Wer von ‚Umwelt‘ spricht, meint meist eine Welt, die Menschen umgibt. Menschen richten ihre ‚Umwelt‘ ein, sie richten sie zu oder glauben sie zu schützen. Diese Vorstellungen haben konkrete politische Auswirkungen. Doch sie blenden nicht nur ihre anthropozentrischen Vorannahmen aus, die Tiere und Pflanzen menschlichen Umwelten zuschlagen. Sie vernachlässigen auch die Wechselwirkungen, Rückkoppelungen und Durchlässigkeiten zwischen Individuen und ihren natürlichen oder kulturellen Umgebungen. Was bedeutet das für „Umweltgeschichte“ oder „Umweltliteratur“?

22. – 24. Juni 2021
Umwelten²
Literatur zwischen Öko- und Technosphäre
‚Umwelt‘ hat ein Problem. Wer von ‚Umwelt‘ spricht, meint meist ein Außen, das Menschen einrichten, zurichten oder zu schützen glauben. Ausgeblendet werden der permanente Austausch, die Wechselwirkungen und Durchlässigkeiten zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen – belebten und unbelebten Elementen unserer natürlichen oder kulturellen Umgebungen.
Als Wiederaufnahme und Fortführung der „Umwelten“-Projektwoche, die im August 2020 im Literaturforum im Brecht-Haus stattfand, nimmt „Umwelten2“ lose Diskussionsfäden auf und verfolgt unabgegoltene Fragestellungen weiter. Wir prüfen den Begriff ‚Umwelt‘ auf seine Tauglichkeit in ästhetischen und politischen Debatten, wir treiben die Konfrontation von Literatur mit naturwissenschaftlichem und technischem Wissen in Gestalt der Geologie und digitaler Medientechniken voran und wir untersuchen den Facettenreichtum des heutigen Nature Writing.
Projektleitung: Steffen Richter
Hier geht es zum →Programmheft für Umwelten².
Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds
Präsentiert von Dritte Natur. Technik – Kapital – Umwelt/ Matthes & Seitz Berlin
Programm
Di. 22.06.2021
Die Politik der ‚Umwelt‘
Wer von ‚Umwelt‘ spricht, meint meist eine Welt, die Menschen umgibt. Menschen richten ihre ‚Umwelt‘ ein, sie richten sie zu oder glauben sie zu schützen. Diese Vorstellungen haben konkrete politische Auswirkungen. Doch sie blenden nicht nur ihre anthropozentrischen Vorannahmen aus,... weiterlesen
Zur Kritik der ‚Umweltpolitik‘
‚Umweltpolitik‘ geht davon aus, dass Menschen ihre Welt planmäßig gestalten. Die von den politischen Akteuren repräsentierten Interessen sind jedoch sehr unterschiedlich und führen zu verschiedenen Aktionsformen. Sie reichen von der Bepreisung von Gewässern und Böden oder Pflanzen und Tieren als ‚Ökosystemdienstleistungen‘ bis zu... weiterlesen
‚Umweltpolitik‘ geht davon aus, dass Menschen ihre Welt planmäßig gestalten. Die von den politischen Akteuren repräsentierten Interessen sind jedoch sehr unterschiedlich und führen zu verschiedenen Aktionsformen. Sie reichen von der Bepreisung von Gewässern und Böden oder Pflanzen und Tieren als ‚Ökosystemdienstleistungen‘ bis zu Waldbesetzungen oder Verkehrsblockaden. Kann rationaler Gestaltungsanspruch in Unvernunft umschlagen? Und sollte Umweltpolitik eine Angelegenheit politischer Parteien und Institutionen sein?
