Matthias Nawrat »Eine Beziehungsgeschichte«

Kurzgeschichte

 

 

In einem fernen Juli ging ich an den Gärten der „Ökosiedlung“ in meiner Heimatstadt entlang und wollte mich endlich verlieben. Plötzlich stand Charlotte vor mir, die mit mir in einer Klasse war.

 

Ihre Eltern hatten ein Haus, dessen Garten auf die Felder ging. Einige Familien hatten sich im sogenannten Berggebiet schon in den 1980ern in einer Neubausiedlung zusammengeschlossen. Die Häuser bildeten im Inneren einen zentralen Hof, in dem man sich traf, die Belange der Siedlung besprach, nach außen durch Gartenmauern abgeschieden.

 

Was ist mit dir?, fragte Charlotte.

 

Was soll mit mir sein?, sagte ich.

 

Ein paar Mal war ich schon in Charlotte verliebt gewesen, bei einem Theaterprojekt in der Achten, dann bei einem Geschichtsprojekt in der Neunten und bei einem Vogelschutzprojekt in der Zehnten. Ganz am Anfang nach dem Wechsel aufs Gymnasium in der Fünften auch schon mal, aber dann war ich eine Weile verliebt gewesen in ihre Schwester Clara und dann in ihre andere Schwester Caroline und dann wieder in Clara. Man konnte sagen, ich war seit dem Beginn meiner Gymnasialzeit bereits in das ganze goethesche Weimar und Jena verliebt gewesen.

 

Meine Eltern sind für ein paar Tage weggefahren, willst du mit reinkommen?, fragte Charlotte und lehnte sich an den Zaun, würdigte mich keines Blickes. Ist mir absolut egal, ob du mit reinkommst, sagte sie.

 

Im Wohnzimmer, das wir vom Garten aus betraten, herrschte eine Stille, die vom Klavier auszugehen schien, das neben einem großen Esstisch und vor einem Bücherregal stand. Auf dem Teppichboden vor dem Fernseher lagen Hochglanzmagazine. Eine Schere, Tesafilm, ein paar Stücke Pappkarton, auf die einige Bilder geklebt waren. Auf den Bildern sah man junge Models. Charlotte hatte die Körper in Paaren nebeneinandergeklebt, die Köpfe jeweils einander zugeneigt, die Körperteile berührten einander.

 

Wenn du unbedingt willst, kann ich dir mein Zimmer zeigen, sagte sie.

 

Ach, wie soll man das erklären – im Leben eines Menschen öffnet sich, vielleicht nur ein einziges Mal, ein Fenster.

 

In dem Moment, da ich hinter Charlotte einen Fuß auf die Treppenstufe des stillen Hauses setzte, wusste ich, dass meine große Liebesgeschichte begann.

 

Wir stiegen an Fotos entlang ins Obergeschoss hinauf, immer höher, dabei drehte die Zeit sich immer tiefer hinein in die Geschichte wie eine Schraube. Oder stiegen wir in den Himmel unserer beginnenden Zukunft? Charlottes Eltern auf einer Baustelle, die Mutter in Latzhosen, der Vater mit einer Schubkarre. Charlotte und ihre Schwestern als Babys. Dann auf der nächsten Wand Schwarzweißfotografien von einer Frau und einem Mann, die an einem Gartentisch saßen, im Hintergrund eine Burg auf einem Berg. Ein junger Mann in Uniform. Der Blick in ein Tal.

 

Im Nachhinein kann ich nur sagen: Ich sprang durch das Fenster, das sich geöffnet hatte.

 

Wir erzählten uns im Verlauf der nächsten Stunde, mit den Rücken gegen ihr Bett gelehnt auf dem Teppich sitzend und Fotos aus ihrer Kindheit anschauend und Händchen haltend, alles über unsere Leben. Sie wollte reisen, danach in der Modebranche arbeiten und sich politisch für heimische Vogelarten einsetzen. Zunächst aber würde sie Politik studieren.

 

Ich erzählte, dass ich mir immer ein Elternhaus wie ihres gewünscht hätte. Mit einem Garten und einem Klavier und mit Büchern, und jeder hatte sein eigenes Zimmer, sein ganz privates, aber es gab auch einen gemeinsamen Wohnbereich.

 

Charlotte sagte, dass sie sich immer ein armes Leben gewünscht hatte, schwierige Verhältnisse, wie diejenigen, aus denen ich stammte.

 

Ich sagte, dass ich gar nicht aus schwierigen Verhältnissen stammte.

