Sabine Peters »Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt«

Sabine Peters in Lesung und Gespräch mit Carola Opitz-Wiemers

 

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Sabine Peters im Gespräch mit Carola Opitz-Wiemers, geführt am 14.12.2020.

 

Carola Opitz-Wiemers
Ich freue mich sehr über ein Gespräch, das wir jetzt gleich führen werden, mit der Schriftstellerin Sabine Peters über ihren neuen Roman »Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt«, der im Herbst 2020 im Wallstein Verlag erschien.

Sabine Peters ist eine besonnen reflektierende Erzählerin, die nichts dem Zufall überlässt. Ihrem Schreiben liegt etwas Kontemplatives zugrunde, wenn sie in bedächtigen Erzählbewegungen die scheinbar nebensächlichsten Details aufspürt, wobei sich nach und nach die großen Themen herauskristallisieren. Dabei werden Skizzen äußerer wie innerer Landschaften entworfen, entstehen Psychogramme feinster Art. In ihrem Roman »Alles Verwandte« von 2017 heißt es sinngemäß, wir sind komplizierte Zellhaufen, die ihre Geschichte zu rekonstruieren haben, allerdings in einem Feld, das bereits von anderen vermessen wurde. Sabine Peters stilistische Konzentration fasziniert. Um die Vielfalt und Vielschichtigkeit dieser literarischen Erzählwelt entdecken zu können, braucht es Zeit. Bei der Lektüre entsteht mitunter der Eindruck, als würde einem Zeit geschenkt, mehr als vergangen ist. Geschult in der Darstellung komplexer Zusammenhänge geht es in Sabine Peters Erzählungen und Romanen immer wieder um das Thema von Zugehörigkeiten, die sich nicht nur anhand von Genealogien festmachen lassen, sondern auch Ausdruck eines sozialen Umfelds, einer Generation sind, stets verbunden mit kritischer Selbstreflexion. So handelt der Roman »Alles Verwandte« vom „Vergessen“ und vom „sich nicht erinnern wollen“, von Verlusten und Entbehrungen, die als schmerzhafte Erfahrungen in den Figuren weiterleben, Narben hinterlassen haben.

Im Roman »Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt«, der Gegenstand dieses Gesprächs ist, setzt sich Sabine Peters kompromisslos mit dem Labyrinth kindlicher Erinnerungen auseinander, die wie alle Erinnerungen richtig und falsch, genau und ungenau, niemals aber nur authentisch sind. Behutsam und akribisch wird eine Zeit kartographiert, in der Individual- und Zeitgeschichte ein spannungsreiches Erzählgeflecht ergeben. Nie zuvor, so scheint mir, war Sabine Peters’ Sprache bildreicher, assoziativer und zugleich resoluter.
In sechsunddreißig Abschnitten und einer abschließenden Kadenz werden die 1960er Jahre in Westdeutschland aus der Perspektive eines heranwachsenden Mädchens mit dem Namen Marie erkundet. Mit drei Schwestern wächst sie in behüteten Verhältnissen auf, wie es so schön heißt. Was damit gemeint ist – dieser Frage geht die Autorin in akribischen Suchbewegungen nach. Die Herkunft ist für jedes Individuum ein komplexes und kompliziertes Terrain. Mit der Frage nach dem „woher wir kommen“ greift die Autorin ein archaisches Motiv auf, das schon früh in Mythen und Märchen den Handlungskern bildet. Ging es anfangs darum zu klären, zu wem ein Kind gehört, rückt bald schon der Konflikt standesgemäßer Genealogien ins Blickfeld, mit anderen Worten: das Thema der Zugehörigkeit.
Indem Sabine Peters in genau skizzierten Zeitbildern vom Verhältnis privater, individueller und gesellschaftlicher Vergangenheit spricht, wird das Wort Herkunft konturenreich buchstabiert. Da alles Lebendige aus dem Wasser kommt, wird die Handlung mit einer symbolischen Szene im Sound märchenhafter Verwunschenheit eröffnet: „Es war einmal ein Boot im Meer. Kinder saßen in der Wanne, Schwestern waren Seeleute. Die Älteste saß als Kapitän am Heck des Bootes beim Stöpsel und bei den Hähnen. Sie hatte Macht über Kälte, Wärme, Zufluss und Abfluss. Die zweite saß vorn, nannte sich Steuermann und hielt nach Gefahren Ausschau.“

 

Sabine Peters liest nun aus dem zweiten Kapitel, das den Titel „In der Wüste“ trägt.

