Izabela Bartosz: Abenteuer des Blicks. »Rita Münster« und »Berittener Bogenschütze« von Brigitte Kronauer als ein literarisches Plädoyer für das Schauen der Welt

Beitrag von Izabela Bartosz für die Veranstaltung „Brigitte Kronauer – nichts ist mehr so, wie es einmal war“

 

In einer Radiosendung im Deutschlandfunk am 24.01.2016 – einem Gespräch mit Brigitte Kronauer und Andrea Grill, einer Biologin und Schriftstellerin1 – hat die Autorin eine Beunruhigung, eine Besorgnis ausgedrückt, ob Menschen denn noch überhaupt der Natur, den Pflanzen in ihrer wahren, natürlichen Erscheinungsweise als Oberfläche, als Gestalt Interesse entgegenbringen wollen. Diese Sorge wurde unter anderem ausgelöst durch die von ihr konstatierte und von der Wissenschaftlerin bestätigte Herangehensweise der Biologiestudent*innen, vor allem der der Molekularbiologie, an die Pflanzen. Für sie wäre nämlich die Erforschung der DNA-Struktur von Pflanzen viel interessanter als deren Beobachtung in der natürlichen Umgebung.

Warum soll das ein Grund zur Besorgnis sein? – könnte man fragen. Ist denn der sezierende Blick der Wissenschaftler*innen in die tiefsten Strukturen der Natur ein gefährliches Unterfangen ihr gegenüber? Gewiss nicht. Aber der besorgten Frage der Schriftstellerin Kronauer kann man entnehmen, dass sie die schwindende Neugier auf die Welt draußen mit Bedauern zur Kenntnis nimmt. Es ist ein Bedauern um die versäumte Gelegenheit intensiver ästhetischer Erlebnisse, die die Dinge und die Natur einem anbieten, wenn man ihnen nur etwas Aufmerksamkeit schenkt.

Dies als ein Versäumnis zu begreifen, mag heute schwerfallen angesichts der Attraktivität von virtuellen Welten, digital vermittelten oder gar präparierten Bildern sowie Filmen. Die künstlerische Literatur, die sich heute gegen die verführerische Kraft jener Medien zu behaupten hat, „konkurriert“ mit der Realität draußen nicht, sondern sie führt uns ihr zu. In einer Poetik-Vorlesung unter dem Titel: Literatur und wirkliches Leben, abgedruckt in der Sammlung: Poesie und Natur, antwortet Brigitte Kronauer auf die Frage: Wozu Literatur? unter anderem so:

 

Literatur erfrischt und verfeinert unsere Sinne durch eine Ermutigung. Sie zeichnet uns nicht allein Formen des Hörens, Riechens, Schmeckens vor, jenseits der uns umgebenden Abgedroschenheit. Sie beweist uns: Nicht eigentlich unsere Wahrnehmungen sind eingebettet in Pauschalisierung, nicht die Dinge sind verbraucht. Nur die Vereinbarungen, die von Milieu und Medien gestatteten Kürzel, die kollektiv erlaubte Verständigung darüber ist es.2

 

Die Leser*innen Kronauerscher Texte wissen, wie sehr ihre literarischen Werke diesen Anspruch an Literatur einlösen. Man denke allein an die Wirkung der in ihnen wiederkehrenden Schilderungen von Bäumen und der rot-gelb-golden schimmernden Blätter im Herbst. Die Feder der Autorin ‚malt‘ diese Jahreszeit als den „leidenschaftlichsten Zustand“3 des Jahres. Solches Bild des Herbstes entsteht nicht nur dank einer Vielfalt von Perspektiven, Schattierungen und Beleuchtungen. Aber durch die Darstellung der intensivsten Farbenpracht der Blätter, des Flackerns der Bäume als Manifestation der Höchstleistung der Natur, als der Höhepunkt vegetativer Kräfte, der ekstatische Moment der Natur also, auf den dann eine Auflösung folgt: „der Frost, der Tod, die Kahlheit, die Askese“ (BB, S. 396). Nicht mehr wegzudenken auch ist beim Betrachten der herbstlichen Landschaft jene metaphysische Dimension des Herbst-Spektakels – das Wirken der innersten Kraft oder Energie der Natur, von der in den folgenden Sätzen die Rede ist: „Ohne Schatten leuchteten die Buchen aus sich selbst, unendlich sich erschließende Gebäude. […] das Glühen der Bäume, am Boden die vom trüben Himmel unabhängige Helligkeit.“4

Welch einen erfrischenden, sensibilisierenden und bereichernden Einfluss solche Beschreibungen in Kronauers Prosa ausüben, kann zumindest die Verfasserin dieses Essays bezeugen. So emphatisch das klingen mag, so wahr ist es.