 

Doch, sagte sie.

 

Wir beschlossen, rauszugehen und uns zum ersten Mal offiziell in der Nachbarschaft zu zeigen. Als wir kurz darauf Hand in Hand über die Gehwege der Siedlung schritten, am zentralen Gebäude mit dem Gemeinschaftssaal mit der Tischtennisplatte vorbei, wo ich als Grundschüler mit meinem ersten besten Freund Franz Döring, der ebenfalls in der Siedlung wohnte, tagelang Aufschläge und Schmetterbälle geübt hatte, in der Hoffnung, sein Bruder werden zu können, von seiner Mutter zum Nachmittagssnack hineingerufen zu werden und die Nächte von da an in einem der Kinderzimmer in der oberen Etage seines Hauses zu verbringen – da nickten uns in den Fenstern der Häuser die Siedlungsbewohner beeindruckt zu und gratulierten uns zu unserem Glück.

 

Zurück im Haus bereiteten wir ein Abendessen in der Küche zu, die genauso still war wie das Wohnzimmer. Wir stellten alle möglichen Dinge aus dem Kühlschrank auf den Tisch. Der Käse befand sich in einer durch Klammern verschließbaren Blechbox, Wassermelonenstücke lagen in einem Plastikbehälter. Das Brot im Holzkasten war in ein Tuch eingewickelt, in das das Wort Brot eingestickt war.

 

Ich rief bei mir zu Hause an, aber meine Eltern waren auf der Arbeit, sie putzten abends noch zusätzlich ein paar Häuser im Berggebiet, sie waren gerade vielleicht sogar irgendwo hier, in dieser Siedlung, dachte ich, was mir auf einmal, jetzt, da ich ein ganz neues Leben zu führen begonnen hatte, sehr leid tat für sie.

 

 

Am nächsten Morgen machten Charlotte und ich uns daran, eine Zeitung herauszugeben, in der wir die Stadt über unsere Beziehung informierten. Es war eine politische Zeitung, in der es auch um den Schutz der heimischen Vogelarten ging und in der wir außerdem eine weltweite Bekämpfung der Armut und das Ende der Kriege forderten. Wir gaben die Zeitung in der ganzen Ökosiedlung heraus und gingen kurz darauf von Haus zu Haus, teilten sie persönlich an die Leute aus, die sehr interessiert waren.

 

Dann gingen wir in die Schule, traten zum ersten Mal Hand in Hand durchs große Tor. In der Pause richteten wir im Hof einen Tisch her und informierten unsere Mitschüler mit Flyern, beantworteten Fragen. Viele der Lehrkräfte opferten an diesem Tag eine Unterrichtsstunde, weil unter den Mitschülern ein solches Interesse an unserer Beziehung bestand.

 

Zurück zu Hause stellten wir im Garten von Charlottes Eltern ein Zelt auf, weil wir fühlten, dass wir allmählich etwas Eigenes brauchten. Charlotte sagte, dass sie sich, seit wir uns kennengelernt hätten, von ihren Eltern unheimlich weit wegentwickelt hätte.

 

Ich bin nun praktisch ein ganz anderer Mensch als sie, sagte sie. Schau unser gemeinsames Leben an, wir vertreten ganz andere Überzeugungen, uns geht es um etwas, während sie nur ihre Ruhe haben und nichts mehr von ihren früheren Glaubenssätzen wissen wollen. Meinem Vater reichen das Lauftraining und die Vorbereitungen für den Marathon des Sables, meine Mutter sorgt sich nur immer um ihr neues Auto, ob es denn anspringt, ob der Ölstand noch stimmt, ob es geputzt werden muss. Außerdem staubsaugt sie alle zwei Tage das Haus und liest ihre Bücher und geht nicht mehr vor die Tür.

 

Wir holten aus Charlottes Zimmer ihre Kleidung, ein paar Stühle, die wir vor das Zelt stellten, wir holten auch ihren Schreibtisch. Wir machten uns in der Küche etwas zu essen und schauten dann im Wohnzimmer bis in die Nacht Videofilme und Fernsehsendungen. Zwischendrin beantwortete sie, weil ständig eine ihrer Freundinnen anrief, weitere Fragen und erteilte Beziehungstipps.