Mi. 23.06.2021
Geologie und Lebenslandschaften
„was / länger dauert, hörst du // durch die steine“ (Lutz Seiler) – Die Geschichte der Steine und die Geschichte der Erde sind unendlich viel länger als die des Menschen. Er hat seinen Auftritt erst wenige Sekunden vor 12 Uhr,... weiterlesen
„was / länger dauert, hörst du // durch die steine“ (Lutz Seiler) – Die Geschichte der Steine und die Geschichte der Erde sind unendlich viel länger als die des Menschen. Er hat seinen Auftritt erst wenige Sekunden vor 12 Uhr, und er wird die Erde wieder verlassen. Biblischer Schöpfungsmythos und Erdgeschichte klaffen auseinander. Das wird mit der Entdeckung der geologischen ‚Tiefenzeit‘ vor mehr als 200 Jahren evident. Die Marginalisierung des Menschen, die Kränkung seines Narzissmus und der ‚dunkle Abgrund der Zeit‘ sind eine Herausforderung für die Literatur, ja eine ästhetische Produktivkraft und ein Anstoß für literarische Imaginationen.
Digitale Schnittstellen zwischen Natur, Technik und Literatur
Natur und Technik sind keine getrennten Welten, sondern immer gleichzeitig vorhanden und in gegenseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten verwoben. Insbesondere digitale Medientechniken sind zu scheinbar unsichtbaren Bestandteilen menschlichen Lebens geworden. Diese Entwicklung ist in ihren politischen, ökonomischen und ästhetischen Dimensionen noch... weiterlesen
Natur und Technik sind keine getrennten Welten, sondern immer gleichzeitig vorhanden und in gegenseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten verwoben. Insbesondere digitale Medientechniken sind zu scheinbar unsichtbaren Bestandteilen menschlichen Lebens geworden. Diese Entwicklung ist in ihren politischen, ökonomischen und ästhetischen Dimensionen noch immer in weiten Teilen unverstanden. Literatur kann eine Aufklärungspraxis sein, die sich den Transformationen unserer Vorstellungen von Mensch, Natur und Technik als einer Herausforderung stellt.
Do. 24.06.2021
Neue (mediale) Formen der Naturdarstellung
Nature Writing ist weit mehr als die literarische Bestandsaufnahme einer bedrohten Welt, die es zu archivieren oder konservieren gilt. Als kulturelle Praxis ist Nature Writing heute ein weites, höchst bewegliches Konzept, das einen facettenreichen ästhetischen Austausch zwischen künstlerischen Akteuren und... weiterlesen
Nature Writing ist weit mehr als die literarische Bestandsaufnahme einer bedrohten Welt, die es zu archivieren oder konservieren gilt. Als kulturelle Praxis ist Nature Writing heute ein weites, höchst bewegliches Konzept, das einen facettenreichen ästhetischen Austausch zwischen künstlerischen Akteuren und konkreten natürlichen Erscheinungen beschreibt. Seine Medien können das geschriebene oder gesprochen Wort, aber auch das statische oder dynamische Bild bis hin zu Virtuellen Realitäten sein. Seine Funktionen reichen vom medialen Experiment bis zur Selbstverortung im Netz des Lebendigen.
Mitwirkende
Emma Braslavsky ist Schriftstellerin und Kuratorin. Ihr Debütroman Aus dem Sinn (2007) erhielt zahlreiche Preise. Nach Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik (2008) und Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen (2016) erschien zuletzt Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten (2019). Die Protagonistin des Romans ermüdet nie, kann für Stunden unter Wasser bleiben und schaltet bei Finsternis in den Nachtsichtmodus. Braslavsky schreibt über die Zukunft, weil sie sich für die Gegenwart interessiert.

Georg Braungart ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Tübingen. Eines seiner derzeitigen Forschungsvorhaben hat die Relation von Geologie und Literatur zum Gegenstand. Unter dem Titel einer ‚Poetik der Natur‘ werden ästhetische Verarbeitungen der ‚geologischen Kränkung‘ ebenso untersucht wie die Bilder von ‚Natur‘-Katastrophen oder die Erhabenheit des Geologischen. Er ist Mitherausgeber des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft und von Literatur als Wagnis / Literature as a Risk (2013); unlängst erschien Wind und Wetter. Kultur – Wissen – Ästhetik (2018).

Gregor Dotzauer ist Literaturkritiker. Für seine Arbeit erhielt er 2009 den Alfred-Kerr-Preis. Er war Mitglied mehrerer Literaturpreis-Jurys (Deutscher Buchpreis 2011, Preis der Leipziger Buchmesse 2017-2019) und unterrichtete Workshops zur Literaturkritik an deutschen und amerikanischen Universitäten. Dotzauer ist Verantwortlicher Redakteur Sachbuch beim Berliner Tagesspiegel.
