Tagungsbericht

Helga Schütz – ein halbes Jahrhundert in Literatur, Film, Fernsehen und Radio

Organisatorinnen: Yvonne Delhey und Carola Hähnel-Mesnard
In Kooperation mit der Radboud Universiteit Nijmegen und der Université de Lille
Datum: Berlin, 18. und 19. April 2024
Autorin: Lea Sittig

 

Helga Schütz, seit mehr als 50 Jahren als Autorin aktiv, ist eine wichtige literarische Stimme der Nachkriegs- und DDR-Zeit. Ziel der Tagung war es ihr Werk wieder zu entdecken und seine Bedeutung neu zu bewerten. KERSTIN STUTTERHEIM (Edinburgh) arbeitete Helga Schütz’ Bedeutung als freischaffende Szenaristin für die Deutsche Film AG [1] heraus. Bereits in Schütz’ frühem filmischen Werk befinden sich kulturgeschichtliche und emanzipatorische Aspekte, wie Stutterheim anhand verschiedener DEFA-Spielfilme aufzeigte [2]. Stutterheim konstatierte bei Schütz ein genaues Beobachten von und ein ironisches Reflektieren über die Gesellschaft, in der sie lebte und in welcher sie ihre Figuren positionierte. So finden sich hier die Themen Familie, Erziehung und Eheverhältnisse, welche eine bedeutende gesellschaftskritisch-politische Dimension eröffnen. ELIZABETH WARD (Leipzig) analysierte die Behauptung des weiblichen Ichs in Schütz’ DEFA-Alltagsfilmen [3]. Dabei bescheinigte sie Schütz eine eindeutige Handschrift, nämlich der wiederholte Versuch weiblicher Protagonistinnen, sich im sozialistischen, durch männliche Subjektivität bestimmten Raum zum selbstbestimmten Subjekt zu avancieren. Schütz’ Netzwerk an Themen, welches immer wieder, auch in den Romanen und Hörspielen, verhandelt wird, ist für die gegenwärtige Forschung durch seine Aktualität signifikant und anschlussfähig. Die produktive Zusammenarbeit mit Egon Günther bis hin zur Wende zeigte URSULA VON KEITZ (Potsdam) in ihrem Vortrag zur Stoffentwicklung und Stilcharakteristik des DEFA-Films Stein (1991) auf.

HOLLY H. LIU (Alma) untersuchte Schütz’ literarische Erinnerungsstrategien. Am Beispiel des Romans Jette in Dresden (1977) legte Liu das Wachhalten von Erinnerungen durch kindliche Fantasie als eine Strategie offen. Als zweite literarische Strategie verwies Liu auf das Hervorrufen von Erinnerungen durch äußere topografische Eindrücke. Schütz’ Kindheitserinnerungen an die Stadt Dresden wurden in Vom Glanz der Elbe (1995) von Liu als schöpferische Quelle und die topografische Situierung als zentraler Pfeiler des Erinnerungsaktes identifiziert. Insgesamt veranschaulichte Liu das stetige Rückgreifen Schütz’ auf persönliche Kindheitserfahrungen und -erinnerungen, welche ihr literarisches Sujet maßgeblich bedingten.

