Kathrin Röggla: Die große Transformation und ihre kleinen

Social Distancing ist das Schlagwort der Zeit. Wir haben Autor*innen gebeten, Perspektiven auf diesen Begriff zu formulieren

 

 

 

Foto © Andreas Schmidt

 

 

Die große Transformation und ihre kleinen

 

 

Physical distancing ist das neue Social distancing, behauptete man vor vier Wochen, und seither geht die Post ab. Drei verschiedene Konferenzprogramme sind bei mir mittlerweile installiert, oder installieren sich je nach Einladungslink erneut. Mein Webvermögen ist rasant gestiegen, ich versende jetzt das eine oder andere Video, mache Videointerviews, führe Verhandlungen durch. Ich habe gelernt, dass es manchmal besser ist, sich bei Skype mit mehr Distanz zu versorgen, also Bildraum um das Gesicht und den Oberkörper zu schaffen und den Bildschirm auf Augenhöhe zu halten. Sicher, soviel stand auch schon in der Provinzzeitung, die ich hier in Nordhessen täglich erhalte. Was sie nicht verraten hat, dass ein Krimi in Gang gekommen ist, der nicht nur nach der Datensicherheit fragen lässt, nach Überwachung, sondern in jeder Konferenz einem Rätsel aufgibt. Nehmen wir eine beliebige Geschäftsführersitzung mit Zoom, oder auch nur ein Unimeeting: Was ist da im Hintergrund der Personen zu sehen? Es sind ja nur Ausschnitte aus Privaträumen wahrzunehmen, also Räume, die ich im normalen Tagesgeschäft eigentlich nicht zu Gesicht bekomme, im unnormalen aber andauernd. Ich kann sie aber nicht erkennen, sondern muss sie mir zusammenreimen. Wer ist da noch da? Was war das für ein Schatten? Ist die Bücherwand echt oder nur fake, Kulisse? Also ist das wirklich sein oder ihr Arbeitsplatz, befinde ich mich etwa in einem ganz anderen Raum? D.h. ich befinde mich da ja nicht, ich gucke nur drauf. In einer Reihe sehe ich meine Gesprächspartner und mich in Kästchen nebeneinander angeordnet am Bildschirm. Will man den Überblick behalten, verteilen sich bei einer größeren Konferenz relativ kleine Bildschirmkästchen auf dem Monitor, und im Unterschied zu einer realräumlichen Situation wird unsere Aufmerksamkeit auf diese Weise auf das Zuhören gelenkt. Ich sehe ja gleichermaßen auf Zuhörende und Sprechende, und die Zuhörenden sind plötzlich in der Überzahl. Mir fällt plötzlich auf, wie meine Kollegenschaft das so macht mit dem Zuhören. Sie kritzelt was aufs Papier, sieht aus dem Fenster, sieht leicht am Bildschirm vorbei als würde sie was anderes lesen. Gesprächsteilnehmende haben manchmal einen seltsam verkrampften Gesichtsausdruck, ich entdecke Glatzen, wo vorher noch keine waren, oder ist das nur eine Frage der Bildqualität? Manchmal drehen sie sich plötzlich um und rennen aus dem Bild, unvermittelt. Einmal, so wurde mir erzählt, sei eine Wissenschaftlerin mit dem Bildschirm vor ihrem Kind davongerannt und habe sich in der Vorratskammer verbarrikadiert, während von draußen das Kind zu hören war, das andauernd gegen die Tür trommelte und schrie. Sie war mitten im Satz einer Besprechung. Einmal tauchte jemand auf, der da entschieden nicht sein sollte und die Sprecherin merkte davon nichts. Sie wohne alleine, hatte sie vorhin gesagt. Neben dem unfreiwilligen Slapstick gibt es Hintergrundgeräusche, die ich nicht zuordnen kann, merkwürdige Klänge, die Verbindung reißt zudem andauernd, technische Störungen behindern das Gespräch, aber sie treten nicht bei allen gleichzeitig auf, sondern nur einzeln, sodass wir nicht sicher sein können, ob sie wirklich stattfinden oder nur vorgegeben sind, um ein Argument anders, besser platzieren zu können. Und friert mal meine Leitung ein, so bleibe ich am Bildschirm die einzige, die sich in ihrem Zuhören noch bewegt. Ich bleibe als Beweglichkeitsfläche in einem starren Raum. Es ist eine neue Form der digitalen Einsamkeit, eine medial völlig neu organisierte soziale Situation. Dabei verbündet sich das Nichtwissen über die gegenwärtige Lage nur zu gerne mit dem Nichtwissen, das aus der Konferenzsituation entsteht. Planungsunsicherheit, unterschiedliche Gefühlslagen, sozialer Druck machen sich diffus bemerkbar. In diesem Wirrwarr sucht der Unterschied zwischen privat und öffentlich etwas hilflos nach einem neuen Ausdruck, der in der Wahl der Bildmittel besteht, oder in Anredeformen. Die Situation unterwirft uns medialen Ritualen, die wir noch nicht ganz verstehen. Der Bildungssektor, von Universität bis Schule ächzt unter den Vorgaben medialer Vermittlung, dem Spiel der Kontinuität öffentlicher Vorgänge wie sie eben nicht im Netz einfach fortgeführt werden können. Homeschooling ist eben nicht der Ersatz für den Schulalltag, zumindest die jüngeren Kinder und Jugendlichen verweigern längere Schul-Bildschirmzeiten. Es ist interessant zu sehen, wie der Versuch, Öffentlichkeit in die Privaträume zu schmuggeln und beides ineinander fortzusetzen zum Scheitern verurteilt ist. Das, was daraus entsteht, ist eine neue Form, ein Moment des gigantischen politischen und sozialen Umbruchs, den wir gerade erleben und der uns nicht nur helfend zusammenführt, sondern immens trennt (und dabei den altbekannten sozialen Verwerfungslinien folgt). Nicht zu vergleichen ist die Situation von Geflüchteten, Häftlingen, alleinerziehenden Müttern, Vorerkrankten (wie sie jetzt absurderweise genannt werden), Großfamilien oder Singles, mit finanziellem Polster oder ohne. Nicht zu vergleichen die, die in Berlin, in Hünfeld, in Nairobi oder New York leben.