Ludwig Fischer interessiert sich seit seinem Studium gleichermaßen für Biologie und Literatur. Er war Professor für neuere deutsche Literatur und Medienkultur an der Universität Hamburg. Seine bislang letzten Buchpublikationen sind Brennnesseln. Ein Porträt (2017) und Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur (2019), eine grundsätzliche Untersuchung zu den Voraussetzungen des Schreibens über Natur.

Andy Hahnemann ist Lektor für Science Fiction und Fantasy im S. Fischer Verlag. Nach seiner Promotion über Geopolitik und populäre Literatur in der Zwischenkriegszeit 1918-1939 (2010) und seiner Tätigkeit als Sachbuchforscher hat Hahnemann für die Verlage Klett-Cotta, C.H. Beck und Ullstein gearbeitet. Sein Interesse gilt dem Randständigen und Nicht-Kanonischen in der Literatur.

Sina Kamala Kaufmann ist Schriftstellerin und politische Aktivistin. Ihr literarisches Debüt Helle Materie. Nahphantastische Erzählungen erschien 2019. Sie ist Mitherausgeberin des deutschsprachigen Handbuchs der internationalen Umweltschutzbewegung Extinction Rebellion.
Christian Lehnert ist Dichter und Theologe. Er leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut an der Universität Leipzig. Bislang veröffentlichte er acht Gedichtbände, zuletzt Cherubinischer Staub (2018). Christian Lehnert wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Gemeinsam mit Sabine Scho erhielt er 2018 den Deutschen Preis für Nature Writing für seine Gedichte, die „eine Idee von Natur als vielgestaltiger Schöpfung“ entwickeln, „die der ihrerseits schöpferischen Versprachlichung bedarf“ (Begründung der Jury).

Steffen Richter ist Literatur- und Kulturwissenschaftler. Seine Bücher beschäftigen sich mit Gegenwartsliteratur, dem Literaturbetrieb und dem Zusammenhang von Literatur und Technik (Infrastruktur. Ein Schlüsselkonzept der Moderne und die deutsche Literatur 1848-1914, 2018). Als Journalist schreibt er u.a. für den Tagesspiegel, im Verlag Matthes & Seitz Berlin gibt er die Zeitschrift Dritte Natur. Technik – Kapital – Umwelt heraus.
Birgit Schneider lehrt als Professorin für Medienökologie am Institut für Kunst und Medien der Universität Potsdam. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Bildern und Wahrnehmungsweisen von Umwelt und Klimawandel (Diagramme, Datengrafiken, Karten). Zuletzt erschien Klimabilder.Eine Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel (2018). Scheider beschäftigt sich intensiv mit digitalen Medien der Naturwahrnehmung.

Simone Schröder ist Programmleiterin beim internationalen literaturfestival berlin. Die in England promovierte Literaturwissenschaftlerin beschäftigt sich u.a. mit verschiedenen Facetten des Nature Writing, zuletzt in der Monografie The Nature Essay. Ecocritical Explorations (2019).
Lutz Seiler ist Lyriker und Prosaautor, erhielt zahlreiche bedeutende Preise, zuletzt den Deutschen Buchpreis für den Roman Kruso (2014) und den Preis der Leipziger Buchmesse für Stern 111 (2020). Seine Lyrik, etwa die Bände pech & blende (2000) und schrift für blinde riesen (2021), aber auch Erzählungen wie Turksib (2008) verweisen auf den Wismut-Bergbau und die Geologie seiner thüringischen Herkunftsregion.
Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler. Er hatte Lehrstühle in Providence, Basel und Hongkong inne. Derzeit lebt er in Berlin und Rio de Janeiro. Simanowski gründete mit dichtung-digital.org bereits 1999 ein Journal für Kunst und Kultur digitaler Medien. Seine zahlreichen Bücher beschäftigen sich mit ästhetischen und politischen Aspekten der digitalen Technologien. Letzte Veröffentlichungen: Facebook-Gesellschaft (2016), Stumme Medien – Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft (2018), Todesalgorithmus. Das Dilemma der künstlichen Intelligenz (2020, ausgezeichnet mit dem Tractatus-Preis für deutschsprachige philosophische Essayistik 2020), Das Virus und das Digitale (2021).

