Brecht-Tage 2022

7. – 11.2.2022

Brecht und Klasse und Traum „Stärkende Träume brauchen Bodenhaftung“

 

Projektleitung Falk Strehlow

 

Bertolt Brecht mochte einen nahezu zwanghaft eindeutigen Klassenbegriff vertreten haben (als exemplarisches Bespiel sei hier Das Lied vom Klassenfeind genannt). Brecht hatte ein überaus zwiespältiges Verhältnis zum Traum: Einerseits vermag der Traum die Augen für gesellschaftliche Gegebenheiten zu öffnen und dabei rätselhaft-revolutionäre Sprengkraft zu erzeugen (der Traum des Soldaten Fewkoombey aus dem Dreigroschenroman oder die fünf Träume in Der gute Mensch von Sezuan sind Prototypen Brechtʼschen Träumens); andererseits verweist Brecht in aller Deutlichkeit auf die realitäts-vernebelnde Wirkung eines Theaters als einer „Stätte der Träume“, als einer Stätte der bürgerlichen Verweigerung von Einsicht und Veränderung.

Brecht behauptet: „Ich träume nie.“

Die Verbindung der beiden Themen „Klasse“ und „Traum“ eröffnet hier zwei Spannungsverhältnisse gleichzeitig, einmal: das Verhältnis zwischen Klasse bei Brecht und der gegenwärtig geführten Klassismus-kritischen Debatte und zum anderen: das Verhältnis zwischen konformistischem Verdrängen von Realität durch das ‚Opium des Traumes‘ und einem bewusst – bewusstseinserweiternd? – in die bestehenden Realitäten eingreifenden Träumen. Und so soll das Feld unseres gemeinsamen Denkraums für die Brecht-Tage 2022 von drei Denk- und Fragerichtungen bestimmt sein, Richtungen, die hier keine Einbahnstraßen sind: (1) Wie lassen sich Brechts Klassen-Begriff, seine scharfen Klassenfeind-Konturierungen sowie die aus ihnen folgende politische wie weltanschauliche Haltung auf die heutige (Anti-)Klassismus-Debatte beziehen und kritisch und/oder produktiv in sie einbringen; und andersherum: wie lesen wir auf der Grundlage der momentanen Debatte Brechts Klassen-Texturen neu? (2) Welche Funktionen haben die unterschiedlichen Modi des Traumes in Brechts Theatertheorie und -praxis sowie in weiteren seiner künstlerischen Ausdrucksformen; und wie verhalten sich diese (oftmals widersprüchlichen) Funktionen zueinander? (3) An welchen Stellen begegnen sich (1) und (2) und warum gerade da; welches Verhältnis besteht zwischen Brechts Kampf gegen Klassismus und dem von ihm ins Feld geführten Topos des Traumes?

In den Brecht-Tagen 2022 geht es uns also weniger um die drei einzelnen und abgrenzbaren Themengebiete: „Brecht“ – „Klasse“ – „Traum“. In unserem gemeinsamen Werkstattgespräch schauen wir auf das Scharnier zwischen ihnen; die vielfältigen Überlagerungen der drei Felder sind unser Thema; unser Blick gilt ihrem wechselseitigen Aufeinander-bezogen-Sein: Brecht UND Klasse UND Traum.

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Folgende Veröffentlichungen sind für den sich im 21. Jahrhundert herausbildenden Klassen-Begriff richtungsweisend: Prolls – Die Dämonisierung der Arbeiterklasse von Owen Jones (2012), Die Poesie der Klasse – Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats von Patrick Eiden-Offe (2017), Zeige deine Klasse – Die Geschichte meiner sozialen Herkunft von Daniela Dröscher (2018), Für einen linken Populismus von Chantal Mouffe (2018), Solidarisch gegen Klassismus – organisieren, intervenieren, umverteilen herausgegeben von Francis Seeck und Brigitte Theißl (2020), Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen von Wolfgang Engler (2021) sowie der von Maria Barankow und Cristian Baron herausgegebene Sammelband Klasse und Kampf (2021). Die sieben Titel zeigen an, dass „richtungsweisend“ und aus verschiedenen Richtungen kommend keinen Widerspruch darstellen (und falls doch, so einen dialektischen), dass diese Denkrichtungen in produktiver Weise zusammenpassen, ein Gespräch entfachen.

Bei dieser Vielstimmigkeit des momentan immer lauter geführten Gesprächs soll nun auch Brechts Stimme zu Wort kommen – als eine Stimme mit unterschiedlichen Antworten, mit unterschiedlichen Fragen. Denn bei genauerem Hinschauen ist die Figuration der „Klasse“ in seinen Texten keineswegs so eindeutig, wie eingangs angenommen. Brechts Klassen-Figuren zeichnen sich vor allem durch ihre Unbestimmtheit aus, sind sie doch alles andere als widerspruchsfrei. Welcher Klasse ist sie zugehörig: die am Krieg verdienende, den Krieg befürwortende, befördernde, mit ihm Handel treibende „Mutter Courage“? Ist „Mackie Messer“ ein Proll oder ein Banker? Welchen Klassenstandpunkt vertritt der ach so „gute Mensch von Sezuan“ „Shen Te“-„Shui Ta“?