HANNES KRAUSS (Essen) untersuchte die erzählten Kindheiten in Schütz’ Werk. Anhand der Jette-Figur konstatierte auch Krauss der Autorin das Einfangen kindlicher Fantasien in der Extremsituation Krieg und zeigte auf, dass die Kinderperspektive nicht nur Tabuverletzungen erlaube [4], sondern auch das Entlarven der Oberflächlichkeit der Entnazifizierung. In Schütz’ jüngstem Roman Heimliche Reisen (2021) sah Krauss nochmals Kinder- und Erwachsenenwelt miteinander konfrontiert. Anstatt einer erinnerten Kindheit handele es sich jedoch um die beobachtete Kindheit des Enkelkindes – angesichts des Erscheinungsdatums scheint auch hier der Verweis auf autobiografische Elemente naheliegend. YVONNE DELHEY (Nijmegen) ordnete Schütz’ Schaffen als metanarrative Autofiktion ein, als Akt narrativer Selbstermächtigung, mit dem auf gesellschaftliche Normen und soziale Erwartungen reagiert und der von Selbstreflektion im Schreiben begleitet werde. Anhand einer Systematisierung des Alltagsbegriffs [5] verdeutlichte Delhey, dass Schütz’ Thema das (All-)Tägliche sei. Es stehe dem Besonderen in mehreren Kategorien zwar gegenüber, bedinge sich in Schütz’ Romanen aber auch fortlaufend. So fungiert beispielweise der Gartenzaun im Roman Grenze zum gestrigen Tag (2000) eben auch als Staatsgrenze. Delhey veranschaulichte, dass es Schütz gelang, Menschen für gesellschaftliche Ereignisse zu sensibilisieren, in dem in ihren Arbeiten über das Tägliche, Gegenwart und Vergangenheit als Teile der Erfahrungswelt der Figuren aufeinanderträfen. Dieser Umstand macht Schütz’ Werk für das aktuelle akademische und gesellschaftspolitische Geschehen sachdienlich.
BILL NIVEN (Nottingham) entkräftete die These, Flucht und Vertreibung sei ein Tabu-Thema in der DDR gewesen. Anhand frühester literarischer Werke von Schütz [6] zeigte er, dass auch in der DDR über Flucht und Vertreibung geschrieben werden konnte. Schütz sei dabei eine der ersten Autor*innen gewesen, welche sich nach eigens erlebter Vertreibung aus Niederschlesien in eine literarische Auseinandersetzung mit dem Heimatverlust begab, auch wenn die Fluchterlebnisse nicht direkt auf textueller Ebene vorzufinden seien. Auch an dieser Stelle wird von einer politisierten Ebene in Schütz’ Werken ausgegangen, dabei bezeichnete Niven Schütz’ Literatur über die ehemaligen deutsche Ostgebiete als sanfte Perspektivenkorrektur.
GABRIELE DESMET (Lille) stellte Schütz’ Hörspielwerk vor und untersuchte dabei die beiden originalen Hörspiele Le rossignol heißt Nachtigall (1974) und Verbriefte Liebe (1981). Neben Erinnerungen an den Krieg, gebe es in Schütz’ Hörspielwerk noch ein weiteres wiederkehrendes Motiv: die emanzipierte Frauenfigur. Desmet konstatierte in Schütz’ Hörspielen ein nuanciertes Infragestellen des Platzes der Frau in der DDR-Gesellschaft. So werde in beiden Hörspielen der weibliche Konflikt zwischen Berufs- und Privatleben, aber auch ein Generationenkonflikt verhandelt.

Während eines Podiumsgesprächs, an dem neben Ingo Schulze und Werner von Bergen auch Helga Schütz selbst teilnahm, wurden Ausschnitte aus dem atmosphärischen elektronischen Tagebuch „Hinter dem Vorhang ein Schatten“ (1991) gezeigt, welches im Rahmen des Literaturpreises der Mainzer Stadtschreiber entstand. Ursprünglich als Recherchevorarbeit für ein Spielfilmprojekt über den deutschen Gulaginsassen Helmut Damerius in Kasalinsk, Kasachstan angesetzt, kam es während der Dreharbeiten zu einem Themenwechsel hin zu der Umweltkatastrophe am Aralsee und der Geschichte der Wolgadeutschen und des deutschen Theaters in Alma-Ata. Es wurde aufgezeigt, dass Schütz’ Arbeit auch hier einen besonderen Sinn für Politik, Landschaft und Geschichte in sich trägt. CAROLA HÄHNEL-MESNARD (Lille) stellte ergänzend Heimat süße Heimat (1992) vor. Dieses im Rahmen der Kasachstan-Reise geführte Tagebuch, das sowohl Reisebericht als auch Reportage war, dokumentiert auch die Suche nach den Spuren von Damerius in Kasachstan und versteht sich als nachträgliche Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. Gleichzeitig eröffnet das Tagebuch zwei Jahre nach dem Mauerfall eine umfassende Reflexion über die kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West.
Der Tagungstitel war Programm. Schütz wurde als äußerst produktive Produzentin von Romanen, Szenarien, Dokumentarfilmen, Reportagen und Hörspielen zum zeitgenössischen Geschehen, aber auch, oder vor allem in Verbindung mit gesellschaftspolitischen Themen vorgestellt: Kindheit und Vergangenheitsbewältigung des Faschismus, Flucht und Vertreibung, Nachkriegszeit und Kalter Krieg, sozialistischer DDR-Alltag und Wende, bis hin zur Emanzipation der Frau und Umweltbewusstsein. Die interdisziplinare Zusammensetzung der Tagung spiegelte Schütz’ Schaffen wider und ermöglichte eine Sichtbarmachung ihres intermedialen Werks. Vortrag für Vortrag setzte sich ein Bild der Schriftstellerin zusammen, wobei jeder Vortrag die bisherigen Themen- und Schaffensbereiche und, infolge der immer auch durchscheinenden autobiografischen Dimension, Lebensabschnitte um einen neuen ergänzte. Die Tagung ermöglichte ein integres Wiederentdecken ihrer Person und ihrer hoch bedeutsamen, Jahrzehnte langen Arbeit. Die weitere akademische Erschließung von Schütz’ Werk bietet gesellschaftlichen, politischen und historischen Erkenntnisgewinn, dessen Relevanz im Jahr 2024 unübersehbar ist.

 

Konferenzübersicht

Holly H. Liu (Alma): „Erfundene Figuren“ im Augenblick der Wahrheit: Zu Helga Schütz‘ literarischer Erinnerungsstrategie

Kerstin Stutterheim (Edinburgh): Helga Schütz und die DEFA

Ursula von Keitz (Potsdam): Film schreiben. Zur Drehbuchform bei Helga Schütz

Elizabeth Ward (Leipzig): „Alle haben gelacht. Ich habe zu Hause geweint.“ Weibliche Selbstaushandlungen zwischen privater Erfahrung und sozialistischer Öffentlichkeit in Helga Schütz‘ Alltagsfilmen

Podiumsgespräch: Hinter dem Vorhang ein Schatten. Mit Helga Schütz, Ingo Schulze und Werner von Bergen. Moderation: Yvonne Delhey und Carola Hähnel-Mesnard

Yvonne Delhey (Nijmegen): „Mein Thema ist das Tägliche“. Die Gegenwartspoetik Helga Schütz‘

Hannes Krauss (Essen): „Jette“ und „Jakob“ – erzählte Kindheiten

Bill Niven (Nottingham): Flucht- und Vertreibungsthematik bei Helga Schütz

Gabriele Desmet (Lille): „Per Sprache überzeugen“. Text und Regie im Hörspielwerk von Helga Schütz

Carola Hähnel-Mesnard (Lille): Tagebuch und Reportage in Heimat süße Heimat (1992)

 

Anmerkungen

[1] Im Folgenden als DEFA abgekürzt.

[2] Lots Weib, 1964; Wenn du groß bist, lieber Adam, 1965; Die Schlüssel, 1974.

[3] Lots Weib, 1965; Die Schlüssel, 1974; P.S., 1979.

[4] Wie beispielsweise das direkte Erwähnen von Vergewaltigung während der Nachkriegszeit im Roman Jette in Dresden (1977).

[5] Dabei wurde auf eine Systematisierung des Alltagsbegriffs von Norbert Elias zurückgegriffen: Norbert Elias, Zum Begriff des Alltags, in: Materialien zur Soziologie des Alltags (1978), S. 22-29.

[6] Vorgeschichten oder schöne Gegend Probstein, 1971; Das Erdbeben bei Sangerhausen und andere Geschichten, 1972.