Brigitte Kronauer war eine leidenschaftliche, leicht zu begeisternde Naturbeobachterin, und als Schriftstellerin konnte sie sich das Schreiben ohne Naturdarstellungen nicht vorstellen. Sie sagte einmal von sich, sie „arbeite mit puren Naturaugenblicken“5. Und wie sie damit arbeitet, das kann man wohl am besten in den Romanen Rita Münster und Berittener Bogenschütze verfolgen. Der erste stellt, grob formuliert, einen Prozess der Selbstfindung der Titelfigur und Ich-Erzählerin Rita Münster dar. In drei Kapiteln werden drei Anläufe an das (Re-)Konstruieren eines deutlichen Selbstbildes geschildert, an das Selbstbild einer innerlich diffusen, in einem Zustand der Apathie sich befindenden Person. Zuerst noch ganz vage vorgehend, zeichnet sie erste, schwache Konturen von sich selbst. In dem zweiten Teil, in einem sich durch strenge Struktur auszeichnenden Kapitel, schildert sie die Zeit des Erwachens der Liebe, des Wartens auf die Begegnung mit dem geliebten Mann und der Sehnsucht nach ihm. Bei der Begegnung, dem Höhepunkt ihrer Leidenschaft, der in einem Tableau gebannt wird, erfährt sich Rita Münster im Blick des Geliebten als ganze getroffen; und wenn auch diese Liebeserfahrung von kurzer Dauer ist und in eine schmerzhafte Sehnsucht danach mündet, wirkt die Kraft des Blickes nach. In der Phase der Ernüchterung scheint die Ich-Erzählerin einen Schlüssel gefunden zu haben, mit dem sie die Partikel ihrer selbst zu einem Selbstbild sammeln kann. Im letzten Teil des Romans erinnert sie sich an bestimmte Kindheitsepisoden, aus denen sich ihre Charakterzüge, Neigungen und Vorlieben abzeichnen, sodass sie sich selbst als Person greifbar wird. So deutlich konturiert, also auch abgegrenzt von der Welt als autonomes Ich, fasst sie den Mut, sich ihrem Leben zu stellen. Symbolisch hierfür ist der Moment, in dem die Ich-Erzählerin ihr Pensionszimmer in Rom verlässt und sich durch den Sog der lebhaften Straßen dieser faszinierenden Stadt mit ihren Museen, Türmen und Kirchen mitreißen lässt. Wie neu zum Leben erwacht und wie berauscht von Anblicken der architektonischen Kunstwerke, gelangt Rita Münster zu der lebenssinnstiftenden Einsicht von der Bedeutung des Bildes, das „die Welt durch [ihre] Augen anzunehmen, zu erreichen verlangt“ (RM, S. 270). Einerseits fungiert diese Reflexion als Begründung des Sinns, also als eine Ermunterung zum Schreiben. (Es gibt nur an wenigen Stellen des Romans Andeutungen darauf, dass sie schreibt.) Andererseits steckt in der Reflexion eine in Kronauers Werken implizit formulierte Botschaft an uns alle, die uns umgebende Welt mit eigenen Augen anzuschauen.

Die Hauptfiguren der Romantrilogie – dieser Trilogie des Blicks, wie sie auch in der Forschung genannt wird –, die neben den beiden erwähnten noch den Roman Die Frau in den Kissen6 umfasst, geben sich dem Beobachten, dem Schauen der Welt mit einer geradezu an Sucht grenzenden Vorliebe hin und finden dadurch eine Art Entrückung oder gar Rettung vor dem Immergleichen des Alltags. Die Entwicklungen der Protagonist*innen werden nicht an ihrem Handeln oder im Dialogischen erkennbar, sondern an ihren Betrachtungsweisen, Perspektiven, der Wahl der Objekte ihrer Anschauung und den Reflexionen über das Wahrgenommene. Dabei sind die Betrachtungsweisen sehr vielfältig, von der ästhetischen Kontemplation über imaginatives Sehen bis hin zu einem kreativen Schauen.

Obwohl hier vor allem der visuelle Aspekt des Wahrnehmens interessiert, muss vermerkt werden, dass es der Autorin bei vielen Naturschilderungen darauf ankommt, ein Naturerlebnis als Zusammenspiel verschiedener sinnlicher Reize darzustellen. Manchmal wird das Brausen der Blätter oder der Geruch von Tieren zum Erlebnis. Ihre Figur, Rita Münster, ist der Autorin in ihrer Begeisterung für Tiere und Naturaugenblicke ähnlich. Sie wohnt mit ihrem Vater in einem Haus am Rande einer Großstadt zusammen. Auf ihren Spaziergängen geht sie dieselben Wege ab: im Tierpark, am Fluss. Aus dem Fenster betrachtet sie ihren Garten, der manchmal für kleine Sensationen sorgt, wenn sich darin überraschend ein Falke blicken lässt. Etwas Sensationelles kann für die sensible Beobachterin aber auch ein plötzlich „anschwellender Glanz“ hinter den Zweigen sein, der sich dann als ein zunehmender Nebel erweist. Es sind also natürliche Erscheinungen: Lichtreflexe, die die Pflanzen besonders günstig beleuchten, sodass ihre Konturen oder Farben deutlich hervortreten, ein Windhauch, das Wetter, die etwas schön oder interessant erscheinen lassen. Aber manchmal sind außergewöhnliche Eindrücke die Leistung eines besonderen Blicks der Betrachtenden:

 

Dazwischen wieder Augenblicke, Tage, Stunden, ich achte nicht darauf, wie lange es dauert, wo ich nur irgendeinen x-beliebigen Punkt ansehen muß, an einer Baustelle, durch eine schmutzige Scheibe, auf einem Acker mit Wintersaat, egal, schon beginnt die Stelle aufzuglühen. (RM, 69)

 

In dem poetischen Bild des Aufglühens der Dinge wird die Wirkung einer besonderen Art ihrer Betrachtung veranschaulicht. Es ist das Sehen, das übliche Wahrnehmungsmuster, die von Routine, Schematismus und Gewöhnung geprägt sind, verwirft. Denn durch den Filter von tradierten Wahrnehmungen gesehen, werden Gegenstände und Erscheinungen in ihren Eigenschaften festgelegt und als bekannt und banal, also gar nicht mehr für anschauenswert gehalten. Das Verwerfen dieser Muster befreit die Dinge aus der Erstarrung im Gewöhnlichen, nimmt den Dingen ihre bekannte Oberfläche und legt deren ästhetische Potentiale frei, sodass sie sich auf einmal als originell, schön, interessant erweisen: „Nur ein bißchen Aufmerksamkeit, schon schlagen die Dinge, als hätten sie auf der Lauer gelegen, mit verzehnfachter Zuneigung zurück […]“ (RM, 126).

Freilich ist die Wahrnehmungsweise mit der momentanen Disposition des Betrachtenden verbunden: der Stimmung, der Lebenssituation und nicht zuletzt mit der Zeit. In der Monotonie des Alltagslebens können plötzlich „aufgefangene“ schöne Anblicke zu schockartigen Erlebnissen werden, die Rita Münster aus ihrer Schläfrigkeit aufrütteln und ihr Bewusstsein in einen Zustand höchster Wachsamkeit und Ergriffenheit bringen. Sie durchbrechen die Gleichförmigkeit und Ereignislosigkeit des Alltags. In den geglückten Momenten scheint „sich die Gegenwärtigkeit des Lebens auf sinnlich wahrnehmbare Weise mitzuteilen“7.

