poetische Realismus, als ein „reflektiert-narrative[r] Realismus“3 mit seinen Tendenzen zur Überhöhung des Alltags in programmatischer Abgrenzung zu den schon früh dem Naturalismus nahestehenden europäischen Vertretern ‚(foto)realistischer‘ Literatur, doch mit einem der Kernthemen Kronauers auseinander. Als gemeinsamer Nenner zieht er sich nicht nur durch ihre Poetik-Vorlesungen und poetologischen Selbstreflexionen, sondern auch durch ihre Beschäftigung mit unterschiedlichen Lektüre-„Favoriten“, nämlich „das hochheikle, feindlich aneinander geschmiedete Paar Wirklichkeit und Literatur“.4

So fasziniert Kronauer an Biedermeier-Autor*innen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie Mörike und Stifter vor allem die ins Wanken und Schlingern geratenen „Dimensionen der Realität“ bzw. das reziproke Verhältnis aus Realitäts-Einordnung und Realitäts-Konstruktion mittels „Worten und Begriffen“.5 An Hugos französischem Roman Les travailleurs de la mer / Die Arbeiter des Meeres von 1866 hebt Kronauer das „Kräftemessen zwischen der Wirklichkeit des gewaltigen Stoffs [eines menschlichen Kampfs mit den Naturgewalten zur Rettung der Maschine eines Dampfschiffs] und den Wörtern, die sie auf die Buchseiten befördern“, hervor.6 An Henscheids satirischen Poesien der Neuen Frankfurter Schule betont sie „Entwurf und Auffächern […] aus Wirklichkeitspartikeln gespeiste[r] Geschichte[n]“.7 Und den gemeinhin zwischen Klassik und Romantik angesiedelten Autor Jean Paul bezeichnet sie als „eigentliche[n] Realist[en]“, nämlich als einen, „der nicht abläßt von der phantastischen Anmaßung, Herz und Extremitäten beobachteter und vermuteter Wirklichkeit zumindest in einer exemplarischen Abkürzung darzustellen, […] abwechselnd [als] Ekstatiker und Spötter, Idylliker und Verzweifelter“.8

Bezüge lassen sich aber auch zwischen Jean Paul und Raabe herstellen, worauf Kronauer selbst hingewiesen hat.9 Denn die selbstreflexive Prosa Jean Pauls gehörte ebenso zur bevorzugten Lektüre Wilhelm Raabes, Vergleiche zwischen beiden Autoren sind schon zu Raabes Lebzeiten, z.B. von Fontane, allerdings meist in polemischer Absicht angestellt worden. Sie trugen Raabes komplexen, häufig vielstimmig perspektivierten Erzähltexten den Vorwurf eines ‚unorganisch, ja unverständlich barocken‘ und zutiefst subjektiven Schreibstils ein, dem es an jeglicher ‚Objektivität‘ mangele10 – und damit an einem der wesentlichen Kriterien in den Programmen Bürgerlicher Realisten wie Julian Schmidt oder Gustav Freytag. Raabes Meta-Realismus seiner kommentierenden, abschweifenden oder unzuverlässigen Erzähler erinnert eher an Jean Paul und Laurence Sterne und strebt daher weniger eine barrierefreie literarische Illusion der Wirklichkeit an, wie etwa der realistisch-psychologische Gesellschaftsroman Balzac’scher Prägung, als dass er auf literarische Mechanismen der Wirklichkeitskonstruktion aufmerksam macht. Damit jedoch liegt gerade Raabe, von Kronauer lange ignoriert, am Schluss von ihr jedoch umso häufiger und intensiver ins Spiel ihrer Überlegungen gebracht, ganz auf der Linie ihres eigenen poetologischen Programms einer Revolution der Nachahmung im Sinne einer „Wertsteigerung der Wirklichkeit“.11