Patrick Stoffel ist Literatur- und Kulturwissenschaftler an der Leuphana Universität in Lüneburg. Er beschäftigt sich mit der Entdeckung der Tiefenzeit und ihren Medien. Seine letzte Buchpublikation Die Alpen: Wo die Natur zur Vernunft kam (2018) lässt sich lesen als Kulturgeschichte der größten innereuropäischen Hochgebirgsformation vom Zeitalter der Aufklärung bis in die Gegenwart.

Christina Wessely ist Professorin für Kulturgeschichte des Wissens an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie beschäftigt sich mit ökologischen Wissensformen und deren historischer Herausbildung. Zu ihren wichtigsten Büchern zählen Welteis. Eine wahre Geschichte (2013) und Löwenbaby (2019). Sie ist Mitherausgeberin u.a. von Milieu. Umgebungen des Lebendigen in der Moderne (2017).
Dokumentation
Alle Streams
Die Politik der ‚Umwelt‘
Mit Ludwig Fischer und Christina Wessely
Moderation: Steffen Richter
Zur Kritik der ‚Umweltpolitik‘
Mit Sina Kamala Kaufmann und Jörg Haas
Moderation: Gregor Dotzauer
Geologie und Lebenslandschaften
Mit Georg Braungart und Lutz Seiler
Moderation: Patrick Stoffel
Stream nicht mehr verfügbar.
Digitale Schnittstellen zwischen Natur, Technik und Literatur
Mit Emma Braslavsky und Roberto Simanowski
Moderation: Andy Hahnemann
Neue (mediale) Formen der Naturdarstellung
Mit Birgit Schneider und Christian Lehnert
Moderation: Simone Schröder
Stream nicht mehr verfügbar.
Steffen Richter: Annäherung an den Begriff „Umwelt“
Der Seeigel, so sollte man meinen, lebt in einer Wasserwelt mit Algen, Steinen und Krebsen, hin und wieder einem Surfbrett oder Motorboot. Tatsächlich aber, so Jakob Johann von Uexküll, existieren diese Dinge für den Seeigel nicht. Sein „Merknetz“, so Uexküll, registriere in Form von Hell- und Dunkelstufen nur jene Reize, die für ihn „geeignet“ sind. Was aber für ihn geeignet ist und wie er auf diesen Reiz reagiert, legt ein „Bauplan“ fest, der in jedem Tier das Verhältnis von „Innenwelt“ und „Umwelt“ bestimmt. In der Welt des Seeigels gibt es folglich nur Seeigel-Dinge – zu ihnen zählen weder die Sonne, noch die Vögel, noch das vorüberziehende Segelboot. Mehr noch: Seeigel und Welt sind so eng aufeinander bezogen, „als wenn es nur eine Welt gäbe und einen Seeigel“. Der Seeigel trägt seine Umwelt, an die er immer schon perfekt angepasst ist, als „undurchdringliches Gehäuse“, als spezifischen Eigenraum mit spezifischer Eigenzeit sein gesamtes Leben mit sich herum.
Das ist in groben Zügen die Konzeption von ‚Umwelt‘, wie sie der Biologe und Zoologe Jakob Johann von Uexküll in seinem Buch „Innenwelt und Umwelt der Tiere“ entworfen hat, das 1909 und in verbesserter zweiter Auflage 1921 erschien. Aber ist dieses Buch auch der Ort, von dem das heutige Hochfrequenzwort ‚Umwelt‘ zunächst in biologisch-naturwissenschaftliche und später in sozial- und geisteswissenschaftliche Debatten einging? Ist es der Ausgangspunkt dessen, was wir heute mit ‚Umwelt-Problem‘, ‚Umwelt-Geschichte‘, ‚Umwelt-Technik‘ oder ‚Umwelt-Politik‘ bezeichnen?