Um sich vor der Ereignislosigkeit des Lebens zu retten, lässt sich Rita Münster für ein Jahr beurlauben und gönnt sich so viel Zeit, in der sie sich dem Anschauen der Natur nach Herzenslust hingeben kann. Zwischen der Dynamik der Veränderungen in der Natur, der sich ändernden Intensität des Sonnenlichts innerhalb der Monate und Jahreszeiten, von November bis November, und dem Stimmungs- und Gefühlsbarometer der Ich-Erzählerin bestehen deutliche Parallelen: auf die ruhige Nüchternheit und Schläfrigkeit im späten Herbst und im Winter folgen ein riesiger Energieschub und ein Erwachen, durch die erste Begegnung mit der Figur Horst Fischer im April ausgelöst. In der Zeit bis Juni steigern sich die Gefühle von freudiger Anspannung des Wartens auf das zweite Treffen mit ihm bis hin zur Euphorie und Ekstase. Durch die zeitliche Verortung des zentralen Erlebnisses zwischen April und Juni entsteht eine Symmetrie in der Wahrnehmung des Jahres. Mit dem wachsenden Abstand von der Liebesbegegnung nimmt ihre Ausstrahlung ab, und ins Leben der Protagonistin schleicht sich wieder das Nüchterne des Alltags ein, das von der schmerzhaften Sehnsucht geprägt ist, bis sich ihrer die Apathie bemächtigt. All diese Wandlungen von Gefühlen und Bewusstseinszuständen spiegeln sich in den Wahrnehmungen der Landschaft und der Tiere. Nicht immer korrespondieren die Naturanblicke mit den momentanen Befindlichkeiten der Ich-Erzählerin. Aber sowohl Kontraste als auch Entsprechungen, die sie in den optischen Eindrücken findet, werden mal als Begütigung, mal als unwillkommene Herausforderung empfunden. So oder so erlangen die Naturanblicke, darunter die von Tieren diese äußerst wichtige Bedeutung: in ihnen finden unsere Gefühle eine Art Entladung, eine Mündung, darunter vor allem jene weder in ihrem Ursprung noch durch ein Ziel zu definierende Sehnsucht. Sie ist das viele Figuren der Romane Kronauers durchdringende Gefühl; und von ihm handelt schließlich der Roman Verlangen nach Musik und Gebirge8.

Solche Sehnsucht treibt den Protagonisten des Romans Berittener Bogenschütze, Matthias Roth, an eine italienische Seeküste. Er ist, im Gegensatz zu Rita Münster, jemand, für den die Natur als Betrachtungsobjekt nicht viel zu bieten scheint. Umso überraschender und umso heftiger wird er von einem puren Naturaugenblick in einer Vollmondnacht gepackt, was diese wunderschöne Passage veranschaulicht:

 

Dieser Vollmond war der Einbruch, die Annäherung eines strahlenden, darüber ausgebreiteten Raumes und eine Intimität fast, die persönliche Zuwendung einer hellen Masse über der Dunkelheit. Er drehte sich einmal im Kreis und stützte sich dann gegen den Eisenpfosten eines Drahtzauns, der eine einfache Villa, die er bisher nur im Tageslicht kannte, umgab. In einem milchigen Meer schwamm Matthias Roth, das Meer kam und füllte die ganze Bucht, er trieb vom tiefen, tiefen Boden bis zur Oberfläche als Seepflanze, als willenloser Organismus ohne Eigensteuerung, angelockt vom Mond, herbeigezwungen vom Mond. Die Oberfläche aber war der Himmel. Man trieb, auch wenn man an einem Platz fest wurzelte, mit der äußersten Spitze über die beleuchteten, nächtlichen Gründe der Macchia, stieg auf und erschöpfte sich, entfaltete sich und sank zusammen im zugleich sanften und kalten Licht, das den ganzen Raum ungehemmt füllte, viel nachdrücklicher füllte als das Sonnenlicht, das gewohnte, flutete die Hänge hinab und erreichte die ungeheure, an ihrem Ende wieder das Firmament berührende See. Er war ein schwankendes, wehendes Wassergras, eine an Land hilflose, in ihrem Element aber luftig durchströmte Qualle von beträchtlichem Leibesumfang, von freundlichen Strömungen fortgespült und herumgeworfen, spielerisch zu Hand- und Kopfstand gewendet und ohne Gewicht. (BB 256-257)

 

In der geschilderten Szene lässt Brigitte Kronauer den Protagonisten des Romans einen puren Naturaugenblick dermaßen intensiv erleben, dass er in Ekstase gerät, die hier mit den Bildern einer luftig durchströmten Qualle oder eines schwankenden, wehenden Wassergrases gezeigt wird. Die Macht dieses Anblickes ist so überwältigend, dass sie alle bisherigen Formen seines Umgangs mit den angeschauten Dingen und der Natur obsolet macht. Denn bisher hat ihm ein Panorama, ein Anblick erst dann gefallen, wenn er sich „zur Deckung bringen ließ mit einer langgehegten Vorstellung, dem Motiv eines alten Bildes, mit einem sich anbietenden Vers“ (BB, 257). Diesmal wird er ohne diese Wahrnehmungstricks von einem Anblick im wortwörtlichen Sinne hingerissen und auf den Kopf gestellt. Aufschlussreich ist, was Dörte Thormählen zur Bedeutung der Figur eines auf den Kopf Gestellten angemerkt hat:

 

Dieses Bild erinnert an die Karte des Gehängten im Tarotspiel, die dem Ratsuchenden eine Blickverschiebung auf die Dinge der Welt orakelt und auf die Grenzen rationaler Weltaneignung aufmerksam macht.9

 

Das Erlebnis der Vollmondnacht an der italienischen Meeresküste kündigt einen Wandel in der Wahrnehmungsweise des Helden an. Im Zustand der Begeisterung, Emphase sogar, reflektiert er darüber an dem darauf folgenden Tag:

 