 

Lesung Sabine Peters (1) „In der Wüste“

 

Carola Opitz-Wiemers
Man muss die Bibel nicht gut kennen, aber die Bilder der Badewanne und des Gartens, der ja ein spezieller Marie-Garten ist, wecken natürlich Assoziationen an den Garten Eden, den Paradiesgarten, und an die Arche Noah. Für mich stellt sich dabei die Frage, was dich daran gereizt hat, die kindlich naive Erforschung von Welt mit der Frage der Religiosität zu verbinden. Ist das für dich ein Weg gewesen, um die Besonderheit der eigenen Identität zu erforschen?

 

Sabine Peters
Also diese biblischen Geschichten, mit denen ich – aber auch viele meiner Generation – aufgewachsen bin, die hatten für Kinder auch eine große Faszination, da war ungeheuer viel los. Und sie sind sehr bildreich, der Apfel, die Schlange, die Arche Noah, was auch immer. Zugleich sind sie viel zu komplex für ein Kind, das sich, will es das verstehen, seinen eigenen Reim darauf macht. Die Konflikte, aber auch die Verzauberung, die dabei entstehen, haben mich immer schon sehr interessiert.

 

Carola Opitz-Wiemers

…vor allem die Verzauberung, eine Art „Verwunschensein“. Im Wüsten-Kapitel kommt das sehr schön zum Ausdruck, da habe ich beim Lesen gestaunt. Weil, wenn man das Ganze aus der Perspektive eines sieben-achtjährigen Kindes erzählen lässt, besteht die Gefahr, die biblischen Bilder und Sätze in solch eine Kindersprache zu übersetzen. Dieser Stil hätte dann etwas Triviales, vielleicht auch Peinliches. Das ist bei dir nicht der Fall. Warum musste es unbedingt die Perspektive eines Kindes sein?

 

Sabine Peters

Also es ist ja die dritte Person. Wenn ich das grammatische „Ich“ gebraucht hätte, ich habe das mal probiert, ob das besser funktionieren würde, da hatte ich das Gefühl, da komme ich überhaupt keine drei Sätze weit. Also die Distanz der dritten Person war wichtig und ich glaube eben, für ein Kind sind diese Dinge ungeheuer faszinierend, aber auch ein wirklich schwieriges Geschenk – wenn die Kinder mit der Muttermilch diese Geschichten eingeflößt bekommen. Aber auch Lieder, also Musik, spielt ja eine große Rolle. Es ist neu, es ist fremd, es ist unverständlich, immer wieder. Damit wird dann aber umgegangen, damit wird gearbeitet. Viele von diesen Bildern, bis hin zum Apfel, schließen an Erfahrungen an. Und das, was da in den biblischen Geschichten an Magischem passiert, das passt absolut in das Weltbild von Kindern.

 

Carola Opitz-Wiemers

Ja, es ist natürlich in einer Art dritten Person erzählt, aber nicht von einem Erzähler, der dann später gescheiter sein könnte. Denn dieser Transfer von bekannten biblischen Bildern und Sätzen geschieht durch diese kindliche Perspektive. Dadurch entstehen Geschichten, die dem Kind zugehören. Also wenn du zum Beispiel das mit dem wunderbaren Garten Maries, und natürlich das mit der Badewanne benennst, da steckt etwas Schützendes drin, aber auch eine Hierarchie: da sitzt der eine am Stöpsel und bestimmt, wann das Wasser rausgelassen wird und wann aus dem Hahn kaltes oder warmes Wasser fließt. Für eine aber – nämlich Marie – gibt es noch keinen Hebel der Macht. Es gibt somit Formen der Ordnung in einem familiären System, das keinen Namen hat, aber täglich gelebt wird.

