Maxi Obexer: Über die Blasen hinweg

 

Maxi Obexer diskutiert das Phänomen der Blasen in ihrem Für und Wider für soziale Gruppen und deren Anliegen, um abschließend einem geschichtlichen Fall nachzuspüren: Ausgehend von ihrer aktuellen Arbeit an einem Theaterstück über die Dritte Generation der RAF exponiert sie Sprache und Schreiben als adäquates Ausdrucksmittel und genuines Medium, um Wege aus der Blase und absoluter Isolation zu finden. Der Essay war Textgrundlage für den Workshop „Out of the bubble“ am 24.1.2019.

 

Seifenblasen lassen sich ganz einfach herstellen, etwas Glycerin, Seife, Zucker und Wasser bilden das Grundgemisch, das zuerst eine Zeitlang wirken sollte. Einen am besten gezackten Ring durch die Lauge geführt, eine Mundvoll Luft hindurch geblasen, und schon steigt eine Blase auf, wirbelt eine Weile durch die Luft und verpufft dann wieder. Bis auf ein paar Tröpfchen hinterlässt sie keine weiteren Spuren.

Der Blase eigen ist ihre Undurchdringbarkeit; zwar ist sie extrem beweglich und formbar, doch wird sie durchdrungen, löst sie sich auf. Das gilt selbst dann, wenn die Blase mit einer anderen Blase in Berührung kommt. Nur sehr selten gelingt die Vereinigung, meist platzen beide. Obwohl die Blase also durch andere Elemente bewegt wird und sich bewegen lässt, diese existenziell sogar nötig hat, wie die sie umgebende Luft, ohne die sie gar nicht aufsteigen könnte, denn genau genommen ist sie nichts weiter als Luft in der Luft, so ist dennoch der Vorstoß ins Innere der Blase nicht möglich, ohne sie zum Platzen zu bringen. Die äußere, andere Realität bedingt sie also einerseits, und ist andererseits ihre existentielle Bedrohung.

 

 

Das Phänomen der Blase wird gern mit dem enormen Vermögen von Menschen und Gruppen assoziiert, durch Wahrnehmung, Einbildung und Übereinkunft eine ganz eigene Realität zum Entstehen zu bringen, eine Blase. Diese Kraft und Energie kann so stark sein (und soll es auch), dass sie die bestehende Realität (oder Ordnung) zum Taumeln bringt und deren Legitimation als schlechthin gültige komplett in Frage stellt.
Auch diese menschlich-soziale Blase begründet und bedingt sich über die anderen, sie umgebenden Realitäten und bildet sich in Abgrenzung zu ihr. Sie geht also aus einer direkten Abhängigkeit zu dem hervor, wogegen sie sich gleichermaßen richtet, wogegen sie sich in Stellung bringt.
Mit den sozialen Netzwerken haben sich die Blasen vermehrt und vervielfältigt. Weit darüber hinaus, nur eine Plattform für den Meinungsaustausch zu sein, bieten die Computerprogramme soziale, emotionale und geistige Zugehörigkeiten. Mit ihnen steigt naturgemäß auch der Wunsch, oder der Zwang, oder die Not, dazuzugehören -und, entsprechend dazu, ab- und auszugrenzen. Was die eingeschlossene Luft in der Seifenblase, ist in den Social-Media-Blasen das emotionale Angebot eines Zuhauses unter Gleichgesinnten, der Anspruch nach der letztgültigen Wahrheit in der eigenen und gemeinsamen Meinung. Auch von Echokammern wird in diesem Zusammenhang gesprochen, wenn die letztgültige Wahrheit hinausgeschrien wird und das, was gehört wird, nur den eigenen Widerhall erlaubt. Eine Besonderheit ist häufig die Aufgebrachtheit über andere, die auch gerne als Gegner ausgemacht werden, obwohl gar nicht sicher ist, ob es diese Gegner überhaupt gibt. Sicher ist eines: die, über die aufgebracht gesprochen wird, werden garantiert nicht selbst gefragt, mitzusprechen.