 

Am nächsten Morgen sah ich, als ich gerade die zweite Ausgabe unserer Zeitung in der Siedlung austrug, wie aus einer der Haustüren meine Mutter trat, mit einem Eimer und einem Wischmopp in der Hand. Sie stellte sich auf die unterste Treppenstufe und wischte sich mit der freien Hand über die Stirn, blickte dann in den Himmel hinauf. Dann plötzlich schaute sie in meine Richtung. Ich winkte, sie lächelte und winkte zurück, dann erst hellte sich ihr Gesicht auf und sie lächelte und winkte fester. Sie tippte auf die Uhr an ihrem Handgelenk, deutete auf die Haustür und hob die Achseln, trat, nachdem sie mir nochmals überrascht und seltsam glücklich gewunken hatte, ins Haus zurück.

 

Zurück im Haus von Charlottes Eltern hörte ich Klappergeräusche aus der Küche, aus der oberen Etage drang gedämpfte Musik.

 

Wenn ihr irgendwann das Haus erben wollt, sagte Charlottes Vater zu mir, während er im Wohnzimmer seine Laufhose anzog, solltest du anfangen, mit mir zu laufen.

 

Wir wollen das Haus nicht erben, sagte Charlotte. Es macht uns nichts aus, in schwierigen Verhältnissen zu leben. Ich bin übrigens ausgezogen.

 

Wohin?, fragte ihr Vater.

 

Wir wohnen jetzt im Garten, sagte sie.

 

 

Am nächsten Tag ging ich nach der Schule nach Hause, um ein für alle Mal meine Sachen zu holen. Ich löste sogar das Pet-Shop-Boys-Poster von der Wand des Zimmers, das ich mir mit meinem Bruder teilte. Über das Poster sagte er immer, dass darauf wir beide zu sehen wären.

 

Wir sind die Pet Shop Boys, mein alter Junge, sagte er, mit seinem grünen Froschradio in der Hand, was mir nun, da ich mich daran erinnerte, den Magen zuschnürte.

 

In der Küche fand ich einen Zettel, auf dem ich las: „Meine Lieben, leider komme ich heute wieder spät nach Hause, und morgen früh bin ich vermutlich schon weg, bevor ihr wach seid. Im Ofen findet ihr Lasagne, im Kühlschrank einen Rohkostsalat. Die Wäsche müsste aufgehängt werden, aber wenn ihr es nicht schafft, dann mache ich es. Habt einen schönen Tag, ich freue mich sehr auf euch!“

 

Ich holte die Lasagne aus dem Ofen und stellte ein Stück davon auf einen Teller. Aber ich kriegte keinen Bissen hinunter. Ich ging zurück ins Kinderzimmer und hängte das Poster zurück an die Wand. Ich achtete darauf, dass die Tesafilmstreifen genau an denselben Stellen wie zuvor klebten, denn mein Bruder hatte detektivische Fähigkeiten und war eine Petze und ein Klugscheißer.

 

Als ich kurz darauf durch unsere Straße ging, an den Blöcken entlang, in denen mit uns alte Alkoholiker und russische Spätaussiedlerfamilien wohnten, am Edeka und an den geparkten Autos vorbei, konnte ich spüren, wie die Klammer um meinen Magen langsam losließ und wie mich ein seltsames Gefühl überflutete. Meine Knie zitterten, ich musste mich, weil mir schwarz vor Augen zu werden drohte, auf die Bank an der Bushaltestelle setzen.

 

Es war, als hätte ich etwas Schreckliches überlebt, und nun kehrte die wunderschöne Welt um mich zurück, die Wiese vor unserem Block, der Balkon im ersten Stock, auf dem sich meine Mutter manchmal unter einem Schirm vor der Birke sonnte, und diese Bank, auf der im Sommer die jungen Alkoholiker saßen und versuchten, mich vom Alkoholtrinken zu überzeugen. Ich sah den großen Fleck im vierten Stock neben dem Wohnzimmerfenster der Rotschniks, den ich schon seit vielen Jahren kannte und der die Umrisse von Bolivien hatte, dem Lieblingsland meiner Kindheit. Ich sah die Form, in der sich die Kante unseres Wohnblocks gegen den blauen Himmel abhob und die ich plötzlich liebte. Alles in mir kehrte zu einer tieferen Ruhe und Liebe zurück. Ich stand auf und war froh, dass dies noch kein endgültiger Abschied war, dass ich jederzeit zurückkehren konnte, dass nichts auf der Welt verloren ging, dass alles, was heilig war, blieb, zumindest vorerst, zumindest jetzt noch, heute noch!

 

 

Ist das alles?, fragte Charlotte.