 

Sabine Peters

Ja, das stimmt. Und die Kindheit ist eine ohnmächtige Zeit. Aber dann wird Marie doch tätig. Dieser kleine Mensch nimmt sich ein großes Vorbild und baut einen paradiesischen Garten. Strenggenommen, ist das Hybris, Anmaßung, Übermut. Aber da ist das Kind plötzlich der Souverän. Das hat einen enormen Reiz für mich gehabt.

 

Carola Opitz-Wiemers

Ja, das spürt man in deinem Text. Ich hatte auch den Eindruck, dass das eine sehr spezifisch weibliche Perspektive ist. Wenn man sich vorstellt, das wären drei Brüder, dann wäre in der Badewanne wahrscheinlich noch mal mehr los gewesen. Dann wären andere Bilder, etwa von Helden aus dem mythischen Bereich, aufgerufen worden. Vielleicht nicht unbedingt diese biblischen Bilder. Würdest du dieser Lesart zustimmen?

 

Sabine Peters

Da habe ich noch nicht drüber nachgedacht. Ich glaube, die vier Töchter im Buch haben sich alle eher mit männlichen Geschöpfen identifiziert, ob das nun Gottvater ist oder Jesus am Kreuz. Auch in den Kinderbüchern, die wir gelesen haben: Da waren doch fast immer Jungens diejenigen, die einen hingerissen haben. René Guillots „Grischka und der Bär“ oder Mark Twains „Prinz und Betteljunge“ oder Robinson, zum Beispiel. Aber da müsste ich nochmal länger drüber nachdenken.

 

Carola Opitz-Wiemers

Ich meine, du hast ein tolles Angebot in diesem Sinne gemacht. Gern wird eingeteilt, das ist die Literatur, die Mädchen lesen, und das sind die Bücher für Jungs. Du hast bereits einige erwähnt. Aber du verfolgst einen anderen Ansatz, indem aus der Sicht von drei Mädchen erzählt, aber gleichzeitig darüber hinaus etwas Allgemeingültiges dargestellt wird – in der Kopplung mit den biblischen Bildern. Dabei zeigt sich, dass die Kindheit für jeden Menschen ein unglaubliches Reservoir ist. Wenn sie gut war, dann kann vieles im Leben vielleicht ganz gut verlaufen. Da ist etwas, worauf man bauen kann. Einige Grundpfeiler, die in deinem Roman gesetzt werden, geben den Biografien von daher eine gewisse Statik. Bei aller Problematik stellen sie ein Fundament dar, um mit dem Leben später zurechtzukommen.

 

Sabine Peters

Ganz bestimmt. Und das hat eben ganz viel mit Sprache zu tun, dass man diese Formen hat, diese tradierten Formen, auf die man sich im guten Sinne stützen kann. Es ist immer die Frage, was man damit macht.

 

Carola Opitz-Wiemers

Vor allem kreierst du mit der Marie eine Schöpferin. Sie macht, was sie will, also in den Bereichen, wo es für sie möglich ist. Dass der Apfelbaum dabei zum Mirabellenbaum wird, finde ich sehr bizarr – es muss nicht immer ein Apfel sein. Noch etwas anderes ist mir aufgefallen: dein Roman besteht aus sechsunddreißig Kapiteln und einer Kadenz. Spielt die Anzahl der Kapitel eine Rolle, also eine gewisse Zahlen-Mystik: drei und sechs und zwölf und dreimal zwölf.

 

Sabine Peters

Gar nicht, nein. Also mir fällt jetzt ein, damit könnte man wirklich noch viel mehr spielen, aber das habe ich nicht. Das hatte seine eigene Dynamik, und ich musste irgendwann einen Ausgang finden. Das zeigt sich auch im Verlauf des Buches: Wie ich mit der Kadenz versucht habe, da rauszukommen.

 

Carola Opitz-Wiemers

Für mich war das geradezu folgerichtig, die drei steht ja für die Trinität, die heilige Trinität, für das Gute, das Harmonische. Da ist die sechs doch anders, gerade im Bezug zur Bibel. Insofern fand ich diese Ambivalenz zwischen dem Guten, dem Schlechten, dem Verführenden und dem sich nicht verführen lassen, wichtig. Und dann immer wieder dieses Abrutschen, ein bisschen straff und böse zu denken und dann wieder ganz folgsam zu sein. Was dann auch später eine Rolle spielt. Das pflanzt sich ja fort. Die Zahlen brachten dahingehend eine zusätzliche Bedeutungsebene hinein.
Du beschreibst aber auch sehr eindringlich, dass Kinder Schutzengel brauchen, die zumeist unsichtbar sind. Es gibt aber auch welche aus Fleisch und Blut. Mir scheint, dass die Großmutter, die du schon erwähnt hast, so eine Schutzpatronin ist. Könntest du vielleicht etwas mehr über diese Schutzpatronin sagen, und auch von einem anderen Schutzpatron, der sich Vater nennt?