Er sah auf die nackten Dinge […]. Es gab keine Vorbilder mehr, er war für sich. Er mußte sich von jetzt an selbst durchschlagen an eine unbekannte Küste, eine Landkarte anfertigen, es existierte noch keine für ihn. Alles war nur eine Sache zwischen ihm und den Gegenständen, ohne Beschreibungen und Vorhersagen. […] Dieselbe Welt von gestern war eine andere als die vor kurzem, und unbeschriftet. […] Ein ganz neuer Widerstand der Welt hatte sich aufgerichtet und Matthias Roth, zunehmend erregt davon, wollte nicht mehr zurück. (BB, 258-259)

 

Zurück? Nach Hause? Eher in sein Gehäus, um an den Titel des ersten Romans der Autorin Frau Mühlenbeck im Gehäus10 anzuknüpfen. Dessen Titelfigur, eine lebenserfahrene, tüchtige Hausfrau richtet sich im Leben nach geprüften Regeln, Lebensweisheiten und Ordnungsmustern ein, sodass sie gegen Gefahren und ungewollte Überraschungen geschützt bleibt, bis sie aber damit in eine Klemme gerät. In diesem sicheren Gehäus steckt sie wie die Faust im Maul einer großen Dogge – so eines ihrer Traumbilder, ohne Alternative, ohne Hoffnung auf Änderung, etwas Neues.

Matthias Roth hat eine Reise nach Italien gemacht, weil ihm sein ‚Gehäus‘ zu eng wurde. Dass die Fantasien der Entgrenzung mit Lust verbunden sind, bedeutet einen Höhepunkt in seiner Entwicklung, die man als ein allmähliches Abbröckeln eines Panzers veranschaulichen kann, der den Intellektuellen und Feinschmecker Roth vor Zugriffen des profanen Alltagslebens sowie gegen den Gedanken an eigene körperliche Anfälligkeit, das Naturhafte in ihm, schützen soll. Nicht Routinen, sondern kleine Rituale regeln sein tägliches Leben, das er in seiner Mansardenwohnung führt. Dazu gehören etwa die allmorgendlichen Besuche der Vermieterin Frau Bartels, die ihn mit Klatsch versorgt, sowie lange Telefongespräche mit Freunden, die seine Welt mit Gegenständlichkeit füllen sollen.

Er ist Literaturdozent, „spezialisiert auf Gespenstergeschichten“, der in einer norddeutschen alten Universitätsstadt arbeitet und wohnt. Er schreibt an einem Aufsatz über Joseph Conrad mit dem Titel: „Die Leere, Stille, Einöde im innersten Zimmer der Leidenschaft“. Der Titel drückt seine vorläufige Erkenntnis zur Bedeutung der in Conrads Romanen und Erzählungen wiederkehrenden, zum Tableau erstarrten Liebesumarmungen aus, in denen die unterschiedlich konstruierten Liebesgeschichten gipfeln. Die Geste, in der die Liebenden erstarren, deutet Roth als Inbegriff der Unmöglichkeit und Unerfüllbarkeit der Leidenschaft schlechthin. Diese Deutung Conradscher Liebesumarmungen korrespondiert mit seiner Auffassung von dem wahren Leben, dem er pauschal jegliche Möglichkeit zur Leidenschaftlichkeit abspricht. Auch seine Beziehung zu der Geliebten Marianne, die ihn regelmäßig besucht, aber ihn rasch wieder verlässt, hat, wie er meint, nichts mit einem tiefen Gefühl zu tun; sie ist ein schönes Objekt seiner erotischen Phantasien, eine Verführerin, die ihn in den Zustand der Ekstase zu versetzen vermag. Diese Frau sowie ein mit Pralinen gefüllter Becher auf dem Schreibtisch und etwa die weiße Schürze von Frau Bartels können seinen Anspruch auf Schönheit, Exklusivität und Attraktivität einlösen und gehören somit zu den kostbaren Bestandteilen der Lebenskunst des Ästhetizisten Roth. Sein Blick ist rein selektiv, er ignoriert das Graue und Hässliche und fängt nur das Schöne auf, um es gleich wieder aus dem Blickfeld zu verlieren, denn: „Schönheit, sagte er sich oft genug, darf man nur rasch, im Vorüberfliegen genießen, das bekommt ihr am besten.“ (BB, 53) Das Passieren des trüben, hohlen Treppenhauses mit dem auf einen goldenen Schlangengriff des Etagenfensters im Mittelstock gehefteten Blick kann geradezu als Matrix für seine Wahrnehmung der Welt außerhalb seines Zimmers fungieren. Immer hält er Ausschau nach etwas, was sich von dem Selbstverständlichen und Üblichen des Alltags, der „graue[n] Kulisse für das ordentliche Voranleben“ (BB, 101), abhebt. Seine Aufbrüche aus dem Zimmer lassen sich mit einer Jagd nach gelungenen Anblicken gleichsetzen. Das Revier des Beobachters ist stets derselbe Raum: seine Straße, die Fußgängerzone mit Geschäften, Cafés, ein Restaurant und der Park, der, etwas höher liegend, einen Blick auf die Stadt gewährt. Schon das Passieren seiner langen Straße unterwegs zur Innenstadt ohne eine Idee, sodass nichts währenddessen entsteht, erfüllt ihn mit Widerwillen. Entweder passiert etwas Überraschendes ohne sein Zutun, wie etwa ein plötzliches Erscheinen einer Frau auf hohen Absätzen, deren Hüftbewegungen er studieren kann, oder er muss seine Einbildungskraft bemühen. Denn: „Ohne ein bißchen Glanz auf den Dingen sterbe ich! Man muß ihn sich eben draufzaubern! Ich krepiere sonst!“ (BB, 108). – „Der Glanz ist nicht die Realität, er ist die Zutat, ein Ergebnis höchster Kunstanstrengung und unerlässlich!“ (BB, 139)

