Nach H.P. Lovecraft zeichnet sich weirde Literatur durch eine weirde Atmosphäre aus. Sie bringt uns in Kontakt »mit unbekannten Sphären und Mächten«. Wie hat man sich einen solchen Kontakt vorzustellen? Charlotte Krafft und Anja Kümmel lesen literarische Texte zwischen Old und New Weird. Joachim Kalka spürt den Urgründen des Weirden bei H.P. Lovecraft und Arthur Machen nach. Juan S. Guse überlegt, warum das Internet im Contemporary Weird so eine wichtige Rolle spielt.
7.–8. November 2023
Weird Fiction. Angriff auf die Realität
In einer multiperspektivischen Gegenwart, in der unterschiedliche Realitäten immer schwieriger zu vermitteln scheinen, gewinnt Literatur an Bedeutung, die die Diskontinuitäten von Realitätsbildung selbst zum Thema hat.
Ein literarisches Genre, das sich der Frage nach der Fragilität unserer Sinnhorizonte wie kein Zweites widmet, ist Weird Fiction. Situiert zwischen Fantasy, Sci-Fi und Horror auf der einen Seite und Realismus auf der anderen, finden sich darin Geschichten, die man auf Anhieb nicht zuordnen kann. Sie weisen übernatürliche oder fantastische Elemente auf, doch spielen sie in Erzählwelten, die der Lebenswelt nicht unähnlich sind. Da sind z.B. Menschen, die sich in menschenfressende Tiere verwandeln, Väter, denen Hörner wachsen und Welten, deren Ränder zerfasern. Das alles erscheint aber gar nicht erklärungsbedürftig. Kein Erzähler ordnet das Erzählte ein, es passiert einfach so. H.P. Lovecraft nannte diese Form des Schreckens »kosmische Angst« und die Literatur, die eine solche Atmosphäre entfaltet, »weird fiction«.
An zwei Tagen zur Weird Fiction wird es um Literatur gehen, die mit Wahrnehmungs- und Sehgewohnheiten bricht. Unter dem Eindruck des »Weirden« fordert sie dazu auf, offen zu bleiben für das Nicht-Wissen, für die Grenzen des Verständlichen und für ein sensibles und aufmerksames Lesen. Die Fragen, die Weird Fiction evoziert, überfordern. Was passiert in diesen Texten? Ist das Realität oder Fiktion? Was passiert, wenn gewisse Grenzen überschritten werden? Und warum ist das mit Angst, Schrecken und mit Grusel verbunden? Was haben Tiere und Gewalt damit zu tun? Können weirde Texte einen politischen Beitrag leisten oder sind sie einfach nur Ausdruck einer neoliberalen Entgrenzung und Phantastik?
Projektleitung Jens Winter
Mit freundlicher Unterstützung der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt
Programm
Di. 07.11.2023
Was ist weird an Weird Fiction?
Nach H.P. Lovecraft zeichnet sich weirde Literatur durch eine weirde Atmosphäre aus. Sie bringt uns in Kontakt »mit unbekannten Sphären und Mächten«. Wie hat man sich einen solchen Kontakt vorzustellen? Charlotte Krafft und Anja Kümmel lesen literarische Texte zwischen Old... weiterlesen
Mi. 08.11.2023