 

Und diese Unterschiede gehen natürlich in der Frage nach dem guten alten öffentlichem Raum weiter. Während da das Militär den Raum beherrscht, Panik Chaos erzeugt, dürfen wir die Psychologie der Gesichtsmaske diskutieren. Quer durch die Medien wird uns vermittelt, dass der Weg, sie als Respektsbekundung den anderen gegenüber zu sehen, in Mitteleuropa noch weit ist. Sie erscheint uns als ängstliches Zeichen des Verbergens und insofern als Stigma. Wer eine Maske trägt, muss entweder krank sein oder hat vor mir Angst. Der überraschendste Moment allerdings in den letzten Wochen war, als ich aufgrund eines Spitalsaufenthalts meiner Kleinsten vom Land in die Großstadt musste und nach wochenlanger Quarantäne dieser neuen Öffentlichkeit ausgesetzt war. Als Bad in der Menge habe ich die entleerte Stadt Kassel wahrgenommen, als völlig unverständlich die dicht gedrängte Kliniksituation. Alle Maßnahmen, die wir als Familie getroffen haben, wurden in drei Tagen ad absurdum geführt durch überfüllte Wartesäle, voll belegte Zimmer und den raschen Wechsel von Ärzte- und Pflegerschaft. Dass ausgerechnet der Rettungssanitäter die Herstellung einer Herdenimmunität als bestes Mittel ansah, wirkte wie ein absurder Nachklapp, der Begriff hatte sich ja in den letzten beiden Wochen verloren und tauchte just in dem engen Krankenwagen auf dem Weg nach Kassel auf. Die Trambahnsituation auf der Heimfahrt war ebenfalls skurril. Ängstliche Blicke wechselten mit rüder Gleichgültigkeit und Distanzlosigkeit ab, die Menschen vermieden mehr den Blick als die körperliche Nähe. Was passiert, wenn der andere zum potentiellen Infektionsherd wird, wurde oft in Romanen beschrieben, seine jetzige reale Entfaltung ist unheimlich diffus. German Angst, Blockwartmentalität und Denunziantentum lassen es nicht besser werden. Doch dieses deutsche Erbe war es vermutlich, das den Greifswalder Bürgermeister vor kurzem sagen ließen: „Bitte habt Euch lieb!“, so entnahm ich dem Kommentar von Michael Seidel auf DLF, am Ostersamstag in meinem Auto sitzend. Die Unsinnigkeit der Aufforderung hallte noch lange in diesem mobilen Privatraum nach, der durch leere Öffentlichkeiten sich bewegte, um Nachschub zu holen. Ich wusste, gleich würde ich durch den Supermarkt gehen und nicht stehenbleiben, niemals stehenbleiben. Die Waren würden zu mir sprechen, die Waren sprechen immer. Dass Boris Johnson im Krankenhaus genesen würde, verraten sie allerdings nicht, nur der Spiegel im Regal meldet, dass er sich seine Zeit vertreibe mit Sudoku und „Kevin allein zuhause“.

 

© kathrin röggla, 2020