An mehreren Stellen des Romans kann man jene Kunstanstrengungen des Protagonisten verfolgen, mit denen er den angeschauten Dingen und Menschen sowie der Natur, die ihm an sich nichts Interessantes zu bieten scheinen, den Glanz des Unheimlichen und Wunderbaren verleiht. Sehr oft beflügeln die Bilder von Vögeln oder exotischen Tieren seine Phantasie. Ob auf der Straße, in einem Café oder Restaurant, immer fügen sich die Menschen in seine imaginären Bilder. Dieser verschönernde Blick ergänzt, was er bei den angeschauten Menschen bemängelt. Sie sollten auf Stelzen laufen oder etwas Theatralisches an sich haben, denn nur so können sie den ihnen von dem Zuschauer Roth zugewiesenen Platz auf der Bühne, die die Welt schlechthin für ihn ist, einnehmen. Ein Beispiel für solchen Umgang mit dem Angeschauten findet man im ersten Kapitel. Mattias Roth befindet sich mit seinem Freund Hans in einem Lokal, in seinen Gedanken etwas abgerückt, streift er mit seinem Blick die Gäste und verwandelt sie in seine Fantasiebilder, und zwar in Vögel. In wenigen, aber wie nicht enden wollenden Sätzen entfaltet die Feder der Schriftstellerin die Pracht der Vögel in ihrer Formen- und Farbenvielfalt, und die Leser*innen sehen, dass diese Feder eine Kennerin im Griff hat.

Brigitte Kronauer hat ihre große Faszination für diese Tiere in mehreren Texten zum Ausdruck gebracht. In Die Frau in den Kissen sind es Möwen, die die Fantasie der Ich-Erzählerin beim Betrachten der Stadt von oben beim Morgenlicht beflügeln. Am stärksten aber prägt die Begeisterung und Liebe zu Vögeln den letzten Roman, Das Schöne, Schäbige, Schwankende11, in dem die menschlichen Figuren schlechthin in ihren Charakteren zu Vogelexemplaren stilisiert werden.

Neben seinem ‚verschönernden‘ Blick fällt noch eine andere Art und Weise auf, in der Roth auf die Menschen, die Natur und Dinge schaut. Und zwar ist es seine Angewohnheit, seine Vermieterin, die Freunde und auch Marianne in einem Bild erstarren zu lassen, mit dem er ihnen dann entgegentritt. Eine Abweichung davon kann ihn aus dem Häuschen bringen.

Mit warmherziger Ironie lässt Kronauer den Ästhetizisten Roth in eine Falle geraten. Denn er wünscht sich nichts inniger als einen Widerstand der Wirklichkeit und stößt durch seine Wahrnehmungsweise, seinen ‚Herrschaftsblick‘ immer wieder auf Projektionen seiner selbst. Der moderne Narziss Roth wird seiner Spiegelungen überdrüssig:

 

Klaffend fuhren Ding und Erwartung auseinander. Das war nichts Neues, aber diesmal übersprang Matthias Roth die Lücke nicht in gewohnter Routine, sondern blieb stehen, unversöhnlich, am Ufer des betrogenen Gefühls. (BB, 188)

 

Der Nicht-Leidenschaftliche lebt nach einem Lebenskonzept, von dem er sich eine relativ glückliche Existenz verspricht. Dazu gehören die Ausrichtung seiner Wahrnehmung auf das Schöne und der Lebensweise auf den Genuss, die Kontrolle von Gefühlen und die Distanzhaltung. Stattdessen überkommt ihn angesichts der glücklichen Freunde das Gefühl, an dem wahren Leben nicht wirklich teilzunehmen, etwas Wesentliches in seinem Leben verpasst und nicht genug wahrgenommen zu haben. Immer häufiger denkt er an seine Vergangenheit zurück und sehnt sich nach der Intensität der Gefühle, nach dem Blick, der in dem Angeschauten Verheißungen gesehen hat. Am Tiefpunkt seiner Krise angelangt, im Moment, in dem Narziss seinen Leib „aushaucht“ und nach dem Fremden trachtet, um seine Lebendigkeit erfahren zu können, ergreift Roth das Bedürfnis, das in sich selbst bewahrte Abbild einer „eigentlichen Originalität“, das er „in der Wirklichkeit sofort auf Anhieb erkannt [hätte]“ (BB, 209), aufzusuchen. Er setzt sich in einen Zug, der ihn nach Italien bringen wird.

Hier, auf seinen Wanderungen durch die wilde Natur, gelingt es ihm, auf die Welt mit dem unverstellten Blick zu schauen. Die Befreiung des Blicks, sodass ein „Einbezogensein in die konkrete Anschaulichkeit der Dinge“12, wie bei einem Kind, möglich wird und in jener Vollmondnacht Roth so glücklich macht, geschieht allerdings nicht auf Anhieb mit der Ankunft an der italienischen Seeküste. Der Städter Roth ist nämlich im Gegensatz zu Rita Münster nicht gewohnt, sich in eine rein kontemplative Betrachtung der Natur zu versenken, denn selten sieht er ihr einfach zu. Innerhalb der städtischen Architektur wird der Natur ein vom Menschen geplanter Raum zugewiesen, begrenzt auf Grünanlagen, Parks, Botanische Gärten und Zoos. So kann Roth nach eigenem Gutdünken bestimmen, in welchem Ausmaß er die Natur auf sich wirken lässt, und es muss etwas Spektakuläres, Ungewöhnliches sein, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Hier, an der italienischen Küste angelangt, fühlt er sich zuerst in seiner bisher beherrschten Betrachtungsweise durch die Pracht der Landschaft überfordert – bei ihrer Vollkommenheit war jegliche Ausschmückung oder poetische Ergänzung nicht nötig. Das wirkt verwirrend, aber auch verheißungsvoll, und diesmal ist es nicht Roths Entscheidung, ob und wie lange er sich den Anblicken aussetzen wird, sondern er folgt einem unwiderstehlichen Drang oder Sog, der von der wilden Natur herkommt. Es ist derselbe Drang, der ihn aus seinem Zimmer und dem Land schließlich an diesen Ort gelockt hat und der dem Begehren des Verdrängten – der eigenen Naturhaftigkeit –, sich aus dem Panzer zu befreien, entgegenkommt.