Weirde Grenzerfahrungen. Von Natur bis Beziehung
Gefühle der Fremdheit bergen Angst und Schrecken. Sie begegnen uns in Natur, Gesellschaft und in den intimsten Beziehungen. Robert Macfarlane liest einen Auszug aus »Im Unterland«, Rudi Nuss geht der Frage nach, was das Phänomen der Cuteness mit Weirdness zu... weiterlesen
Gefühle der Fremdheit bergen Angst und Schrecken. Sie begegnen uns in Natur, Gesellschaft und in den intimsten Beziehungen. Robert Macfarlane liest einen Auszug aus »Im Unterland«, Rudi Nuss geht der Frage nach, was das Phänomen der Cuteness mit Weirdness zu tun hat, Hanna Hamel erörtert, inwiefern Intimität immer wieder weirde Erfahrungen evoziert und Henrik Otremba liest einen Text über weirde Körpererlebnisse.
Weirde Schreibwerkstatt
LfB School Workshop zu Weird Fiction mit Rudi Nuss am 28.11. und 12.12.2023
Wo fängt Realismus an? Ab wann ist ein Text realistisch? Wo fängt die Realität an? Für Moritz Baßler gebietet ein mittelmäßiger Realismus den Mainstream der Gegenwartsliteratur, der sich immer und immer wieder bloß selbstbestätigt – Werbung für die Realität. Wir schauen in diesem Workshop auf das unrealistische Erzählen, das den Zuständen versucht, zu entfliehen. Doch das ist gar nicht so einfach: Greift man gleich auf die meiste Science-Fiction und Fantasy zurück, dann werden die diegetischen Welten nach wie vor realistisch erzählt – trotz UFOs, Mutanten und fiktiver Planeten. Wie schreibe ich überhaupt „unrealistisch“? Schaut man in Richtung Horror oder Weird Fiction finden wir zumindest etwas, das dem Gefüge des Realismus zu Leibe rückt: In beiden Genres fällt ein Außen in die Handlung ein. Ob beim Lovecraftian Horror, der traurigen Vermengung allen Lebens in VanderMeers Annihilation, den Killervögeln von Du Maurier oder den Alptraumwelten David Lynchs – etwas Traumatisches, Unerklärliches, Transzendentes sprengt den Text und hinterfragt überhaupt die Möglichkeit der Beschreibung selbst. Oder wie Mark Fischer es ausdrückt: In weirden Medien taucht etwas auf, das hier ganz und gar nicht hingehört. Wo Inneres und Äußeres Grundkategorien aller Literatur ist, spielen sie hier eine konstituierende Rolle. Wir wollen uns mit diesem Einbruch des großen wilden Außen ins Innere der Erzählung beschäftigen. Wir schauen auf Weird Fiction, das Weirde an sich und Horrorstories – und schreiben uns aus den Grenzen des Realen hinaus: Was ist innen, was außen, was Hinter-, was Vordergrund?
- Termine: 28.11. und 12.12. von 11–16 Uhr
- Anmeldung: per Mail an campus@lfbrecht.de. Die Teilnahme ist kostenlos.
- Die Teilnehmer*innenzahl ist begrenzt.
- Die Texte werden über einen Reader zur Verfügung gestellt.
- Es handelt sich um einen Workshop mit aufeinander aufbauenden Sitzungen.
- Der Workshop gehört zum Programm der lfb school.

