Der Holocaust galt lange als »emblematische Gedächtnisikone« (Dan Diner) und Masternarrativ im Forschungsfeld der genozidalen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts wird in den transnational und interdisziplinär ausgerichteten Memory Studies – ausgehend von der postkolonialen Kritik – verstärkt die Frage konkurrierender Gedächtnisse an Holocaust und kolonialen Genoziden diskutiert, die sich jüngst in heftigen Debatten entladen, die auch als »Historiker*innenstreit 2.0« firmieren. Relativiert die Erinnerung an koloniale Verbrechen den Holocaust? Oder ist es umgekehrt geradezu zwingend, koloniale Genozide stärker in das kollektive (nationale, europäische, globale) Gedächtnis einzubeziehen als bisher?
Im ersten Teil des zweiteiligen Seminars zum Historiker*innenstreit 2.0 lesen wir ausgewählte Texte aus den Feuilletondebatten (Moses, Friedländer, Habermas, u.a.) sowie von Vertreter*innen der internationalen Memory-, Holocaust- und Genocide Studies und fragen nach den Verschiebungen, Chancen und Risiken, die sich durch eine stärkere Einbeziehung postkolonialer und vergleichender Perspektiven in die deutsche Erinnerungspolitik ergeben. Welche Gemeinsamkeiten, Verbindungen und Unterschiede zwischen kolonialer Gewalt und nationalsozialistischer Judenvernichtung werden in der öffentlichen Erinnerung (de)thematisiert? Warum werden beide Gedächtnisse häufig als konkurrierend beschrieben? Warum lösen die damit verbundenen Debatten so viele widerstreitende Gefühle und Reaktionen aus? Und welche Perspektiven eröffnen inklusivere Ansätze, Erinnerung zu fassen wie z.B. das viel diskutierte Konzept der Multidirectional Memories von Michael Rothberg, auf das wiederum Natan Sznaiders jüngste Monographie »Fluchtpunkte der Erinnerung« kritisch reflektierend antwortet? Welche Perspektiven bringen Netzwerke wie »Decolonial Berlin e.V.«, »Erinnerungskonzept Kolonialismus Berlin« (Ibou Diop) oder »Coalition for a Pluralistic Public Disourse« (Max Czollek) ein, welche werden von Wissenschaftler*innen des globalen Südens angestoßen (Anitha Oforiwah Adu-Boahen, Achille Mbembe) und wie wird darauf geantwortet?
Claudia Bruns ist Professorin für »Historische Anthropologie und Geschlechterforschung« am Institut für Kulturwissenschaft sowie der Geschichtswissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin. Ihre Schwerpunkte liegen in der Körper- und Sexualitätsgeschichte als Teil einer Kulturgeschichte des Politischen. Ihre Publikationen befassen sich prominent mit männerbündischen Formationen, Antisemitismus und Rassismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie auch mit filmischer Erinnerung an den Holocaust und erinnerungspolitischen Kontroversen der Gegenwart. Postkoloniale und transferanalytische Perspektiven zu integrieren ist ihr dabei besonders wichtig. Vor kurzem hat sie (zusammen mit C. v. Einem u. J. Fubel) eine internationale Ringvorlesung zum Historiker*innenstreit 2.0 unter dem Titel »Becoming vulnerable – ambivalent solidarities« organisiert.
- Termine: 01. September und 08. September, 10-15 Uhr
- Anmeldung: per Mail an campus@lfbrecht.de. Die Teilnahme ist kostenlos.
- Die Teilnehmer*innenzahl ist begrenzt.
- Die Texte werden über einen Reader zur Verfügung gestellt.
- Es handelt sich um ein Seminar mit aufeinander aufbauenden Sitzungen. Das Seminar gehört zum Programm der lfb school.