Auch die Träume sind in Brechts Werk nicht so rar gesät, wie man vielleicht – ausgehend vom gängigen Brecht-Bild – denken mag; und ebenso erstaunt ihre Vielgestaltigkeit. Denn bemerkenswert am Traumgeschehen Brechtʼscher Träume ist, dass es unterschiedlichste Funktionen, Semantiken, Figurationen anzunehmen vermag. Beispielhaft dafür seien hier vier prominente Träume genannt: Im Aufstieg des Arturo Ui wälzt sich Ui/(Hitler) „die Revolver im Schoß“ „in schweren Träumen auf seinem Bett“; nun erscheint ihm im Traum der von ihm ermordete Roma/(Röhm), woraufhin die Leibwächter Uis/(Hitlers) auf die Traumerscheinung schießen; auf der Folie dieses ungleichen Duells setzt Brecht nun eine, den Traum bestimmende, Überlegenheit prononciert ins Bild; er lässt die Traumfigur sagen: „Schieß nur! Was von mir blieb, ist kugelsicher.“ Im Lesebuch für Städtebewohner verkündet Brecht seinen Katechismus der Großstadt; jede individual-psychologisch atomisierende Perspektive Lügen strafend heißt es dort in seinem 8. Gebot: „Laßt eure Träume fahren, daß man mit euch / Eine Ausnahme machen wird …“ In Die Gesichte der Simone Machard erteilt niemand sonst als der Traum die Handlungsanweisungen, die das Stück vorantreiben; für den antifaschistischen Widerstand gibt die Traumerscheinung des Engels ihre klaren Anweisungen, die nichts Geringeres als die Sprengung umfangreicher Benzinvorräte nach sich ziehen. Und der Traum vom Glück des „Prinzen, weit drüben im Märchenlande“ in Brechts Märchen weist nun seinerseits das Verhältnis von Traum und Realität aus als ein Muster verhängnisvoll widersprüchlich gespiegelter Reziprozität.

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Der damalige Student an der Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin: Karl-Diether Gussek schildert ein Treffen mit Brecht, in dem Brecht „Studenten vom Lande“ zu seiner Katzgraben-Inszenierung einlud: „Freikarten lagen für uns bereit. Nur Studenten vom Lande seien erwünscht.“ Brecht versprach sich von dem Treffen mit den Studenten mit Landwirtschaftsbezug Verbesserungsvorschläge für die umstrittene Aufführung, für die Theatralisierung eines Lebens auf dem Lande, für dessen realistische Darstellung. Die Studenten forderten Typisierungen einzelner Figuren ein, wurden träumerisch, „manches steigerte sich ins Groteske“. Brecht wurde sauer: „Es störte das Träumen. Stärkende Träume brauchen Bodenhaftung.“

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Die Brecht-Tage 2022 Brecht und Klasse und Traum sind ein Werkstattgespräch – ein Gespräch mit vielen Stimmen. In diesem kontrovers und ergebnisoffen geführten Gespräch geht es uns darum, Traumdeutungen von Brecht-Träumen herauszuarbeiten, die dem Realismus verpflichtet sind, Traumdeutungen mit „Bodenhaftung“. Dabei sind mannigfaltige Zugänge zu Brecht, Erweiterungen seiner literarischen Angebote, vielgestaltige Ausdrucksformate für seine Gedanken sowie die Kritik an ihnen willkommen: Vortrag, aktivistischer Beitrag, Lesung, künstlerische Aktion, wissenschaftlicher Zugang, Podiums- und Publikumsdiskussion treffen hier aufeinander.

Bei dem Versuch einer Beantwortung der drei oben genannten Fragen ist unser Werkzeugkasten kein begrenzter „Kasten“; bei der Erarbeitung einer gemeinsamen lust- und erkenntnisgewinnbringenden (Brecht-/Klassen-/Traum-)Deutungsvielfalt ist unsere Werkstattgesprächsführung bestimmt vom Prinzip einer allgemeinen Gesprächsoffenheit. Nur einer Blickrichtung sei hier eine Grenze gesetzt. Brechts Glücksgott spricht: „Ich bin der Gott der Niedrigkeit / Der Gaumen und der Hoden / Denn das Glück liegt nun einmal, tut mir leid / Ziemlich niedrig am Boden.“ Unsere Neugier, unser Erkenntnisinteresse an Brechts Träumen ist bestimmt von einer Blickrichtung nach unten, hin zum „Niederen“. Nicht in träumerische Höhen richtet sich der Blick, sondern auf den Boden der Tatsachen einer in unserer Welt herrschenden Klassengesellschaft und ihrer (vermeidbaren) Folgen.

Und wer nun immer noch nicht glaubt, dass sich bei Brecht Träume und Klassenzugehörigkeit produktiv zusammen denken lassen, sei hier an die beiden gleichermaßen wunderschönen wie umstürzlerischen literarischen Träume erinnert, die die klassenbezogene Berufsgruppe und ihren Traum gleich im Titel tragen. Beide Träume bilden eine explosive Dialektik von Traumgeschehen und Beruf – von (Un-)Bewusstsein und Sein – und evozieren ein Traumgeschehen mit Ankündigung, mit Androhung: Träume eines Küchenmädchens (wir alle kennen die „Seeräuber“-Träumerin Jenny) und der Traum des Polizeipräsidenten (aus Die Beule – Ein Dreigroschenfilm): „Hoppla!“ „Solche Träume haben Folgen.“

Gefördert durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung