Josefine Rieks »Letztes Jahr im Le Royal Custine«

Kurzgeschichte

 

Ich bin in Paris, es ist 12:06 Uhr und als ich gerade aus dem Fenster die erste Zigarette des Tages geraucht habe, waren die Kirchturmglocken zu hören. Jetzt sitze ich wieder an dem kleinen Tisch in der kleinen Wohnung, die ich gemietet habe, vor mir eine Tasse Kaffee, auf dem Tisch ansonsten: mein Macbook Air, mein Notizbuch, eine Flasche Wasser, ein Kugelschreiber, ein angefangenes Baguette, der Paris-Roman von Ernest Hemingway und »Nanon« von George Sand.

 

Ich blättere im Hemingway und finde auf Seite 15, was ich gestern gelesen habe: Alles, was du tun musst, ist einen wahren Satz zu schreiben. Schreib den wahrsten Satz, den du weißt.

 

Ich überlege. Gestern habe ich drei Soldaten oder Polizisten, ich weiß es nicht genau, bei Notre-Dame stehen sehen. Sie waren jung und lachten, zwei Männer und eine Frau, rechts von ihnen die von Bauzäunen abgeschirmte Kathedrale, die nach dem Brand 2019 noch immer restauriert wird, vor ihnen eine Holztribüne, von der aus erhöht 300 Touristen Notre-Dame über die Zäune hinweg bestaunen können.

 

Die Soldatin lachte, während sie mit beiden Händen schussbereit ein Maschinengewehr vor ihrem Körper positioniert hatte.

 

Ich habe mich von ihrem Maschinengewehr beschützt gefühlt.

 

 

Ich bin seit einigen Tagen in Paris, bisher spaziere ich durch die Stadt, es ist grau, regnet ab und zu und ich denke nach. Gestern habe ich noch etwas beobachtet. Es war in einer touristischen Gegend am Montmartre, den ich hinunter spazierte, überall waren Boutiquen, die südfranzösischen Lavendel verkauften oder kleine glitzernde Eiffeltürme, und Portraitzeichner mit Klemmbrettern, die ihre Dienste den Passanten anboten, und viele Brasserien.

 

Vor einer dieser Brasserien, die einreihig ihre runden Tische draußen entlang der Fassade aufgestellt hatten, Stühle mit Blick auf den Boulevard, saß also zwischen einem älteren Pärchen und einer Kleinfamilie eine junge Frau. Sie trug einen schicken Zweireiher aus taubenblauem Stoff, breite Schulterpolster, und war auffällig geschminkt mit orangem Kajal, den sie als feinen Strich auch außerhalb ihrer Augen bis ganz oben auf die Schläfen geführt hatte, ihre tiefschwarzen Haare waren zu starken Locken aufgezogen, kinnlang, die Augen mandelförmig, cremefarbene Gelnägel. Vor sich hatte sie zwei Smartphones in Stativen aufgestellt, sie saß aufrecht, fuchtelte sich mit ihren Händen sinnlich im Gesicht herum und strahlte, während sie sprach. Sie war ganz allein, nahm nichts von ihrer Umgebung wahr, befand sich ganz außerhalb jeder zwischenmenschlichen Beziehung und sprach trotzdem wie auf einer Bühne.

 

Dass ihr jedes Gefühl von Scham fehlte, hat mich tief getroffen.

 

Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee, der in der Zwischenzeit kalt geworden ist und google asiatische+augen+schminken und lese über circle lenses, Kontaktlinsen, die einen dunklen Kreis um die Iris zeichnen, die dadurch optisch größer erscheint. Weißer Kajal auf der Wasserlinie, sowie weißer Lidschatten an der Augeninnenseite und auf dem letzten Drittel unter der Augenbraue erzielen denselben Effekt.

 

Letztes Jahr, als ich Nora kennenlernte und das erste Mal in Paris war, habe ich sehr häufig Schminktipps gegoogelt, genauso wie Ernährungstipps und Rezepte und mein Social Media-Algorithmus sah schon längst aus wie der Algorithmus einer Dreizehnjährigen – aber ich war mir unsicher gewesen, ob all diese Informationen wirklich als Material für einen Roman ausreichten.