So knüpfte Kronauer in den 1970er Jahren an realismuskritische Vorstellungen des französischen Nouveau Roman an und radikalisiert diese. Dazu nutzt sie häufig leicht erkennbare narrative oder religiöse Modelle, zumeist gespiegelt in bekannten bildkünstlerischen Darstellungen, als Strukturelemente für die Handlungsführung und Figurencharakteristik ihrer literarischen Texte. So etwa Anekdote, Sprichwort und Kalendergeschichte bei der begabten Erzählerin und Lebenslaufkonstrukteurin Frau Mühlenbeck in ihrem ersten Roman Frau Mühlenbeck im Gehäus (1980). Sein Titel spielt zugleich auf den heiligen Hieronymus bzw. auf dessen berühmte Darstellung als Gelehrter in seiner Studierstube in Albrecht Dürers Kupferstich Der heilige Hieronymus im Gehäus an, um dadurch Geborgenheit wie Beengung des narrativ erzeugten, sinngebenden Wirklichkeits-‚Gehäuses‘ von Frau Mühlenbeck zu veranschaulichen.12 In ihrem Roman Das Taschentuch von 1994 demonstriert Kronauer über das religiöse Schema hingegen die Etablierung eines Romanhelden. Hier lässt sie ihre schriftstellernde Ich-Erzählerin Irene Gartmann alle Register ziehen, um den unscheinbaren, aber liebenswerten Apotheker im weißen Kittel mit dem sprechenden Namen Willi Wings (‚wings‘: englisch für ‚Flügel‘) explizit als engelhafte „Legende[n]“-Gestalt, Helden und Verklärer des Alltags mit ‚Heiligenattribut‘ (das titelgebende Taschentuch) und ‚mystischen Absencen‘ zu etablieren.13 In ihrem letzten Buch, den „Romangeschichten“ Das Schöne, Schäbige, Schwankende (2019), nutzt Kronauer darüber hinaus die allegorische Bestiariums-Tradition der mittelalterlichen Tierdichtung, indem sie im umfangreichen zweiten Teil Menschen als Vögel porträtiert. Damit demonstrieren Kronauers Texte die Wirkungsmacht überlieferter Wahrnehmungsmodellierung, welche durch solche Verfahren literarischer Illusionskonstruktion offengelegt werden. Kronauer kehrt also die traditionellen Vorstellungen künstlerischer Mimesis als nachahmender Darstellung von Wirklichkeit regelrecht um und holt Illusionskonstruktionen zugleich in ihre Literatur hinein, um diese als lebensnotwenige „Ideologien der Wahrnehmung“14 auszustellen.

Als einen Vorläufer in dieser Richtung interpretiert Kronauer ungefähr seit den 2010er Jahren auch Raabe, worauf am Ende noch zurückzukommen sein wird. Er erscheint ihr darüber hinaus aber auch in anderer Hinsicht verwandt. Da ist vor allem sein frühes Interesse an Ökologie, Umwelt- und Lebensraumzerstörung. Ein Thema, das Kronauer, wie sie selbst immer wieder betont und in den häufigen Natur-, Landschafts- und Tierbetrachtungen ihrer Werke verarbeitet hat, „wohl am allernächsten steht“.15 So gilt Raabes später Roman Pfisters Mühle (1884) als erster deutscher Umweltroman in ökokritischer Perspektive. Er thematisiert die von Raabe selbst erlebte Flussverschmutzung durch eine Zuckerfabrik in der Braunschweiger Gegend, was zu Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei betroffenen Wassermühlen und der Zuckerfabrik führte. Kronauer kommentiert dies in ihrer 2011 abgehaltenen Wiener Poetik-Vorlesung mit dem Titel Über Politik in der Literatur folgendermaßen:

 

Raabe hebt diesen Fall mühelos vom Episodischen ins Exemplarische, und das nicht allein, weil sein ökologischer Zorn, der die meisten seiner Romane durchbebt, vom melancholischen Wissen um den unaufhaltsamen Gang der Zeit und des Fortschritts getönt ist. Er weitet, bei aller Inbrunst, mit der er sich der untergehenden Idylle annimmt, den Aspekt der Zerstörung […] stofflich und strukturell aus, etwa in der Darstellung der Destruktion eines Außenseiters bis zur Selbstzersetzung […] und in dem alles durchziehenden, von niemandem mit einem Gerichtsentscheid aufzuhaltenden unaufhörlichen Wirken der Zeit. Deren Erosionsattacken bilden das Erzählmuster. Ebenso tut es aber der Widerstand dagegen, das Erinnern, das Notieren, der Vorgriff auf die Zukunft, das Konstruieren einer temporären Räumlichkeit, eines Hin- und Herspringens zwischen den Zeiten.16

 