Uexkülls ‚Umwelt‘ ist ein hochgradig relationales Konzept, das Um- und Innenwelt immer aufeinander bezieht. Dass ‚Umwelt‘ ein Ding außer uns ist, das uns gegenübersteht und zu dem wir uns verhalten können, ist erst ein Ergebnis der Aneignung und Umformung von Uexkülls Ideen durch seine Kollegen.
Natürlich wurzeln diese Umdeutungen in Unschärfen und Problemen, die Uexkülls Vorstellungen selbst anhaften. Zunächst: Wenn jedes Tier in seine Umwelt wie in einer Kapsel eingeschlossen ist, die mit nichts und niemandem kommuniziert, dann steht dieser radikale Individualismus allen wissenschaftlichen Objektivierungs- und Verallgemeinerungsbestrebungen entgegen. Befremdlich ist zudem die festgezurrte anti-evolutionäre Statik aller Verhältnisse, die der Anti-Darwinist Uexküll unterstellt. Folgenschwer scheint mir vor allem, dass Uexküll beim Zusammenspiel zwischen Organismus und Umwelt das „formende Prinzip“ allein im Tier und keineswegs in der Außenwelt verortet. Resümierend dekretiert er sogar, das Tier bilde „den Mittelpunkt seiner Umwelt, der es als selbständiges Subjekt gegenübertritt“. Damit ist zumindest die Anschlussfähigkeit an die Standards westlicher Rationalität seit Descartes gegeben. Umwelt kann so in einem Subjekt-Objekt-Verhältnis konzipiert werden – das fatalerweise Zurichtungsbegehren Tür und Tor öffnet. Doch wer ‚Umwelt‘ so denkt, blendet Uexkülls Ideen von Relationalität und Zusammengehörigkeit von Organismus und Umwelt aus.
Es hat also seine Berechtigung, den ‚Umwelt‘-Begriff heute neu auf seine Tauglichkeit zu prüfen – und zwar eingedenk seiner fraglosen Problematik. Zum einen sind die Gründe und Umstände seiner Karriere und gegenwärtigen Konjunktur zu wichtig, um sie zu ignorieren. Zum anderen beschreibt dieser Begriff die Realität unseres Status Quo – mit all seinen Desastern.
Weil ‚Umwelt‘ – anders als das benachbarte und zuweilen konkurrierende Konzept ‚Natur‘ – immer auf ein Individuum bezogen ist, um das herum eine Welt sich erstreckt, haftet dem Begriff ein gewisser Anthropozentrismus an: die Vorstellung also, der Mensch stehe im Mittelpunkt einer ihn umgebenden und ihm verfügbaren Welt. Diese Vorstellung hat mit Uexküll zwar rein gar nichts zu tun, doch hat sie bekanntlich einigen Schaden angerichtet. Dieser Schaden wird meist im Fernsehbildern sichtbar: als Hurrikan und Taifun, der amerikanische und asiatische Küstenregionen verwüstet oder als der kürzlich in Bewegung geratene Planpincieux-Gletscher auf der italienischen Seite des Mont Blanc. Aber dieser Schaden ist mittlerweile auch fast ohne technische Medien ganz unmittelbar sinnlich erfahrbar: etwa im Blick auf die Getreidefelder der Uckermark, die wegen der langen Trockenheit lange vor der Zeit abgeerntet werden mussten – nun schon das dritte Jahr in Folge. Es dürfte niemanden mehr verblüffen, dass die sogenannte ‚Umwelt‘ sehr viel mit uns zu tun hat – und wir mit ihr. Oder, wie der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour bemerkt: „Fortan ist nicht mehr zu leugnen, daß es teilweise an uns liegt, ob es regnet oder die Sonne scheint!“
Wenn also von ‚Umwelt‘ die Rede ist, könnte es darum gehen, den Begriff zu differenzieren und pluralisieren, ihn zu historisieren und mobilisieren. Zentral dürfte dabei die Aufhebung der folgenreichen Gegenüberstellung von Mensch und Umwelt sein.