 

 

 

Nora habe ich letztes Jahr genau hier in dieser Straße vor der Wohnung unten an der Ecke das erste Mal getroffen, es war nicht wie jetzt im Herbst, sondern im frühen Sommer gewesen, die Schwalben flogen in der Dämmerung, als ich draußen an der Rue Custine saß, die trotz des herrschenden Verkehrs in der abendlichen Hitze staubig und ländlich wirkte, unter der Markise des Le Royal Custine an einem der Cafétische.

 

Vor mir auf der runden Marmorplatte hatte ich eines der Stella Artois Biere, die man hier so günstig bekommt und ich las in Françoise Sagans »De guerre lasse«, aufgrund meines schlechten Französisches allerdings in deutscher Übersetzung, was mir, obwohl mich in Paris keine Menschenseele kennt, sehr unangenehm war, weshalb ich den Buchrücken wie zum Schutz in ein  französisches Magazin eingeschlagen hatte.

 

Schon nach wenigen Tagen ohne Gesprächspartner werden die Bahnen, die man denkend um sich selbst zieht, immer enger und die Gedanken werden immer lauter, unwidersprochener und wunderlicher. Meine Scham wegen meiner fehlenden Sprachkenntnisse, die ja zugleich mein Gefängnis bildeten, scheint mir deshalb auch heute noch nachvollziehbar – letztendlich war sie wohl eine Konsequenz meiner selbstgewählten Einsamkeit.

 

Ich las also versunken in Sagans Dreiecksgeschichte und blickte kaum auf, als eine andere Frau den Tisch direkt neben mir wählte, nahm die Tatsache im Augenwinkel allerdings sehr deutlich wahr, da das Arrangement der Tische typisch platzsparend erdacht war und das Körpergefühl des intimen Raums aktiv daran angepasst werden musste. Währenddessen verfolgte ich, wie Alice sich langsam in Charles verliebt und damit die Sache der Résistance zu verraten beginnt und als ich aufsah, um mir eine Zigarette anzuzünden, hatte ich die Frau neben mir schon vergessen. Sie suchte aber meinen Blick und lächelte mir zu, sodass ihre auffallend kurzen Zähne aufblitzten.

 

»Guten Abend«, sagte sie auf Deutsch und zwinkerte mir zu.

 

Nora war durchschnittlich groß, eher zierlich, vielleicht Ende fünfzig, ihre langen lockigen Haare sahen immer ein wenig ungepflegt aus und sie trug ausschließlich billige, dunkle Anzüge von der Stange.

 

»Bonsoir«, sagte ich einem Automatismus folgend und sie grinste.

 

»Wie gefällt Ihnen Sagans Version von Casablanca?«, fragte sie.

 

»Ähm«, ich räusperte mich und versuchte, mir dieses von mir geliebte, aber fremde Paris als einen Ort des Kosmopolitismus zu vergegenwärtigen, an dem in einem Café Deutsch zu sprechen sicher nichts Ehrenrühriges hatte. Gedanken, die den viel näherliegenden, nämlich den Gedanken daran, wie Nora den Roman in meiner Hand offenbar durch einen simplen Blick auf den Text, die Schrift, so einfach hatte identifizieren können, zur Seite schoben.

 

»Äh, ganz gut. Etwas kitschig vielleicht«, sagte ich also.

 

»Alice wählt wie Ingrid Bergmann den Antihelden, kehrt bei Sagan aber nach der Erschlaffung des kurzen erotischen Abenteuers zu ihrem idealistischen Widerstandskämpfer zurück«, sagte Nora und blinzelte intelligent. »Es ist das schlechtere Casablanca – am Ende einfach Erschlaffung.«

 

Sie hatte mir damit den Ausgang des Romans in meiner Hand verraten. »Erschlaffung statt Humphrey Bogart.«

 

»Erschlaffung also«, sagte ich und klappte das Buch zu, allerdings doch eher interessiert als enttäuscht. »Verraten Sie mir, wie sie wissen konnten, welchen Roman ich lese?«

 

»Ich kenne ihn sehr gut«, sagte Nora und wirkte für einen Augenblick selbst sehr erschlafft. »Ich habe ihn oft gelesen.«

 

»Wie heißen Sie?«, fragte sie dann und streckte mir freundlich ihre Hand entgehen. »Nora.«

 

»Josephine«, sagte ich.