Aber auch gründerzeitliche Urbanisierung, der historische Bauten und Gartenanlagen zum Opfer fallen bzw. in moderne Industriezonen umgewandelt werden, sind, etwa in Raabes Texten Meister Autor oder Die Geschichten vom versunkenen Garten (1874) und Die Akten des Vogelsangs (1896), sein Thema. Im Unterschied zur Mehrzahl der naturalismusskeptischen Poetischen Realist*innen seiner Zeit stellte er sich damit durchaus den damals wie heute aktuellen sozialen Problemen.17 Raabes Zuneigung, so Kronauer, gilt dabei „unverbrüchlich den Armen, Bedrängten, den Tieren in Friedens- und Kriegszeiten“, den als vorgeblich überflüssigen Nebensächlichkeiten an den Rand gedrängten Außenseitern und Einzelgängern im Konflikt mit der Mehrheitsgesellschaft schon seit ihrer Schulzeit.18 Diese gesellschaftskritische „Materie“ jedoch, darauf legt Kronauer mit Blick auf Raabes Texte wie auch auf ihre eigenen Produktionen Wert, bleibe immer „fest eingebunden in die Netze seiner narrativen, seiner Formkünste […] von verwirrendem Raffinement und erst allmählich gewürdigter Modernität“.19 Als Leser werde man so „[z]ugleich […] Zeuge und Teilhaber einer Welt, in der das baumeisterliche Vergnügen an den Funktionen epischer Artistik und der Schmerz über die zerstörerischen Energien der Menschennatur kein Widerspruch, sondern einander antreibende Kräfte sind“.20

Genau das ließe sich aber auch auf Kronauers eigene Texte beziehen, denen häufig zu Unrecht gesellschaftskritische oder politische Aspekte abgesprochen worden sind. ‚Epische Artistik‘ stand in der überschaubaren Rezeptionsgeschichte der Büchner-Preisträgerin, wenn überhaupt, zumeist im Vordergrund. So wurde sie – wie auch Raabe in seiner Spätzeit – zur schwer verständlichen Autorin stilisiert, lesbar höchstens von einer Handvoll Germanist*innen. Man warf ihr vor, „mal grob, mal mit sanftem Kopfschütteln, vom sogenannten Plot nichts zu verstehen“. Kronauer lässt diese Unterstellung „narrative[r] Impotenz“ gleich zu Beginn ihres letzten Geschichtenromans Das Schöne, Schäbige, Schwankende mit deutlichem Selbstbezug eine ihrer vielen schriftstellernden Ich-Erzählerinnen ironisch resümieren. Woraufhin diese mit dem ‚leicht aggressiv gemeinten‘, vorläufigen Titel ihres neuen Manuskripts namens „Glamouröse Handlungen“ reagiert.21 Denn Kronauer interessierte immer beides, wie sie es stellvertretend auch an Raabe analysiert hat: ‚Epische Artistik‘ und ‚Handlung‘.

Insofern verwundert es nicht, dass Kronauer sich auch in biografischer wie rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht dem zeitlich entfernten Berufsschriftsteller Raabe verbunden fühlte, der, wie sie schreibt, „während seine Romane pessimistischer, aber formal immer neuartiger wurden, von Publikum, Kritik und Verlegern ziemlich im Stich gelassen“ wurde.22 Oder, wie Raabe es selbst 1906, vier Jahre vor seinem Tod, in einer seiner seltenen autobiografischen Äußerungen bekannte:

 

[…] nur für die Schriften meiner ersten Schaffensperiode [von der Chronik der Sperlingsgasse (1856) bis zum Hungerpastor (1864)] […] habe ich Leser gefunden, für den Rest nur Liebhaber, aber mit denen, wie ich meine, freilich das allervornehmste Publikum, was das deutsche Volk gegenwärtig aufzuweisen hat.23

 

Damit verfolgen beide, Raabe wie Kronauer, das, was Kronauer als zeitlosen, „höchst persönlichen, unverdrossen jugendlichen Avantgardeprozeß, jenseits aller literaturwissenschaftlichen Einordnungen“ definiert hat: „ein stetes, individuelles Nachjustieren der einmal für sich entdeckten Formen und Stoffe, möglichst ohne Angst um guten Ruf, Geschäft, Applaus“, egal „ob man dabei zum Außenseiter wird oder es bleibt oder sich zum Liebling von Germanisten und breitem Publikum entwickelt“.24 Wie sich dies nun im konkreten Einzelfall darstellt, soll abschließend an Kronauers Auseinandersetzung mit Raabes Fragment gebliebenem letzten Text, anlässlich ihrer Zürcher Poetik-Dozentur 2012, vorgestellt werden. Es handelt sich um Raabes z.T. autobiografisch grundierten, 1899 begonnenen, 1902 abgebrochenen und 1911 postum veröffentlichten Roman Altershausen.