Roths Konfrontation mit der wilden Natur geschieht also allmählich. Bei der Schilderung seiner Wanderung greift Brigitte Kronauer Motive auf, die in der deutschen Romantik, vor allem in den Kunstmärchen, etwa von Tieck oder Hoffmann, das Eindringen des Helden in die wilde Natur als einen magischen Vorgang und die Natur als einen magischen Raum konstituieren. Dadurch erlangt der erste Aufbruch den Charakter eines Mysteriums, das ein Akt von Demut und Reinigung sein soll, der der Erfahrung der Vollmondnacht und dem darauf folgenden ekstatischen Erlebnis der Einweihung in die Geheimnisse alles Naturhaften vorausgehen muss. Dabei macht er zuerst eine von Glücksgefühl begleitete Erfahrung der Schutz gebenden Natur, um dann angesichts der menschenleeren, undurchdringlichen Natur, von dem Gefühl der Todesnähe ergriffen, sein Ausgeliefert-Sein an ihre Macht demütig anerkennen zu müssen. „Der Leib ist die Natur, die wir sind […].“13 Wie die Leidenschaften, Triebe und Gefühle wird er als das Andere der Vernunft seit dem Beginn des Projekts der Moderne ausgegrenzt und verdrängt. Er teilt im Prozess der Zivilisation das Schicksal der Natur: „er wird zugelassen, soweit er vernünftig ist, eine rational durchsichtige und steuerbare Maschine, als res extensa, Körper“14. Triebe wie Gefühle werden der Kontrolle ausgesetzt, die Leidenschaften exterritorialisiert. Für Roth ist sein Leib die Quelle des Genusses: sei es im Kulinarischen, sei es im Sexuellen. Aber das Bewusstsein des Alterns verstimmt ihn, die Angst vor dem Tod hält er für eine Schwäche und die Gedanken daran werden als geschmacklos zerstreut. Bei seiner ersten Wanderung begleitet ihn stets das Gefühl, als würde er in eine fremde Zone eindringen, wo eine Gefahr lauert. In seiner Phantasie erscheint ihm der Weg seinen Lebensweg abzubilden. Der für Roth ‚bestimmte’ Pfad, den er als eine leichte Abkürzung zurück ins Hotel gewählt hat, erweist sich als eine manchmal nur ertastbare Spur, die ihn dazu zwingt, auf allen vieren zu gehen, denn allein auf das Sehvermögen kann er sich nicht verlassen. Nicht nur sein Tastsinn, sondern auch der Geruchs- und Gehörsinn werden aktiviert: In dem undurchschaubaren Dickicht der Vegetation kann Roth nur an den durch Vögel erzeugten Geräuschen eine Vorstellung über die Weite, Tiefe und Höhe des Raumes gewinnen. Durch diese Reaktivierung der Nahsinne, vor allem des Tastsinns, die im Prozess der Zivilisation zugunsten des Fernsinns – des Auges – verkümmert sind15, erlangt Roths Weg den Charakter einer Rückkehr zu der ursprünglichen Daseinsform des Menschen in der unmittelbaren Nähe zur Natur und seiner Abhängigkeit von ihr. Das Auge als Instrument der Herrschaft versagt, das Subjekt verliert sich. An einem Punkt des Pfads angelangt, wo der Fortgang mit einem Risiko verbunden ist, überkommt Roth der Gedanke an den Tod und diesmal kann er ihn nicht wie sonst ignorieren, und er kehrt um.

Somit gewinnt der erste Aufbruch in die wilde Natur die Bedeutung einer Zurechtweisung, die den Rationalisten Roth zur Anerkennung seiner Unterlegenheit ihr gegenüber zwingt. Die von ihm am nächsten Tag erlittene Wunde am Schenkel wird nicht als irritierender Schmerz abgetan, sondern wird als Ernstfall angenommen, der ihn mit seiner körperlichen Verletzlichkeit versöhnt. Dermaßen vorbereitet, öffnet er sich auf die Emphase der Vollmondnacht. Sie hält länger an und treibt den Helden noch einmal in die Wildnis, als hätte er dort noch etwas zu erledigen. Die Beschreibung der zweiten Wanderung weist eine gewisse Symmetrie zu der ersten auf. Sie führt ihn an den Ort seines Eingeweiht-Werdens in die Geheimnisse der Dinge, was bei Kronauer den Charakter einer mystischen Erfahrung annimmt. Konstitutiv dafür sind neben der romantischen „Schwellenüberschreitung“ (diesmal ist es ein Flüsschen, das zu überwinden Roth als „etwas Prinzipielles“ empfindet) folgende Motive, die als Topoi einer mystisch-kontemplativen Erfahrung fungieren: die „Menschenleere“, das „Eindringen in ein Inneres“, die kostenlose Gabe eines unbekannten Gebers – ein Korb mit Pflaumen –, Distanz zur Welt, das Tal, das mit dem langen „Tisch der Zeremonie“ verglichen wird, ein Wasserfall, wie „eben noch gar nicht vorhanden und nun ausgerechnet ihm erschienen“ (vgl. BB, 268, 269). Der Weg selbst scheint Roth ein Pilgerpfad zu sein, der zu einem Heiligtum, einem Altar führt. Dazu gehört die Erfahrung der außer Kraft gesetzten Zeit: „Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart ereigneten sich zur selben Zeit […] und alle drei Zeitmöglichkeiten lösten sich nicht auf, sondern sprangen zitternd als Lichtfunken hin und her.“ (BB, 269) In diesem magischen Bereich empfindet der Romanheld eine paradiesische Symbiose mit der Wildnis. In seiner Phantasie werden die optischen Reize durch das Licht- und Schattenspiel an den Farnbüschen hervorgerufen und potenziert, sodass sie in ihrer Intensität und Qualität zu einem Epiphanie-Erlebnis führen. In seiner Betrachtung verwandelt sich diese Pflanze mit den wippenden Goldfedern in „gefiederte Pfeile, die, noch vibrierend vom Aufprall, im Boden steckten. Abgeschnellt von einem Bogen, weit entfernt, in der Nähe des Vogelberges vielleicht […]“ (BB, 271). Dass sich Roth an dieser Stelle der Vergleich des Farns mit einem vom Bogen abgeschnellten Pfeil aufdrängt, ist aufschlussreich. Denn das Bild verweist direkt auf eine am Anfang des Romans von Marianne aus einem Kunstbuch vorgelesene Beschreibung der Figur eines berittenen Bogenschützen16, die auf Matthias Roth zutrifft. An dieser Stelle des Romans fungiert das Bild eines von oben in direkter Nähe des Romanhelden ausgelösten Pfeils als eine Botschaft, als göttliches Zeichen, mit dem dieser Bereich des Tals als ein ewiges Reich anzusehen ist.