 

Sabine Peters

Der göttliche Vater, genau.

 

Carola Opitz-Wiemers

Eben, das ist die Frage. Ja, lies mal.

 

Lesung Sabine Peters (2) „Der Schutz der Großmutter“

 

Sabine Peters

Dann geht es an einen anderen wichtigen Ort. Die Geschichte heißt „Ort der großen Vorführungen“.

 

Lesung Sabine Peters (3) „Ort der großen Vorführungen“

 

Carola Opitz-Wiemers

Jetzt noch mal gehört, muss ich sagen, dass in der Abfolge deiner Kapitel, also man könnte auch sagen, der Zeitbilder, hier ein Punkt erreicht ist, wo man wirklich vor Ort ist, in der Kirche drin. Und dort geschieht eine Wandlung mit Marie. Durch ihr genaues Beobachten der Dinge, die im Gottesdienst geschehen und der Dinge, die sie einfach nicht versteht, kommt eine Kluft rein, die für die Entwicklung der Figur gut ist. Aber auch was die Bedeutung der Wörter „Vorführung“ und „Verführung“ betrifft. Weil dieser Ort, die Institution Kirche, keine Imagination von Religiosität durch Marie ist. Es ist ein Ort, an dem generell viel Macht ausgeübt wird. Marie hat keine Wahl, sie gehört zu einer Familie, die stark katholisch geprägt ist, besonders die Großmutter, wie wir gehört haben. Da kommen wir nochmals zur Erzählweise, dass es durch die Marie – die in der Kirche diese Distanz zu dem dort Vorgeführten und Gesagten erfährt -, zu einem Kapitel kommt, in dem es um „Glaube und Wissen“ geht. Da werden im Wechsel der Perspektiven beide V-Wörter miteinander verbunden: Vorführung und Verführung. Aus der Ich- Perspektive werden zwei Sätze, wie ein Mantra, immer wieder gesprochen: „Ich glaube. Ich weiß.“ Allmählich manifestiert sich die Gewissheit, dass nach allem, was sie an diesem Ort erfahren hat und noch erfährt, es jetzt auf die Selbsterkundung ankommt, jenseits von Glaubenssystemen.

 

Sabine Peters

Solche kleinen Abschweifungen vom rechten Weg gibt es zum Beispiel am Schluss des Kapitels vom Kirchenbesuch. Als Marie abends allein im Bett liegt, sagt sie plötzlich: „ich, ich bin es.“ Und im Kapitel vom „Glauben und Wissen“ geht ihr alles durcheinander, sie vermengt die Dinge. Ich glaube an Gott – und an den Sandmann, der irgendwo auf dem Dachboden hockt. Alles ist ein bisschen chaotisch. Der gelehrte Christenglaube steht nicht ganz oben in der Hierarchie. Das Kind denkt und empfindet noch unbefangen. Marie sagt getreulich auf, welche katholischen Lehrsätze sie kennt. Aber sie ist auch noch ganz frei, etwas hinzuzufügen – und wenn es der Sandmann ist.