Worum geht es hier? Die überstandenen Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag wecken in dem renommierten Nervenarzt Fritz Feyerabend den Wunsch, sich durch die Rückkehr an den Ort und die Zeit seiner Kindheit der eigenen Herkunft und Identität zu vergewissern. Denn diese scheinen zu Beginn des Textes nicht mehr selbstverständlich vorhanden zu sein. Zumindest folgt dem späten Erwachen nach den Feierlichkeiten „ein längeres Zusammsuchen, erst der körperlichen Gliedmaßen, sodann der noch vorhandenen geistigen Fähigkeiten“.25 Schließlich angekommen an seinem Geburtsort, der fiktiven Kleinstadt Altershausen, die Züge Stadtoldendorfs trägt, wo Raabe in den 1840er Jahren einen Teil seiner Schulzeit verbrachte, begegnet Feyerabend dem Kindheitsfreund Ludchen Bock. Nach einem Unfall in der Pubertät ist er auf der Kindheitsstufe zurückgeblieben. Minchen Ahrens, Jugendfreundin von Ludchen und Feyerabend, betreut ihn seither. Beide leben in der Vergangenheit, welcher sich Feyerabend erneut annähern möchte. Mit Minchens erzählender Erinnerung an diese Vergangenheit, die für sie immer noch Gegenwart ist, bricht der Text nach gut hundert Druckseiten ab. Der evozierte Eindruck der Zeitlosigkeit einer ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘ wird in einem Traum Feyerabends im Altershausener Hotel noch einmal explizit thematisiert: In einem weihnachtlichen Puppenreigen mit Feyerabend als Nussknacker kommen und gehen die Zeitalter, ohne dass eine fortschreitende Entwicklung erkennbar wäre. Am Ende steht lediglich die Ablösung Feyerabends durch einen fabrikneuen Nussknacker, der weiterknacken wird, allein: „viel anders wurde sie [die Welt] auch nicht durch den neuen Ersatzmann“.26

Kronauer interessiert sich dabei vor allem für Feyerabends Traum sowie für Anfang und Ende dieses letzten Raabe-Werks. Grundsätzlich sieht sie sich hier wieder mit ihrem Lieblingsthema konfrontiert, nämlich mit der „privatideologischen Ausrichtung des erzählten Lebens in Gestalt einer Episodenfolge“.27 Denn das „Mischgenre“ der autobiografischen Lebensbekenntnisse und „Erfindungen ihrer Ich-Darsteller“ ist ja im Wesentlichen charakterisiert durch das Verhältnis von Lebenswirklichkeit und Literatur.28 Das gilt von Des Girolamo Cardano von Mailand eigener Lebensbeschreibung aus dem 16. Jahrhundert über ihren eigenen Roman Frau Mühlenbeck im Gehäus bis zu den gegenwärtigen Selbstdarstellungen und „Wunschbiographien“ in den sozialen Netzwerken des Internet.29

Gleich zu Beginn von Raabes Altershausen wird dies zudem in besonderer Weise in Szene gesetzt: Der prologartige Anfang „schildert und vollzieht im selbstreflexiven Spiel die Konstituierung eines erzählenden Ich im Laufe zunächst eines Bewusstseins- und dann eines Schreibvorgangs“.30 Eine anonyme Erzählstimme springt mit dem Ausruf „‚Überstanden!‘“ mitten in die Handlung hinein – ähnlich abrupte und zunächst unverständlich wirkende Erzählanfänge finden sich häufig auch bei Kronauer –, evoziert dann die Wahrnehmungen des morgendlichen Erwachens, erkennt einen zunächst noch namenlos bleibenden alten Mann als Subjekt dieser Wahrnehmungen und vollzieht schließlich allein durch eine sprachliche wie typografisch hervorgehobene Wendung die identifikatorische Wandlung vom Er- zum Ich-Erzähler und autobiografischen Autor:

 

[…] der [erwachende] Jubelgreis mit den mühsam wieder zusammengesuchten Körper- und Geisteskräften bin

Ich,

nun der Schreiber dieser Blätter.31

 