 

Haben Blasen einen Sinn? Wenigstens zu Beginn, bevor sie Blasen wurden? Wenn es zunächst einmal darum gehen muss, laut und sichtbar zu werden, um überhaupt gehört und gesehen zu werden? Um eine Wahrnehmung zu schaffen für das, was geleugnet oder ignoriert wird, und weder im offiziellen Diskurs, noch in den Debatten, noch in den Inhalten der öffentlichen Institutionen vorkommt. Auch, um Platz zu schaffen für jene, die zwar immer schon da waren, aber nie einen eigenen hatten? Solange also eine Gruppe eine reale Kommunikation führt mit dem Ziel, einen gegenseitigen und gemeinsamen Prozess zu lancieren. Und das Analysieren, Aufdecken, ja auch Beschwören des bislang unsichtbar Gehaltenen mit dem Wunsch verfolgt wird, andere Sensibilitäten herbeizuführen. Was sich irgendwann zur sich selbst genügenden „Blase“ entwickelt hat, kann ursprünglich einmal ganz anders begonnen haben, ganz gegenteilig sogar. Mit einer Vision beispielsweise nach offenen und freien Verhältnissen, Hand in Hand mit der Ohnmacht darüber, wie selbstgewiss und wie scheinbar normal die andere, politisch mächtigere Seite den Ein- und Ausschluss kontrolliert. Diese andere Seite kann ja selbst eine geschlossene Gesellschaft sein, taub und verschlossen gegenüber anderen Realitäten, oder den Realitäten anderer.

Mit dem Zusammenbringen und Zusammendenken wird somit ein erstes „Zusammen“ formuliert, gegen das Zusammenhalten der Mächtigen. Die Wut, oder auch zuweilen der Hass sind somit nicht erster und letzter Ausdruck, wie er in sozialen Netzwerken inzwischen unverblümt ausschlägt, oft genug als reiner Selbstzweck. Sondern entstand aus der oftmals langen und leidvollen Erfahrung über die Hartnäckigkeit derer, die den Status Quo halten und verteidigen wollen.

 

Doch was, wenn beispielsweise eine Minderheit, nachdem ihre Rechte anerkannt und gesichert wurden, nicht mehr aufhört, eine Minderheit zu sein? Wenn das Daseinsrecht erstritten, sogar ein Schutzprogramm für sie eingerichtet wurde, das es ihr gar nicht mehr erlaubt, anders als eine „Minderheit“ zu agieren. Wenn sie irgendwann selbst dazu beiträgt, das Gefüge Mehrheit – Minderheit zu unterstützen, mit ihr das Modell „mehr – und minder“, mit ihr das statische Gefüge einer Identität. Der Preis, sich als Minderheit behauptet zu haben, ist dann der, sich nun als Folklore wiederzufinden. Dabei galt es, oder sollte es doch darum gegangen sein, überhaupt die elende Symbiose von Minderheit und Mehrheit aufzulösen, über die geschlossenen Systeme hinauszugelangen, sie überhaupt hinter sich zu lassen.
Ist es vielleicht der schwierigste Schritt, sich nach der Emanzipation als emanzipiert zu verstehen, nicht mehr länger als die abgesonderte Gruppe, nicht mehr als absonderlich, sondern maximal noch als ein wenig anders? Diesen Rest "Anders-Sein" hieße es dann einfach zu leben, das Erreichte anzuerkennen und die veränderte Situation zu praktizieren, nicht mehr in der Gegnerschaft zu den anderen, nicht mehr in der Opposition zu einer Mehrheit, sondern in der Ausübung des Normalen. Das hieße auch, sich aus der Blase hinauszubewegen, sie aufzulösen, sich selbst und die eigene Sozialisation als Minderheit mit aufzulösen.
Nur wie lässt sich beispielsweise das für einen politischen Kampf notwendig starke Selbstbewusstsein wieder erweichen, bevor es sich zur Nekrose verhärtet? Bevor der Moment erreicht ist, wo vom Kampf die Blase bleibt, und der Blase der Gehalt an Realität abhandengekommen ist? Wie ist die Auflösung möglich, nachdem oft ein ganzes Leben investiert wurde und ein Ausstieg kaum mehr möglich erscheint?

 

Viel ist über die Rote Armee Fraktion geschrieben worden, auch über deren Entstehung. Weniger weiß man über deren Auflösung. Sie fand zu Beginn die Unterstützung der 68er Bewegung, aus der sie auch hervorging, und behauptete sich sogar als deren Avantgarde. Das intellektuelle Profil verlieh ihnen vor allem Ulrike Meinhof, den Pop-Status Andreas Bader und Gudrun Ensslin. Die RAF wurde zur Ikone und ihre Akteure zu Widerstandskämpfern, gegen einen Staat, den sie als weiterhin bestehenden Nazistaat demaskierten. Sie holten, fast könnte man sagen, sie 'spielten' den Widerstand nach, den ihre Eltern im Nationalsozialismus nicht wagten, und sie zogen, wie sie es nannten, gegen den von den USA gelenkten „neo-imperialistischen Schweinestaat“ zu Felde. Niemand würde dieser ersten Generation der RAF absprechen, dass sie es mit genau dem Gegner zu tun hatten, gegen den sie zu Felde zogen. Als sie schließlich geschlossen, und geschlossen stolz und trotzig in den Knast wanderten, wurde Stammheim zum bundesweit politischsten (und neuralgischsten) Ort. Als Holger Meins an den Folgen des Hungerstreiks verstarb, und dessen bis auf die Knochen abgemagerter Körper mit den Bildern eines KZ Häftlings assoziiert wurde, ging dies eindeutig zu Lasten des Staates. Noch ging es zweifellos um die Demaskierung des alten Nazi-Staates, und weniger darum, ihm diese Maske immer und immer wieder aufzusetzen.

