Steffen Richter: Umwelten. Zwischen Öko- und Technosphäre

 

Der Seeigel, so sollte man meinen, lebt in einer Wasserwelt mit Algen, Steinen und Krebsen, hin und wieder einem Surfbrett oder Motorboot. Tatsächlich aber, so Jakob Johann von Uexküll, existieren diese Dinge für den Seeigel nicht. Sein „Merknetz“, so Uexküll, registriere in Form von Hell- und Dunkelstufen nur jene Reize, die für ihn „geeignet“ sind. Was aber für ihn geeignet ist und wie er auf diesen Reiz reagiert, legt ein „Bauplan“ fest, der in jedem Tier das Verhältnis von „Innenwelt“ und „Umwelt“ bestimmt. In der Welt des Seeigels gibt es folglich nur Seeigel-Dinge – zu ihnen zählen weder die Sonne, noch die Vögel, noch das vorüberziehende Segelboot. Mehr noch: Seeigel und Welt sind so eng aufeinander bezogen, „als wenn es nur eine Welt gäbe und einen Seeigel“. Der Seeigel trägt seine Umwelt, an die er immer schon perfekt angepasst ist, als „undurchdringliches Gehäuse“, als spezifischen Eigenraum mit spezifischer Eigenzeit sein gesamtes Leben mit sich herum.

Das ist in groben Zügen die Konzeption von ‚Umwelt‘, wie sie der Biologe und Zoologe Jakob Johann von Uexküll in seinem Buch „Innenwelt und Umwelt der Tiere“ entworfen hat, das 1909 und in verbesserter zweiter Auflage 1921 erschien. Aber ist dieses Buch auch der Ort, von dem das heutige Hochfrequenzwort ‚Umwelt‘ zunächst in biologisch-naturwissenschaftliche und später in sozial- und geisteswissenschaftliche Debatten einging? Ist es der Ausgangspunkt dessen, was wir heute mit ‚Umwelt-Problem‘, ‚Umwelt-Geschichte‘, ‚Umwelt-Technik‘ oder ‚Umwelt-Politik‘ bezeichnen?

Uexkülls ‚Umwelt‘ ist ein hochgradig relationales Konzept, das Um- und Innenwelt immer aufeinander bezieht. Dass ‚Umwelt‘ ein Ding außer uns ist, das uns gegenübersteht und zu dem wir uns verhalten können, ist erst ein Ergebnis der Aneignung und Umformung von Uexkülls Ideen durch seine Kollegen.

Natürlich wurzeln diese Umdeutungen in Unschärfen und Problemen, die Uexkülls Vorstellungen selbst anhaften. Zunächst: Wenn jedes Tier in seine Umwelt wie in einer Kapsel eingeschlossen ist, die mit nichts und niemandem kommuniziert, dann steht dieser radikale Individualismus allen wissenschaftlichen Objektivierungs- und Verallgemeinerungsbestrebungen entgegen. Befremdlich ist zudem die festgezurrte anti-evolutionäre Statik aller Verhältnisse, die der Anti-Darwinist Uexküll unterstellt. Folgenschwer scheint mir vor allem, dass Uexküll beim Zusammenspiel zwischen Organismus und Umwelt das „formende Prinzip“ allein im Tier und keineswegs in der Außenwelt verortet. Resümierend dekretiert er sogar, das Tier bilde „den Mittelpunkt seiner Umwelt, der es als selbständiges Subjekt gegenübertritt“. Damit ist zumindest die Anschlussfähigkeit an die Standards westlicher Rationalität seit Descartes gegeben. Umwelt kann so in einem Subjekt-Objekt-Verhältnis konzipiert werden – das fatalerweise Zurichtungsbegehren Tür und Tor öffnet. Doch wer ‚Umwelt‘ so denkt, blendet Uexkülls Ideen von Relationalität und Zusammengehörigkeit von Organismus und Umwelt aus.

Es hat also seine Berechtigung, den ‚Umwelt‘-Begriff heute neu auf seine Tauglichkeit zu prüfen – und zwar eingedenk seiner fraglosen Problematik. Zum einen sind die Gründe und Umstände seiner Karriere und gegenwärtigen Konjunktur zu wichtig, um sie zu ignorieren. Zum anderen beschreibt dieser Begriff die Realität unseres Status Quo – mit all seinen Desastern.