„Es gibt nicht mehr genug Objekthaftes, sich den Menschen entgegenzusetzen“, schreibt Bruno Latour, und „nicht mehr genug Subjekthaftes, sich den Objekten entgegenzusetzen. Alles deutet darauf hin, daß hinter der Phantasmagorie der Dialektik die metamorphische Zone wieder sichtbar wird.“ Freilich, das kratzt an den Grundlegungen des dominanten westlichen Selbstverständnisses. Und es erstaunt dann doch, dass zwischen den hochaktuellen Ideen Latours und Uexkülls einhundert Jahre alten Einsichten Überschneidungen existieren. Denn während Latour – unter Aufhebung von Subjekt-Objekt-Verhältnissen – die gesamte Erde mit ihren organischen und anorganischen Bestandteilen, in ihrer Materialität und Lebendigkeit, als Gaia begreifen will, schreibt Uexküll von der „Gewißheit“, „daß die Natur und das Tier, nicht wie es den Anschein hat, zwei getrennte Dinge sind, sondern daß sie zusammen einen höheren Organismus bilden.“
Wenn wir nun tatsächlich in Latours ‚metamorphischer Zone‘ leben, dann ist sie heterogen und beweglich. Zu ihr gehört zunächst die Ökosphäre, also der Raum unseres Ökosystems. Er beginnt etwa 5 Kilometer unter der Erdoberfläche in den obersten Schichten der Lithosphäre und umfasst die Hydrosphäre sowie die Atmosphäre bis etwa 60 Kilometer über der Erdoberfläche. Zu dieser vermeintlich ‚natürlichen‘ – im Sinne von ‚gegebenen‘ – Welt gehört aber längst eine ‚kulturelle‘ – im Sinne von ‚geschaffene‘ – Welt. Das wäre die Techno- oder auch Anthroposphäre, das vom Menschen Gemachte. Doch was die (symbolische) Welt der Sprache so sauber trennt, ist in der (materiellen) Realität heillos verwoben: So wie Technosphäre permanent aus Ökosphäre entsteht, so wirkt die Technosphäre permanent – und sie verändernd – auf die Ökosphäre zurück. Und vor allem: Weder Öko- noch Technosphäre stehen dem Menschen gegenüber.
Wenn ich von ‚Umwelt‘ spreche, dann geht es immer um Gleichzeitigkeiten und Rückkoppelungen, um ein In- und Miteinander von Mensch und Welt. Es geht darum, dass wir Subjekte heillos mit neuen Formen von Objekten „verklebt“ sind, wie Timothy Morton in treffender Bildlichkeit schreibt. Es geht um diese doppelte Verwobenheit – die von natürlichen und kulturellen Dingen in der Welt und die von uns mit dieser Welt.
Eröffnungsvortrag der Projektwoche „Umwelten“ im August 2020 im Literaturforum im Brecht-Haus. Im Rahmen von Umwelten² soll es um ein Weiterdenken und Problematisieren dieses Umwelten-Begriffs gehen.
Empfohlene Publikationen der Mitwirkenden
- Emma Braslavsky
Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten (Suhrkamp, 2019)
- Georg Braungart
Wind und Wetter. Kultur – Wissen – Ästhetik (Wilhelm Fink Verlag, 2018)
- Ludwig Fischer
Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur (Matthes und Seitz Berlin, 2019)
- Sina Kamala Kaufmann
Helle Materie. Nahphantastische Erzählungen (Mikrotext, 2019)
- Christian Lehnert
Cherubinischer Staub (Suhrkamp, 2018)
- Steffen Richter
Dritte Natur (Hrsg.)
Infrastruktur (Matthes und Seitz Berlin, 2018)
- Birgit Schneider
Klimabilder. Eine Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel (Matthes und Seitz Berlin, 2018)
- Simone Schröder
The Nature Essay. Ecocritical Explorations (Brill, 2019)
- Lutz Seiler
turksib (Suhrkamp, 2008)
pech & blende (Suhrkamp, 2020)
- Roberto Simanowski
Das Virus und das Digitale (Passagen Verlag, 2021)
- Patrick Stoffel
Die Alpen: Wo die Natur zur Vernunft kam (Wallstein, 2018)
- Barbara Unmüßig
Kritik der Grünen Ökonomie (oekom, 2015)
- Christina Wessely
Löwenbaby (Matthes und Seitz Berlin, 2019)