 

Alles, sagte ich, nachdem ich meine T-Shirts im Zelt verstaut hatte.

 

Charlotte holte Brot und Käse aus der Küche, und den Salat, den ihre Mutter zubereitet hatte. Wir aßen zu Abend. Unsere erste wirklich gemeinsame Mahlzeit.

 

Am dritten Tag unserer Beziehung ließ Charlotte sich ins Amt der Schülersprecherin unserer Schule wählen. In der Aula hielt sie vor versammelter Schüler*innenschaft eine Grundsatzrede und setzte durch, dass in der sogenannten Nichtrauchermulde des Pausenhofs, an der tiefsten Stelle in der Ebene des Kraters, des La-Paz-Stadtkessels, als der der Pausenhof den natürlichen Bedingungen der Landschaft entsprechend angelegt worden war, vielleicht schon von den ersten Bamberger Mönchen oder vom Mathematiker Clavius, dem Namenspatron unserer Schule, Bänke und Tischtennisplatten aufgestellt wurden, ähnlich wie an den erhöhten Rändern des Kraters, wo die Aschenbecher standen und wir etwas Beliebteren uns in den Pausen aufhielten. Vor allem diejenigen Schülerinnen und Schüler, die nicht aus dem Berggebiet stammten, sondern aus dem Umland, und die daran erkannt werden konnten, dass sie immer etwas müder wirkten als wir, weil sie eine Stunde früher aufstehen mussten, um mit dem Schulbus in die Stadt aufzubrechen, applaudierten. Charlotte organisierte außerdem sofort erste Kulturprojekte für die schulfreien Nachmittage, Theater- und Diskussionsabende zu Themen, die alle Schülerinnen und Schüler betrafen, wie den Kaffeeautomaten im Eingangsbereich oder die Frage: Wer möchte später was studieren und sich wofür genau politisch einsetzen?

 

Charlottes Mutter hatte in der Zwischenzeit meinen eigenen Handtuchhaken im Badezimmer angebracht, ich bekam auch einen eigenen Aufsatz für die elektrische Zahnbürste. Charlottes Vater zeigte mir in der vierten Nacht unserer Beziehung, als ich vom Garten noch mal ins Wohnzimmer ging, wo er auf dem Sofa lag, Aufnahmen im Fernsehen, auf denen rauchende junge Leute in Hemd und Anzug und mit Krawatte und mit leicht schief geschnittenen Frisuren in einem Fernsehstudio oder in Vorlesungssälen über die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem Land und auf der ganzen Welt diskutierten. Charlottes Vater konnte, obwohl er körperlich extrem fit war, nicht schlafen und schaute deshalb bis vier Uhr nachts diese Sendungen, die auf dritten Programmen ausgestrahlt wurden.

 

Charlottes Mutter hingegen verschlief manchmal ganze Tage, ich meinte sogar, dass sie den vierten Tag unserer Beziehung überhaupt nicht miterlebte, und wenn, dann nur am Rande. Am fünften Tag unserer Beziehung, dem Tag unseres großen Streits, an dem wir beinahe auseinandergezogen wären, ließ sie sich sogar überhaupt nicht blicken, und an anderen Tagen saß sie auf einem der Barhocker an der Theke der Durchreiche zur Küche und schaute durch das kleine Küchenfenster hinaus, wo durch den Efeu und den Wein nur ein winziger Ausschnitt des Himmels und des Innenhofs der Siedlung sowie ein weit entfernter Industrieschlot und ein paar bewaldete Berge des Umlands zu erkennen waren. Wenn ich sie etwas fragte, schreckte sie auf oder reagierte gar nicht, als schliefe sie mit offenen Augen, als hielte sie sich am Boden eines Gewässers auf, in seinen tiefsten Tiefen, umgeben nur von Schwebeteilchen.

 

Charlotte und ich unternahmen am sechsten Tag unserer Beziehung, dem Tag unserer Versöhnung, Fahrradausflüge ins Umland, wir hatten beschlossen, dass wir gemeinsam die Welt erkunden wollten. Wir besichtigten die Giechburg und die Heinlein-Kapelle, wir badeten in der Regnitz. Zurück zu Hause besuchten wir ein paar Museen in der Stadt und gingen ins Kino und Theater und nahmen an einer Flusskreuzfahrt teil. An den Nachmittagen erledigten wir die Einkäufe für Charlottes Eltern.