 

Carola Opitz-Wiemers

Da kommt ein Selbstvertrauen zum Ausdruck, das ich sehr wichtig finde. Ich habe die Seite mal aufgeschlagen – dieses Kapitel oder die Sequenz, wie du es nennst, wo es heißt: „Ich glaube an Gott, ich weiß, man kann Forsythienblüten essen. Ich glaube an Jesus Christus. Ich weiß, was Eifersucht bedeutet. Ich glaube an den Heiligen Geist.“ Dann ist Schluss, erst einmal. Aber dann folgt: „Ich weiß, dass unter der Kellertreppe ein Rest Kohlenbriketts liegt, den keiner mehr braucht und dass darunter eine weitere Treppe liegt und dass ich eines Tages die Briketts beiseite schaufeln werde und die Treppe weiter runtergehen muss runter in den Keller unter dem Keller“. Also wenn man das in die Theorie von C. G. Jung übersetzt, der meint, die Psyche ist wie ein Haus, oben der Dachboden hat eine Bedeutung, aber der Keller natürlich auch. Da liegt alles, was unverarbeitet ist und an das man nicht denken möchte. Mit „ich glaube, ich weiß“ kündigt sich die Gewissheit an, dass das Ich irgendwann in diesen Schlund hinabsteigen und das Unverarbeitete bergen muss.

 

Sabine Peters

Ich bin sehr erfreut über diese Deutung und sie leuchtet mir auch sofort ein. Man reflektiert natürlich einiges beim Schreiben, und man versteht auch einiges im Verlauf des Schreibprozesses von dem, was man da macht. Aber es ist nicht hundertprozentig so, dass ich das alles gewusst hätte. Ich glaube, ich habe da beim Schreiben manchmal schlichter gedacht. Also dass es eine Angstvorstellung gibt, die wohl die meisten Menschen, vor allem Kinder, haben: „Was ist im Keller?“. Woher nimmt denn die Psychologie das Bild? Die nimmt es ja auch aus einer ganz konkreten Angsterfahrung her. Oder warum denken wir, der Himmel ist das Offene da oben und die Hölle ist der Keller. Diese räumlichen Verortungen sind interessant, aber ich habe die nicht reflektiert, sondern nur gedacht, hier knalle ich verschiedene Dinge hin, Glauben und Wissen, dann merkt man, das sind zweischneidige Angelegenheiten. Das ist nicht alles streng sortiert und je einer Seite zugewiesen. All das sogenannte Glauben und/oder Wissen entwickelt sich hier sozusagen in Hüpfern aus der Rede von Marie. Am Ende des Kapitels besinnt sie sich schließlich auf etwas, was sie wirklich verlässlich weiß: Sie weiß, wie man Lakritzenwasser macht. Auch wichtig!

 

Carola Opitz-Wiemers

Das finde ich gut gesetzt, weil es vor der Sequenz vom Schulbeginn kommt. Es gibt hier sozusagen zwei Welten, in denen Wissen vermittelt wird. In diesem Zusammenhang spielt der Vater eine wichtige Rolle, mit dem Hierarchien aufgebaut werden. Überhaupt ist er eine äußerst facettenreiche Figur. Der Stellenwert von Bildung wird durch ihn, der Lehrer ist, besonders deutlich. Mit ihm schreibst du gewissermaßen eine kleine Sozialgeschichte Westdeutschlands der fünfziger, sechziger Jahre. Da spielt Bildung, die private wie öffentliche Vermittlung von Wissen, eine zentrale Rolle, denn aus den Kindern soll später etwas werden. Aber bevor Marie zur Schule geht, bevor die Familie in die Ferien nach Holland fährt usw., da ist wöchentlich die Kirche dran. Sie ist ein Wissensspeicher, mit dem Marie konfrontiert, von dem sie aber auch genährt wird. Der Vater stellt ein Regulativ dar, das andere Haltungen liefert und Ansichten korrigiert, zum Beispiel wenn er sagt: „also bitte das nicht denken“ oder „wisst ihr denn nicht, wie die alten Römer gedacht haben?“. Aber Schule und Kirche widersprechen sich nicht wirklich. In der Marie-Figur kommt alles zusammen. Vielleicht können wir noch etwas von dieser anderen Welt erfahren, Einblick bekommen in diese Schulwelt. Und hast du noch etwas vom Vater parat?

 

Sabine Peters

Ja, dann lese ich jetzt etwas über die Schule oder das Umfeld und dann etwas über den Vater oder den Raum des Vaters.

 

Lesung Sabine Peters (4) „Schulweg“

 

Sabine Peters

Jetzt geht es nochmal zu einem Lehrer, in diesem Fall zum Vater, und auch zu dem, was für dieses Kind eben auch so beeindruckend und erstrebenswert ist.