Am Gipfel der ekstatischen Erhebung enthüllt sich vor Roths Augen das Geheimnis, das die Oberfläche aller Dinge und Wesen verbirgt, eine „lodernde Energie“ im „innerste[n] Zimmer“, der gemeinsame lebendige Kern, der alles zu etwas Allgemeinem verbindet. Er sieht einem momentanen Erglühen der Erde zu und erkennt darin den ersehnten Glanz, der „pochte und atmete durch alle Krusten, schien noch kurz gezähmt zu sein von der äußeren Haut jeder einzelnen, steifen Figur und flammte dann unaufhaltsam in allen Gestalten, ein einziges, allgemeines Brennen […]“ (BB, 273).

Eine derartige Ekstase auszulösen, den Schauenden in den rauschhaften Glückszustand zu versetzen und die Dinge so sehen zu lassen, ist die höchste Leistung des Blicks, die den an der italienischen Küste erfolgten Wandlungsprozess des Sehens krönt. Wenn die Autorin Roth in der ekstatischen Schau der Dinge diese erglühen sehen lässt, und dieses Erlebnis in Topoi einer kontemplativ-mystischen Erfahrung kleidet, so kann das als eine poetische Realisierung ihrer Auffassung von der Macht solch hingebungsvollen, den Dingen ihre Dignität erweisenden Blicks aufgefasst werden. Als poetisches Bild für diesen Blick fungiert jener von der Nähe des Berges, den Roth mit einem steinernen Vogel assoziiert, ausgelöste Pfeil, von dem getroffen die Erde und alle Dinge erzittern und entflammen. Matthias Roth jedoch erweist sich letztendlich unfähig zu solcher Hingabe. Mit dem Erlöschen der Dinge, mit der allmählichen Ernüchterung nach der Ekstase kommt er zur Besinnung, und das heißt, dass er die mysteriöse Vision, in der seine intensive leiblich-sinnenhafte Erfahrung gipfelt, sich begreiflich machen will. Er sucht nach dem Sinn des Geschehens, auf eine dem „männlichen Subjekt“ übliche Weise. Und er findet ihn. Auf die Farnbüsche schauend begreift er plötzlich:

 

daß er vor einem riesigen Regal mit gefüllten Köchern stand, vollgestellt mit gefiederten Pfeilen, die darauf warteten, loszuschnellen „von der Sehne zum Himmelsgewölbe“, alle noch unbenutzt. An diesen allen haftete nicht der Goldschimmer, den er in der Nähe des Wassers beobachtet hatte, oder er war wieder erloschen in ihnen. Sie lauerten darauf, mit ihrer Flugbahn leuchtende Korridore herzustellen, er spürte ihr Verlangen unter dem Himmel des weitgeöffneten Tals. […] Er verstand es ja jetzt! Er konnte der Handlanger der Dinge werden. Er mußte sie ansehen, mit seinen Blicken wie mit Pfeilen und Messern in sie stoßen, bis zu ihrem feurigen, flüßigen, lebendigen Kern, bis zu dem Funken, dem blitzenden Staubkorn, das in ihnen schlief und das etwas Allgemeines, sie Verbindendes war, ein sprühendes Partikelchen unter der stumpfen, abschirmenden, blinden, eben jungen, jetzt welkenden Haut. (BB, 275)

 

Matthias Roth, der eben noch demuts- und hingebungsvolle Pilger, begreift sich als einen Auserwählten, der über das Wesen alles Irdischen aufgeklärt worden ist. Und das Geheimnis will er als ein Wissen wahrhaben, immer und auf alles anwendbar, als „eine Formel, die er in allem erkennen würde“ (BB, 277). Mit seinem „erkennenden Betrachten“ will er von nun an an die Dinge herangehen, „die keine Verschönerung brauchten, sondern eine Enthüllung“. Somit erweist sich der Wandel des Blicks nur als ein Exzess eines Urlaubers, denn er wird mit Roths Ernüchterung sogleich rückgängig gemacht. Dörte Thormählen hat das sehr zutreffend in Worte gefasst:

 

Die emphatischen Naturerlebnisse vermögen keine dauerhaften Veränderungen des Protagonisten zu bewirken. Der unverstellte Blick wird so zu einem kurzen Ausflug in einen von lebendiger Spannung geprägten Weltbezug, denn durch seine neue Formel verbleibt Matthias Roth im Bereich des instrumentellen Weltumgangs. Von seinem Herrschaftsanspruch vermag er sich nicht zu lösen, denn dieser verbirgt sich sowohl in dem ergänzenden als auch in dem enthüllenden Blick.17

 

Roths verstandesmäßige Erklärung des die Grenzen des Rationalen sprengenden Erlebnisses als „etwas Abstraktes“ besiegelt seine Selbstverfehlung. Denn der wissende, enthüllende Blick erweist sich nach seiner Heimkehr als ein Pfeil und ein Messer, die jegliches Geheimnis und jeglichen Zauber an der Natur, Menschen und Dingen ,töten‘. Somit findet der für den Romanhelden gewählte Titel Berittener Bogenschütze seine Berechtigung. Er schaut auf die Welt aus der Perspektive eines Ernüchterten, für den das Geheimnis der Oberfläche, der Gestalt erlosch. Während die Gestalt sich nicht auflösen lässt – meint Brigitte Kronauer in dem am Anfang genannten Gespräch für den Deutschlandfunk. Sie sagt weiter, man verbinde die Gestalt immer mit dem Unendlichen. „Das Bezaubernde an der Natur ist dieses Nicht-Auflösbare der Gestalt.“18 Diese Poetik der Gestalt umfasst aber auch die Dinge.