Literaturliste
Eine kommentierte Literaturliste von Juan S. Guse mit Lektüreempfehlungen zu Weirder Literatur gibt es hier
Mitwirkende

Emma Braslavsky, geboren 1971 in Erfurt, ist eine deutsche Schriftstellerin und Kuratorin. Ihr Debütroman »Aus dem Sinn« (2007) wurde mehrfach ausgezeichnet. Seit 2010 schreibt und produziert sie gemeinsam mit ihrem Bruder die abendfüllende Hörcomic-Serie »Agent Zukunft«.

Sascha Ehlert, geboren 1987, ist freier Autor und Kulturjournalist sowie Mitbegründer von »Das Wetter. Magazin für Text und Musik«. Er ist außerdem Mitherausgeber des Korbinian Verlags, der u.a. Texte von Charlotte Krafft herausgibt.

Juan S. Guse, wurde 1989 in Seligenstadt geboren. Er studierte »Kreatives Schreiben« und anschließend »Neuere Deutsche Literatur«. Sein Debütroman »Lärm und Wälder« erschien 2015, gefolgt vonseinem zweiten Roman »Miami Punk«, erschienen 2019. Er lebt aktuell in Hannover.

Hanna Hamel promovierte an der Humboldt Universität in Berlin. Des Weiteren leitet sie das Forschungs- und Transferprojekt »Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur« in Berlin. Zuletzt erschien 2023 »Wie postdigital schreiben?«.

Andreas Jandl, geboren 1975, studierte Theaterwissenschaften, Anglistik und Romanistik. Er arbeitet als Übersetzer. Zuletzt wurde er 2021 mit dem Eugen-Helmlé Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Joachim Kalka, ist Schriftsteller und Übersetzer. Er wurde 1948 in Stuttgart geboren. Seit 1976 veröffentlicht er essayistische Beiträge in Literatur- und Theorie-Zeitschriften. Er gewann 1996 den Johann-Friedrich-Voß-Preis für Übersetzung und 2014 den Johann-Friedrich-von-Cotta-Literatur- und Übersetzerpreis der Landeshauptstadt Stuttgart als Übersetzer. Aktuell lebt er in Leipzig und veröffentlichte 2022 sein Essay »Schatten und Schnee«.

Charlotte Krafft wurde 1991 in Berlin-Wedding geboren. 2022 erschien ihr Debüt-Roman »Amore Plastik«. Außerdem schreibt sie für »Das Wetter«, »Metamorphosen« und die SZ.

Anja Kümmel wurde 1978 in Karlsruhe geboren und lebt als freie Autorin und Journalistin in Berlin. Sie studierte Gender Studies und Spanisch in Los Angeles, Madrid und Hamburg. Neben zahlreichen Publikationen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlichte sie fünf Romane, zuletzt »V oder die Vierte Wand« (2016). Außerdem schreibt sie regelmäßig Buch- und Filmkritiken für Zeit online, Tagesspiegel, Siegessäule u.a.

Robert Macfarlane, geboren 1976 in Nottinghamshire, ist ein preisgekrönter britischer Autor, Essayist und Kritiker. Für seinen zuletzt erschienen Roman »Im Unterland« (2019) erhielt er den NDR Kultur Sachbuchpreis.

Rudi Nuss, geboren 1994, lebt als freier Autor in Berlin. 2016 gewann er den Publikumspreis des 24. open mike, 2019 war er nominiert beim »WORTMELDUNGEN Förderpreis« und 2020 erhielt er das Literaturstipendium des Berliner Senats. Als Redakteur ist er bei »Die Epilog – Zeitschrift zur Gegenwartskultur« tätig. Veröffentlichungen u.a. in der BELLA triste, mikrotext und VICE. Sein erster Roman »Die Realität kommt« (Diaphanes, 2022) war nominiert für den Rauriser Literaturpreis. Momentan arbeitet er an seinem zweiten Buch »UNION«.

Hendrik Otremba wurde 1984 im Ruhrgebiet geboren und lebt heute in Berlin. Er ist Schriftsteller, bildender Künstler und Sänger der Gruppe Messer, außerdem arbeitet er als Dozent für kreatives Schreiben und gelegentlich als Kurator. Als freier Journalist schreibt er über Musik. 2023 veröffentlichte Otremba sein Solodebut »Riskantes Manöver« bei Trocadero und parallel den Lyrikband »Wüstungen, Nebel« und den Roman »Benito«.

Jens Winter studierte Kulturwissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin. Am Literaturforum im Brecht-Haus kuratiert er u.a. die LfB school. Er schreibt außerdem als freier Autor für die Jungle World.
Dokumentation
Was ist weird an Weird Ficiton?
Mit Charlotte Krafft, Anja Kümmel, Joachim Kalka und Juan S. Guse
Moderation: Sascha Ehlert
Weirde Grenzerfahrungen
Mit Robert Macfarlane, Andreas Jandl, Rudi Nuss, Hanna Hamel, Hendrik Otremba
Moderation: Emma Braslavsky