Lesung Sabine Peters (5) „Im Vaterland“


Carola Opitz-Wiemers

Also ich finde in deinem Roman die Kapitel, wo es um die Großmutter und die Mutter geht – also „Mutters Stube, die Nähstube“, die sich oben auf dem Dachboden befindet -, die sind emotional stark aufgeladen. Weil dort das Thema der Zugehörigkeit besonders plastisch wird. Hier deutet sich ein Stolz an, der durch die subtile Art der Interpretation von Räumen spürbar wird. Nach dem Motto: „ja hier sind wir“, und wir befinden uns in einem Spannungsfeld von Gut und Böse. Aber wir gehören dazu. Hier sind wir heimisch. Das finde ich sehr anrührend. Diese Kapitel sind mental ungemein wichtig. Aber auch vom gelebten Alltag, von Großmutters Vergangenheit ist im Roman die Rede. Und immer wieder wird über die sprachliche Entwicklung der Kinder sowie über moralische, ethische Begriffe reflektiert. Kindsein und Erwachsenenwerden sind ja eng mit der Sprache verbunden. Aber wie erlernt das Kind seine Sprache. Marie, soviel steht fest, wird ihre eigene Sprachwelt finden.

Zum Schluss lass uns noch zu der „Kadenz“ am Romanende kommen. Kadenz ist ein Begriff, der im Prinzip aus der Musik kommt oder in der Poesie von Bedeutung ist. Bei dir beginnt die Kadenz, die von den übrigen Kapiteln abgesetzt ist, mit dem Satz: „im Herbst war Marie grau geworden und ging wieder los“. Es gibt ganz offensichtlich einen Zeitsprung, aber dieses „ging wieder los“ klingt doch rätselhaft. Am besten ist, Du liest etwas daraus.

 

Lesung Sabine Peters (6) „Kadenz“

 

Carola Opitz-Wiemers

In dieser Kadenz überdenkst bzw. überschreibst Du den Text, wie ich es verstehe, nochmals, mit ganz anderen erzählerischen Mitteln. Auch die Funktion des Erzählers wird hinterfragt: wie kann erzählt werden, um wahrhaft zu bleiben, um die wirklichen, auch schmerzhaften Punkte eines Lebens zu berühren.

 

Sabine Peters

Also, was du sagst, das kommt mir schon sehr nahe. Aber ich finde, diese Kadenz, da gibt es wirklich überhaupt kein richtig und falsch mehr, sondern die soll so offen wie möglich verstanden werden. Man kann doch stundenlang über die Fragwürdigkeit von Erinnerungen, das Gemachte von Texten oder solche Sachen sprechen, aber ich hab im Verlauf der anderen Kapitel gemerkt, wie schön ich diese Verwandlungsfähigkeit des Kindes fand. Und dann konnte man nochmal ganz am Ende versuchen, ob Verwandlung auf einer anderen Ebene vorstellbar ist, auch für einen ergrauten Menschen.

 

Carola Opitz-Wiemers

Du arbeitest hier auch mit einem anderen Wissen, und es wird recht chaotisch, surreal erzählt. Personen, die bereits in den Kapiteln anwesend waren, tauchen wieder auf: die Wandergräte, der Hausierer, der Wanderer und natürlich Marie. Diese Personen formieren sich zu einem langen Tross, sie kommen zusammen und gehen ein Stück des Weges gemeinsam. Wohin ist ungewiss. Es ist auch unwichtig.
Außerdem arbeitest du mit Versatzstücken aus der Literatur, zum Beispiel mit Jakob van Hoddis’ Gedicht „Weltende“, das expressionistische Gedicht schlechthin. All das hat mit der Autorin zu tun, oder anders gesagt, eines literaturbeflissenen Menschen. War dir wichtig, dass im Nachdenken über die Erzählperspektive und die Position des Erzählers, dieses literarische Wissen in den Text mit einfließt?