Die Protagonistin des dritten Teils der Trilogie weiß die Bedeutung jener Unauflösbarkeit der Gestalt für sie zu schätzen. Von ihrer Aussichtsplattform auf ein Stadtpanorama bei anbrechendem Morgenlicht schauend, denkt sie:

 

In unendlicher Entfernung befinden sich Kruste und Kern. Hervorragend. Einen Fehler begeht, wer das zu ändern versucht. Dieses Auseinanderscheren ist meine Chance, hier oben, auf dem Balkon in kühler Morgenluft. Die von mir aus himmlischen, von mir aus apokalyptischen und sterbenslangweiligen Anblicke sind es, die mich prüfen und über Wasser halten. Was ich sehe, ist, so wie ich es sehe, auf mich gemünzt. Alles hat, an seiner Oberfläche, so oder so mit mir zu tun. (FK, 413)

 

Wir wissen nicht, wie die Dinge wirklich sind, sagt Kronauers Protagonistin. Was wir von den Dingen haben, sind ihre Oberflächen, ihre Gestalt und Farbe, die auf uns, je nach der Beleuchtung – durch die natürlichen Lichtverhältnisse sowie unsere momentane Stimmung und Blickperspektive erzeugt –, unterschiedliche Wirkung ausüben. Der Satz „Alles hat, an seiner Oberfläche, so oder so mit mir zu tun“, besagt gerade, dass die Anschauung ein lebendiges Auseinandersetzen mit der phänomenalen Welt bedeutet. Die Wirkung der Oberflächen bestimmt ihre Bedeutung für uns. Das heißt, dass die Oberflächen von Dingen nicht völlig beliebig und willkürlich besetzt werden können. Ihre „nicht täuschende[], täuschende[] Unverhohlenheit“ (FK, 190) regt die Einbildungskraft an und setzt ihr zugleich Grenzen. Ähnlich ergeht es uns, den Lesern der Prosatexte von Brigitte Kronauer. Deren geheimnisvolle Struktur, die Gestalt lässt unsere Einbildungskraft und Gedanken weit schweifen, um sie wieder aufzufangen; und jeder findet eine Auflösung, die für ihn von Bedeutung und auf ihn gemünzt ist.

 

1 Deutschlandfunk Kultur: Poesie und Schmetterlinge. Natur lesen – Natur (be)schreiben, Moderation: Barbara Wahlster. URL: https:// deutschlandfunkkultur.de/poesie-und-schmetterlinge-natur-lesen-natur-be-schreiben.974.de.html?dram:article_id=450863. 30.01.2020.

 

2 B. Kronauer: Poesie und Natur, Stuttgart 2015, S. 81.

 

3 B. Kronauer: Berittener Bogenschütze, 3. Auflage, Stuttgart 1987, S. 396. Alle Zitate aus dem Roman kommen aus dieser Ausgabe und werden im laufenden Text mit der Sigel BB und der Seitennummer markiert. Es wird auch die originäre Schreibweise beibehalten.

 

4 B. Kronauer: Rita Münster, Stuttgart 1983, S. 212. Alle Zitate aus dem Roman kommen aus dieser Ausgabe und werden im laufenden Text mit der Sigel RM und der Seitennummer markiert.

 

5 B. Kronauer: Poesie und Natur, a.a.O., S. 10.

 

6 B. Kronauer: Die Frau in den Kissen, Stuttgart 1990. Alle Zitate aus dem Roman kommen aus dieser Ausgabe und werden im laufenden Text mit der Sigel FK und der Seitennummer markiert.

 

7 G. Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989, S. 374.

 

8 B. Kronauer: Verlangen nach Musik und Gebirge, Stuttgart 2004.

 

9 D. Thormählen: Blickwechsel. Matthias Roth in der Schule des Sehens, in: Text + Kritik 112 (1991), S. 54- 62, hier S. 54.

 

10 B. Kronauer: Frau Mühlenbeck im Gehäus, Stuttgart 1980.

 

11 B. Kronauer: Das Schöne, Schäbige, Schwankende, Stuttgart 2019.

 

12 J. Manthey: Wenn Blicke zeugen könnten. Eine psychohistorische Studie über das Sehen in Literatur und Philosophie, München, Wien 1983, S. 94.

 

13 H. Böhme: Aussichten einer ästhetischen Theorie der Natur, in: J. Huber (Hrsg.): Wahrnehmung von Gegenwart, Basel, Frankfurt am Main 1992, S. 31–53, hier S. 50.

 

14 H. Böhme, G. Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt am Main 1983, S. 14.

 

15 Vgl. „Die Sinne sind nicht gleich dunkel. Die Reihenfolge vom Tasten, Schmecken, Riechen, Hören zum Sehen ist ein Aufstieg in die Nähe zum Geist, der unsinnlich und gerade darum wahr ist. Sicher hat dies mit der Lösung vom vierfüßigen Gang zu tun. Hören und Sehen sind Fernsinne, gehören zum aufrechten Gang, der wiederum die anderen Sinne verkümmern läßt.“ (H. Böhme: Natur und Subjekt, Frankfurt am Main 1988, S. 226).

 

16 Es handelt sich um die Beschreibung der „Figur eines Bogenschützen zu Pferde“ aus dem Ausstellungskatalog: H. Brinker, R. Goepper: Kunstschätze aus China 5000 v. Chr. bis 900 n. Chr. Neuere archäologische Funde aus der Volksrepublik China, Kunsthaus Zürich 1980. Dieser Verweis ist der Nachforschung von Magdalene Heuser zu verdanken, die auf der Suche nach einem Vorbild für die beschriebene Figur in ikonographischen Lexika unter dem Stichwort „Tod“ auf einige mehr oder weniger entsprechende Darstellungen gestoßen war. Heuser zitiert dabei aus einem Brief der Autorin an sie, die die intensive Auseinandersetzung Heusers mit dem Titel des Romans würdigend, dieser ihr Vorbild verraten hat. Vgl.: M. Heuser: „Die Gegenstände abstauben“ und „Mit Blicken wie mit Pfeilen und Messern“. Brigitte Kronauer im Kontext der Gegenwartsliteratur von Frauen lesen, in: M. Knapp, G. Labroisse (Hrsg.): Frauen-Fragen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik, Bd. 29, Amsterdam 1989, S. 343-375.

 

17 D. Thormählen: Blickwechsel, a.a.O., S. 59.

 

18 Wie Anm. 1.