Doch auch schon damals sollte genau diese Assoziation hergestellt werden. Der Tod von Holger Meins ist von der RAF mindestens zu gleichen Teilen wie vom Staat herbeigeführt worden. Eine neue große Protestbewegung war die Folge, und schließlich die Fortsetzung der RAF. Die zweite und auch die dritte Generation der RAF würde es ohne  Holger Meins und die fortgesetzte Erinnerung an die KZ-Verbrechen nicht gegeben haben. Hunderttausende gingen auf die Straße, noch gab es eine gesellschaftliche Unterstützung der Terrorgruppe, die versiegte erst mit den Aktionen der sogenannten dritten Generation. Dieser geriet alles abhanden, was die erste Generation noch auf breiter Ebene legitimierte: Durch die Wende löste sich der große systemideologische Konflikt Sozialismus / Kapitalismus in Luft auf. Immer fragwürdiger wurde es außerdem, als Stadtguerilla einen Kampf gegen den globalen Imperialismus an der Seite der Befreiungskämpfer in Lateinamerika zu veranstalten. Die 3. Generation perfektionierte ihre Morde, keiner von ihnen wurde bis heute aufgeklärt. Die dabei zu Tage tretende nackte Gewalt ließ noch die letzten Sympathisanten sich distanzieren. Niemand glaubte mehr daran, dass es irgendeinen Sinn machte, einzelne Akteure wie Herrhausen, Rohwedder aus dem System zu entfernen sprich, kaltblütig zu ermorden. Jetzt wurden sie auch offen mit der Frage konfrontiert, wie sie denn ihre Morde legitimierten, wenn sie doch andererseits gegen die Todesstrafe waren. Nichts konnte sie noch legitimieren. Doch ihre Mitglieder waren noch da, sie lebten im Untergrund, oft genug auch vom Staat und seinem oft maßlosen Reagieren dorthin gedrängt. Es blieb ihnen noch die Vergangenheit, die Verbrechen des Nationalsozialismus, der Holocaust, was mehr und mehr zur Obsession geriet. Sie waren auf dem Weg der Auflösung, Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld, die Anführer der letzten Generation, die keinen Sinn mehr machte. Und sie wussten es. Sie taumelten. Dann erschien noch ein Buch, das ihnen die Existenz in Abrede stellte. Das "Phantom - RAF" vertrat die Meinung, dass die 3. Generation eine glatte Erfindung der Geheimdienste war. Zu weniger als nichts zerplatzt nicht einmal die Blase.
Das Paar lebte seit über zehn Jahren im Untergrund in der inzwischen aufgelösten DDR. Sie mussten sich unauffälliger geben, als die unauffälligsten Spießbürger, und jetzt wurde ihnen auch noch ein Phantom angedichtet. Noch waren sie dabei herauszufinden, wie der Weg hinaus zu finden wäre. Es war genau der Zeitpunkt, als sie am Bahnhof in Bad Kleinen überrumpelt wurden, als Wolfgang Grams erschossen wurde, und Birgit Hogefeld ins Gefängnis kam. Die beiden hatten sich im Protest gegen die Isolationshaft der RAF angeschlossen; nun war Grams tot und Hogefeld in Isolationshaft. Dort allerdings beginnt sie einen neuen Weg, einen Weg, der über die Sprache ging. Birgit Hogefeld schreibt, analysiert, kommuniziert, ergreifend und tiefgehend: es sind Angebote der Auseinandersetzung an die andere Seite. Die schlug diese ihr aus der Hand. "Glückwunsch, Frau Hogefeld", so lautete der Kommentar eines Staatsanwaltes, als Hogefeld eine selbstkritische Analyse der RAF im Gerichtssaal gab. Woran sich zeigt, wie sehr auch der Staat seinerseits in einer Blase festsaß. Hogefeld hingegen schaffte es, in der Isolationshaft über die Blase hinauszugelangen.

 

© Maxi Obexer