 

Sabine Peters

Die Zeilen von van Hoddis und anderen Literaten mischen da mit rein, weil sie im Verlauf des Lebens genauso ein organischer Teil des Menschen werden können wie die religiöse Sozialisation der Kindheit. Und das meine ich jetzt ausdrücklich nicht als Autorin. Wir Menschenwesen setzen uns doch aus enorm vielen Einflüssen zusammen. Nicht nur aus Literatur, auch aus Filmen, aus Musik. Einmal taucht in der Kadenz auch Bob Marley auf. Wir sind zusammengesetzte Wesen, die von diesen Einflüsterungen gelenkt und bewegt werden. Das kann sehr erfreulich sein. Und die Kadenz war natürlich auch der Versuch, aus der Kindheit raus und in die Gegenwart bzw. in einen ganz anderen Raum zu kommen. Wenn ein Smartphone erwähnt wird, weiß man, wir sind jetzt in einer anderen Zeit, auch wenn es nicht unbedingt die Jetztzeit ist, sondern eine mit surrealen Zügen.

 

Carola Opitz-Wiemers

Die Konsequenz aus dem, was du jetzt gesagt hast, wäre aber, dass in dem Versuch, diesen komplizierten Zellhaufen, dieses Wesen Mensch, zu verstehen, dass das letztendlich nicht möglich ist. Weil es einfach unbegreiflich ist, was da alles zusammengeht.

 

Sabine Peters

Da bin ich fest von überzeugt. Wie kann denn Identität ein für allemal festgelegt werden? Sie ist doch kein ehernes Standbild. Identität erscheint einem oft als etwas Nebliges. Vermutlich deutet sie sich im Weg des Lebens immer nur an. Deshalb auch dieses Wanderbild. Das ist nicht meine Erfindung; es ist von anderen inspiriert. Man kann an Volkslieder denken, an „das Wandern ist des Müllers Lust“ oder an Schuberts „Winterreise“. Es bestand beim Schreiben dieses Buches immer die Gefahr, zu viele Theorien im Kopf zu wälzen. Fragen wie: Was ist Erinnerung, was ist das Gedächtnis, was ist Identität? Da war es mir leichter und auch lieb, im Rückblick auf die verrückte, kleine Marie zu versuchen, in der „Kadenz“ eine andere sprachliche Form von Verwandlung zu praktizieren. Eben nicht mehr im Raum der Kindheit, sondern an einem anderen Ort. Im Nirgendwo vielleicht.

 

Carola Opitz-Wiemers

Das erzeugt am Romanende auch ein unglaubliches Tempo, eine enorme Kraft. Und natürlich blickt man nochmals auf die anderen Kapitel zurück, weil die bereits bekannten literarischen Figuren in dieser Kadenz virulent sind. Vor allem wird der Begriff des allwissenden Erzählers hinterfragt. Mit dem passiert Merkwürdiges: „Die Leute konnten durch die dichten Laubkronen nicht sehen, wie ein allwissender Erzähler bleich und stumm aus allen Wolken fiel. Er krachte endlich durch die Bäume und folgte der Gruppe humpelnd.“ Der ist nicht nur von einem Baum heruntergefallen, der ist aus seiner Funktion herausgefallen, er humpelt. Er ist beschädigt. Ist das deine Art, mit dem allwissenden Erzähler abzurechnen?

 

Sabine Peters

Das ist vielleicht auch meine Art von Selbstspott. Man kratzt sich ja manchmal am Kopf und fragt sich, wer spricht denn hier, wie ist die Perspektive? Ach ja, der berühmte allwissende Erzähler. Dieser Gestalt, die natürlich auch in diesem Buch vorkommt, musste ich einen Vogel zeigen. Aber er wird immerhin nicht ermordet. Denn er überlebt den Wolkensturz, er ist nicht tot.

 

Carola Opitz-Wiemers

Aber er humpelt. Ob er noch den Anschluss findet, steht in den Sternen, um im Bild zu bleiben. Damit wird reflektiert, welche verschiedenen Perspektiven sich auf die Kinder und auf das Terrain von Kindheit eröffnen. Über Kindheit versuchen viele zu schreiben. Dein Roman ist für mich ein gelungener Versuch, dieses wirklich Komplizierte und zum Teil ja auch Schmerzhafte daran zu erkunden, mit Hilfe einer weiblichen Perspektive.                               

Ich danke dir vielmals für dieses wunderbare Buch, für das Gespräch und für deine Lesung, und ich warte auf das nächste Buch von dir.

 

Foto: Jutta Schwöbel