Weil ‚Umwelt‘ – anders als das benachbarte und zuweilen konkurrierende Konzept ‚Natur‘ – immer auf ein Individuum bezogen ist, um das herum eine Welt sich erstreckt, haftet dem Begriff ein gewisser Anthropozentrismus an: die Vorstellung also, der Mensch stehe im Mittelpunkt einer ihn umgebenden und ihm verfügbaren Welt. Diese Vorstellung hat mit Uexküll zwar rein gar nichts zu tun, doch hat sie bekanntlich einigen Schaden angerichtet. Dieser Schaden wird meist im Fernsehbildern sichtbar: als Hurrikan und Taifun, der amerikanische und asiatische Küstenregionen verwüstet oder als der kürzlich in Bewegung geratene Planpincieux-Gletscher auf der italienischen Seite des Mont Blanc. Aber dieser Schaden ist mittlerweile auch fast ohne technische Medien ganz unmittelbar sinnlich erfahrbar: etwa im Blick auf die Getreidefelder der Uckermark, die wegen der langen Trockenheit lange vor der Zeit abgeerntet werden mussten – nun schon das dritte Jahr in Folge. Es dürfte niemanden mehr verblüffen, dass die sogenannte ‚Umwelt‘ sehr viel mit uns zu tun hat – und wir mit ihr. Oder, wie der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour bemerkt: „Fortan ist nicht mehr zu leugnen, daß es teilweise an uns liegt, ob es regnet oder die Sonne scheint!“

Wenn also von ‚Umwelt‘ die Rede ist, könnte es darum gehen, den Begriff zu differenzieren und pluralisieren, ihn zu historisieren und mobilisieren. Zentral dürfte dabei die Aufhebung der folgenreichen Gegenüberstellung von Mensch und Umwelt sein.

„Es gibt nicht mehr genug Objekthaftes, sich den Menschen entgegenzusetzen“, schreibt Bruno Latour, und „nicht mehr genug Subjekthaftes, sich den Objekten entgegenzusetzen. Alles deutet darauf hin, daß hinter der Phantasmagorie der Dialektik die metamorphische Zone wieder sichtbar wird.“ Freilich, das kratzt an den Grundlegungen des dominanten westlichen Selbstverständnisses. Und es erstaunt dann doch, dass zwischen den hochaktuellen Ideen Latours und Uexkülls einhundert Jahre alten Einsichten Überschneidungen existieren. Denn während Latour – unter Aufhebung von Subjekt-Objekt-Verhältnissen – die gesamte Erde mit ihren organischen und anorganischen Bestandteilen, in ihrer Materialität und Lebendigkeit, als Gaia begreifen will, schreibt Uexküll von der „Gewißheit“, „daß die Natur und das Tier, nicht wie es den Anschein hat, zwei getrennte Dinge sind, sondern daß sie zusammen einen höheren Organismus bilden.“

Wenn wir nun tatsächlich in Latours ‚metamorphischer Zone‘ leben, dann ist sie heterogen und beweglich. Zu ihr gehört zunächst die Ökosphäre, also der Raum unseres Ökosystems. Er beginnt etwa 5 Kilometer unter der Erdoberfläche in den obersten Schichten der Lithosphäre und umfasst die Hydrosphäre sowie die Atmosphäre bis etwa 60 Kilometer über der Erdoberfläche. Zu dieser vermeintlich ‚natürlichen‘ – im Sinne von ‚gegebenen‘ – Welt gehört aber längst eine ‚kulturelle‘ – im Sinne von ‚geschaffene‘ – Welt. Das wäre die Techno- oder auch Anthroposphäre, das vom Menschen Gemachte. Doch was die (symbolische) Welt der Sprache so sauber trennt, ist in der (materiellen) Realität heillos verwoben: So wie Technosphäre permanent aus Ökosphäre entsteht, so wirkt die Technosphäre permanent – und sie verändernd – auf die Ökosphäre zurück. Und vor allem: Weder Öko- noch Technosphäre stehen dem Menschen gegenüber.

Wenn ich von ‚Umwelt‘ spreche, dann geht es immer um Gleichzeitigkeiten und Rückkoppelungen, um ein In- und Miteinander von Mensch und Welt. Es geht darum, dass wir Subjekte heillos mit neuen Formen von Objekten „verklebt“ sind, wie Timothy Morton in treffender Bildlichkeit schreibt. Es geht um diese doppelte Verwobenheit – die von natürlichen und kulturellen Dingen in der Welt und die von uns mit dieser Welt.