Dieses ‚Ich‘ ist dabei nicht nur in Kursivschrift gesetzt, sondern zudem als einzelnes Wort mitten auf der Seite platziert, freigestellt von den übrigen Sätzen und Satzteilen, zugleich hervorgehoben und verfremdet. Das Subjekt geht hier also „aus einer sprachlichen Operation als Subjekt hervor, und es erweist sich im Augenblick dieser Identifikation auch als Schreib-Subjekt […]; das Subjekt erscheint [somit] nicht mehr als Urheber, sondern als Effekt der Erzählung.“32 Gleichzeitig entsteht so ein von Raabe im verwirrten Aufwachmoment seines Protagonisten sowohl initiiertes wie negiertes Spiel mit der eigenen Autoridentität. Kronauer, die häufig ja auch mit schriftstellernden Alter Ego-Figuren operiert, kommentiert dies folgendermaßen:

 

Das auffällig gedruckte „Ich“ ist ja nicht Wilhelm Raabe, sondern der ihm vorgeschobene Fritz Feyerabend […], der sich selbst, als der „Schreiber dieser Blätter“, hingegen zwei, drei Seiten später durch die neuerliche Entscheidung gegen ein berichtendes „Ich“ und für die dritte Person Luft und eine schärfer blickende Distanz zu sich selbst verschafft.
Die direkte Sprache einer Konstruktion des Indirekten, der Spiegelung! Die Verwirrung des Helden greift auf den Leser über […].33

 

Eine weitere Spiegelung erfährt Raabes Protagonist Feyerabend dann als austauschbarer Nussknacker im Traum, für Kronauer eine „Maskierung des unaufhörlich perpetuierten Schemas endloser Wiederholung“ im „Regelwerk der Wirklichkeit“.34

Darin sieht Kronauer schließlich auch den Grund für Raabes bewussten Abbruch seines Romans, den er, trotz mehrfacher Aufforderungen durch Freunde und Verleger, nicht mehr vollendet hat: Das Fragment werde dadurch wiederum „in seiner wesentlichen Botschaft […] autobiographisch.“35 Denn was erzählt Minchen kurz vor Abbruch des Textes? Sie erinnert sich an ihre große Liebe, will von dieser besonderen Lebensepisode mit anscheinend tragischem Ausgang berichten, sieht ihr individuelles Ich und persönliches Erlebnis jedoch selbst schon „im Griff des entindividualisierenden Schemas von Groschenromanen“:36

 

Lieber Gott, und wie wenig ist dran gewesen! Nichts weiter, als was alle Tage passiert unter jungem Volk und was auch mir altem Weib passiert ist in jungen Tagen. Bloß ein bißchen von dem, was so bei der Orgel auf dem Jahrmarkt gedruckt verkauft wird und bei der Arbeit – in der Küche, auf dem Felde und im Garten – von uns armen, dummen Dingern gesungen wird zum Vergnügen!37

 

Während Raabes Minchen sich, wie Kronauers Lebenslaufkonstrukteurin Frau Mühlenbeck, in einem solchen Schema zugleich geborgen fühlen mag, muss seiner Figur Feyerabend diese „freiwillig akzeptierte ewige Leier“ nach seiner eigenen Traumerkenntnis vom „eintönige[n] Klischeeprogramm des menschlichen Daseins und seiner [narrativen] Zwangskonstruktion[en]“, so Kronauer, „plötzlich abscheulich in den Ohren gellen“.38 Feyerabend fordert Minchen zwar noch zum Weitererzählen auf, genau in dem Moment jedoch, als Minchen mit dem Strickstrumpf auch ihren Erzählfaden wieder aufnehmen will, bricht Raabes Text in der Druckfassung mit einer Zeile von Gedankenstrichen ab.

Der Text inszeniert seinen Fragmentcharakter als offenen Selbstwiderspruch „vom endlosen Enden“.39 Gleichzeitig wird durch die finale Ansammlung von Gedankenstrichen als Auslassungszeichen für unsagbar Gewordenes die Aufmerksamkeit – noch stärker als durch das auffällig gedruckte ‚Ich‘ zu Beginn – auf die materielle Oberfläche von Schrift und Papier gelenkt: Ein Aspekt, der auch hinter Kronauers freigestellten Textblöcken ihrer frühen Prosa, umgeben vom Weiß der Papierseite, steht. Sprache wird so zur reinen Grafik gewandelt, die Schriftlichkeit von Schrift anschaulich gemacht und in einer radikalen Geste der Reduktion und Abstraktion an den Nullpunkt sinnfunktionalen Erzählens vorgedrungen.

Die bei Raabe anfänglich thematisierte Krise des Subjekts erweist sich also als eine Krise des Erzählens ‚realistischer‘ Repräsentation und autobiografischer Lebensdeutung. In der Raabe-Forschung stellt sich dabei die Frage, inwiefern der Autor mit diesem letzten Text an der Erzählstrategie des Poetischen Realismus scheitert, weil er sie nicht mehr einlösen kann, oder ob er den Prozess in die Moderne öffnet bzw. sogar selbst beschreitet. Für Kronauer ist die Sache im Hinblick auf ihr eigenes Lebens- und Schreibthema hingegen klar:

 

Raabe protestiert mit dem denkbar schroffsten Mittel für die subjektive Deutungshoheit des Individuums, gegen das kollektiv gestrickte Lebensdesign, gegen das scheinbar übermächtig Maschinelle der üblichen Existenzperspektive, gegen das ausweglos alles Private und Persönliche Deformierende, ja Kupierende eines konventionellen Musters im Leben, wie im Erzählen von ihm, nach der gängigen Leiermelodie. Diese Art von Generalstreik, von Totalverweigerung gegenüber der gesellschaftlichen Dressur und dem Soll des Genres ist ein grobes Geschütz, sein gröbstes.
Sein Verstummen ist ein wortloses Sich-Abwenden, ist formale Konsequenz, ein dröhnendes Schweigen plötzlich, mit jenem unverkennbaren, hier: dissonanten Nachhall, der sich in der Kunst des Romans nicht der Betroffenheit, sondern allein deren betroffen machender Formulierung verdankt.40

 

Wo Raabe offensichtlich nicht mehr weitererzählen konnte, gelang Kronauer hingegen das Paradoxon, im Angesicht der Moderne und ihrer berechtigten Kritik am konventionellen Geschichtenverlauf Geschichten erzählen zu können, „ohne rückfällig zu werden“.41

 

 

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1Brigitte Kronauer: Redseliges Bollwerk. Wilhelm Raabe – eine Entdeckung. In: Dies.: Favoriten. Aufsätze zur Literatur. Stuttgart 2010, S. 14-19, hier S. 14.

 

2Vgl.: Selbstporträt in Antworten auf einen Fragebogen. Antworten von Brigitte Kronauer auf den Proust’schen Fragebogen der ‚F.A.Z.‘ [1987]. In: Literarisches Portrait Brigitte Kronauer. Hg. von Bettina Clausen u.a. Stuttgart 2004, S. 59-62, hier S. 60; Theodor Fontane. Archibald Douglas. In: „Die Augen sanft und wilde“. Balladen. Ausgewählt und kommentiert von Brigitte Kronauer. Stuttgart 2014, S. 204-209, hier S. 209; Brigitte Kronauer: Ein Romanriese. In: Dies.: Poesie und Natur. Stuttgart 2015, S. 157-183, hier S. 160.

 

3Martin Swales: Epochenbuch Realismus. Romane und Erzählungen. Berlin 1997, S. 24.

 

4Vgl. Brigitte Kronauer: Wirkliches Leben und Literatur [2012]. In: Dies.: Poesie und Natur, S. 65-84, hier S. 73; Brigitte Kronauer: Kleine poetologische Autobiographie. In: Sprache im technischen Zeitalter 42 (2004) 171, S. 267-282, hier S. 268.

 

5Vgl. Eduard Mörike. Die schlimme Gret und der Königssohn. In: „Die Augen sanft und wilde“, S. 181-189, hier S. 189; Brigitte Kronauer: Das Idyll der Begriffe. Zu Adalbert Stifter (1978). In: Dies.: Favoriten, S. 145-153, hier S. 153 u. S. 145.

 

6Brigitte Kronauer: Das Meisterwerk als Katastrophe. Zu Victor Hugos „Die Arbeiter des Meeres“ [2004]. In: Dies.: Favoriten, S. 124-131, hier S. 127.

 

7Brigitte Kronauer: Henscheids Poesien. Aspekte zu seinem Werk [1993]. In: Dies.: Favoriten, S. 175-196, hier S. 193.

 

8Brigitte Kronauer: Die Lerche in der Luft und im Nest. Zu Jean Paul [1988]. In: Dies.: Favoriten, S. 197-198, hier S. 197.

 

9Kronauer: Ein Romanriese, S. 161.

 

10Christoph Zeller: Jean Paul. In: Raabe-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Dirk Göttsche u.a. Stuttgart 2016, S. 343-348, hier S. 343.

 

11Vgl. Brigitte Kronauer: Die Revolution der Nachahmung. Göttingen 1975; Brigitte Kronauer: Literatur und Staubmäntel [1990/91]. In: Dies.: Literatur und schöns Blümelein. Graz und Wien 1993, S. 13-18, hier S. 18.

 

12Vgl. Julia Bertschik: Propheten des Alltags – Poetiken einer ‚Neuen Nebensächlichkeit‘ in der Gegenwartsliteratur, besonders bei Brigitte Kronauer. In: Alltag als Genre. Hg. von Heinz-Peter Preußer und Anthonya Visser. Heidelberg 2009, S. 191-206.

 

13Vgl. Brigitte Kronauer: Das Taschentuch. Roman. Stuttgart 1994, S. 205; Julia Bertschik: Die Einöde und ihre Propheten. Demonstrative Legendenbildung bei Brigitte Kronauer. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 34 (2002) 2, S. 75-86.

 

14Brigitte Kronauer: Nachwort. In: Dies.: Die Wiese. Erzählungen. Stuttgart 1993, S. 119-126, hier S. 123.

 

15Brigitte Kronauer: Über Politik in der Literatur [2012]. In: Dies.: Poesie und Natur, S. 34-64, hier S. 63.

 

16Ebd., S. 46f.

 

17Vgl. Julia Bertschik: Modernisierung und Industrialisierung. In: Raabe-Handbuch, S. 287-292.

 

 

18Kronauer: Redseliges Bollwerk, S. 17 u. S. 15.

 

19Kronauer: Über Politik in der Literatur, S. 47.

 

20Kronauer: Redseliges Bollwerk, S. 19.

 

21Brigitte Kronauer: Das Schöne, Schäbige, Schwankende. Romangeschichten. Stuttgart 2019, S. 5.

 

22Brigitte Kronauer: Die Wirksamkeit auf der Zunge. Vorbemerkung. In: Dies.: Favoriten, S. 9-13, hier S. 10.

 

23Brief Wilhelm Raabes an [Hans] Müller-Brauel vom 9.8.1906. In: Wilhelm Raabe: Briefe. In: Ders.: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe. Erg.-Bd. 2. Göttingen 1975, S. 467-469, hier S. 468.

 

24Brigitte Kronauer: Über Avantgardismus [2011]. In: Dies.: Poesie und Natur, S. 7-33, hier S. 21 u. S. 33.

 

25Wilhelm Raabe: Altershausen. In: Ders.: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe. Bd. 20. Göttingen 1968, S. 203.

 

26Ebd., S. 297.

 

27Brigitte Kronauer: Ein Fragment. In: Dies.: Poesie und Literatur, S. 137-156, hier S. 141.

 

28Ebd., S. 142.

 

29Ebd., S. 143.

 

30Heinrich Detering: „Altershausen“. In: Raabe-Handbuch, S. 256-259, hier S. 257.

 

31Raabe: Altershausen, S. 203f.

 

32Detering: „Altershausen“, S. 257.

 

33Kronauer: Ein Fragment, S. 145f.

 

34Ebd., S. 153f.

 

35Ebd., S. 154.

 

36Ebd.

 

37Raabe: Altershausen, S. 312.

 

38Kronauer: Ein Fragment, S. 154f.

 

39Detering: „Altershausen“, S. 258.

 

40Kronauer: Ein Fragment, S. 155f.

 

41Vgl. Brigitte Kronauer: Ist Literatur unvermeidlich? In: Die Sichtbarkeit der Dinge. Über Brigitte Kronauer. Hg. von Heinz Schafroth. Stuttgart 1998, S. 12-27, hier S. 24; Julia Bertschik: Glanz der Oberfläche. Frau Mühlenbeck im Gehäus als Bildungs-Roman. In: Brigitte Kronauer. Narrationen von Nebensächlichkeiten und Naturdingen. Hg. von Tanja van Hoorn. Berlin und Boston 2018, S. 23-38, hier S. 34.