 

Als wir eines Tages, unsere Beziehung dauerte bereits eine ganze Woche, erschöpft von einem solchen Einkauf nach Hause kamen, fragte Charlotte mich plötzlich, ob ich mich mit jemand anderem traf, ob es jemand anderen gäbe.

 

Jemand anderen?, sagte ich.

 

Ich war kaum in der Lage, es ihr auszureden, denn als ich verneinte, sagte sie, dass sie es sehr auffällig fände, wie wenig ich von anderen Personen, egal ob Männern oder Frauen, spräche. Als ich sagte, dass ich mich für andere Personen nicht interessierte und für immer mit ihr zusammenbleiben wollte, fragte sie, woher ich das wissen könne.

 

Das könne ich wissen, sagte ich, da ich nämlich wisse – und es sei eine besonders tiefe Form des Wissens, weil ein Gefühl –, dass sie für mich die Einzige sei, und dieses Wissen unterliege für mich keinem Zweifel. Auch sei für mich keine zukünftige Situation denkbar, in der dieses Wissen durch irgendeine Entwicklung relativiert werden könnte. Sie sei für mich die wichtigste Person auf der Welt und keine andere Person werde jemals mit ihr vergleichbar sein.

 

Also gibst du zu, sagte Charlotte, dass diesem Gefühl doch ein gewisser Vergleich zugrunde liegt.

 

Bitte?, sagte ich.

 

Du sagst zwar, dass ich die wichtigste Person für dich sei, sagte Charlotte, und so gesehen die einzige. Aber doch bin ich ja die Wichtigste und Einzige aus einer Vergleichsmenge, also die Wichtigste und Einzige von mehreren.

 

Von allen, sagte ich. Von der Gesamtheit.

 

Aber, sagte Charlotte, und plötzlich erschien eine schreckliche Traurigkeit in ihrem Gesicht, ein optimistisches Wohlwollen, die Gesamtheit aller ist dir doch gar nicht bekannt. Du kennst doch nicht alle Menschen, und du kannst niemals alle kennen.

 

Das ändert nichts, sagte ich.

 

Charlotte legte eine Hand auf meinen Unterarm. Sie küsste mich auf die Wange. Ich wusste, dass dies unsere Trennung war, alles schien bereits ausgemacht.

 

Ich werde es dir beweisen, sagte ich.

 

Es ist nicht beweisbar, sagte Charlotte.

 

Erst da fiel mir auf, dass sie sich das Haar kürzer geschnitten und dunkel gefärbt hatte. Sie kleidete sich auch ganz anders als früher. Sie trug jetzt ein Sakko. Von draußen drang ein Hupgeräusch in den Garten. Ein guter Freund und Kommilitone von ihr war gekommen, um sie abzuholen. Offenbar studierte Charlotte inzwischen und wohnte in einer WG in der Innenstadt.

 

 

Ach, dieser weit zurückliegende Juli. All diese Tage verschwimmen zu einem. Ich sehe Charlotte noch heute vor mir, wie sie mir den Reichstag unter Bismarck erklärt, oder was eine Matrize ist. Ich sehe, wie ihr eine Weimar-Locke wie das Korkenzieherblättchen einer Weide in die Stirn fällt. Wie ihre Augen leicht zusammengekniffen in einen Zwischenraum blicken, jenseits der sichtbaren Welt, während sie überlegt und spricht und gestikuliert. Ihr fokussierter Blick. Dieses Leuchten in ihren Augen und in ihrem Gesicht, wenn sie sich über mich ärgert.

 

 

Na, alter Junge, sagte mein Bruder, als ich am Nachmittag von Tag sieben, am Tag der Trennung, in unser gemeinsames Zimmer trat. Er lag auf seinem Bett, wie immer die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und schaute an die Decke unseres Zimmers hinauf und zu seinen Plakaten der Pet-Shop-Boys, die er über alles liebte. Aus seinem Froschradio drangen gerade die Zeilen „Maybe I didn't treat you / quite as good as I should have”.

 

Was soll ich sagen, sagte ich.

 

Aus der Küche breitete sich in der ganzen Wohnung der Duft von Lasagne aus. Mein Bruder schaute mich lange an, dann nickte er. Ich war eine ganze Woche weggewesen. Er ließ sich zurück auf das Kissen fallen, verschränkte wieder die Hände hinter dem Kopf. Er schloss die Augen und seufzte. Dann horchte er wieder der Melodie aus seinem kleinen Radio nach.

 

 

Dieser Text wurde für das Short Story Long Festival (26.–29.08.24) des Literaturforums im Brecht-Haus verfasst.