 

»Und Sie sind zu Besuch in Paris?« –

 

»Ja«, sagte ich.

 

Auf ihrem Marmortisch lag neben dem obligatorischen Stella Artois, das hier wirklich alle tranken, eine Neue Zürcher Zeitung, eine schwarz umrandete Lesebrille und ein Päckchen Parisienne Noire.

 

»Und Sie?«, fragte ich. »Sind Sie aus der Schweiz?«

 

»Nein«, sie lachte. »Ich lebe hier.«

 

Damit wandte sie sich ihrer Zeitung zu, trank einen Schluck Bier, schlug den Politikteil auf, nickte mir noch einmal lächelnd zu und begann zu lesen, ganz so, als sei unser Gespräch hiermit beendet.

 

Vielleicht hätte ich zutraulicher mit ihr reden sollen, dachte ich sofort, aber ich war zu bedürftig nach einer Unterhaltung, um den Mut aufzubringen. Nora hatte mich und meine Maskerade enttarnt, aber anstatt mich vor ihr zu schämen, fühlte ich mich erleichtert und die Aussicht, mich im Gespräch – jenseits meiner täglichen Stammeleien in der Boulangerie – wieder einmal wirklich ausdrücken zu können, war herrlich und eine schöne Abwechslung zu den Telefonaten am späten Abend mit Valentin, die aufgrund meiner  Einsamkeit anfingen, sich immer schwieriger zu gestalten.

 

»Ich bin Schriftstellerin«, sagte ich. »Zum Schreiben habe ich mir ein paar Wochen freigeräumt und eine Wohnung hier in Paris gemietet.«

 

»Schön«, sagte Nora, lächelte zwar höflich, blickte aber doch kaum von ihrer Zeitung auf.

 

»Wenn ich Ihnen noch eine Frage stellen darf«, fragte ich trotzdem weiter. »Wieso kennen Sie Françoise Sagans Roman so gut?«

 

»Ich habe ihn gelesen«, sagte Nora und wirkte kurzfristig wieder ermüdet, fahl, um aber im nächsten Augenblick zu lächeln und den Blick wieder auf ihre Lektüre zu senken. »Wie gesagt.«

 

»Aber wie oft?«, fragte ich, obwohl es beinahe unhöflich war. »Sie haben ihn anhand des Texts aus der Entfernung erkannt.«

 

»Hören Sie, Josephine«, plötzlich sprach Nora zu mir als zu der wesentlich jüngeren Frau, die ich war. »Ich habe mich eine Zeitlang sehr dafür interessiert. Ich bin keine Frau, die mit Männern um Jobs konkurriert, ich bin auch keine Mutter, die bessere KiTa-Plätze braucht – ich kann zu allgemeinen Fragen generell nicht viel sagen, deswegen habe ich von Zeit zu Zeit in meinem Leben die Literatur zu Rate gezogen.«

 

Und damit war unser Gespräch dann wirklich beendet.

 

Ich warf ihr zwar noch ein paar versteckte, neugierige Blicke zu, aber entweder bemerkte sie sie nicht oder sie wollte eine Vertiefung des Gesprächs mit der Fremden vermeiden, so wie ich normalerweise Gespräche mit Fremden vermied.

 

Als ich mich nach dem zweiten Stella Artois schließlich nicht mehr auf meine Lektüre konzentrieren konnte und bezahlte, saß sie noch immer da, ein halbvolles Glas vor sich, das nicht leerer zu werden schien und ich grüßte sie nicht, als ich ging

.

 

 

Ich kehrte also zur gewohnten Zeit in meine kleine Wohnung zurück und ich hatte kaum meine Schuhe ausgezogen und an der rechten Wand gegenüber der schmalen Küchenzeile, auf die die Wohnungstür ging, ordentlich neben das einzige weitere Paar, das ich mitgebracht hatte, aufgestellt – dem etwas peniblen System folgend, das ich für diese 12qm ersonnen hatte, als mein Smartphone klingelte, ebenfalls zur gewohnten Zeit.

 

»Wie läuft es mit dem Roman, mein Mäuschen?«, meldete sich Valentin.

 

Obwohl ich wusste, dass er es gut meinte, dieser Satz im Grunde seine ganze etwas naive Gutmütigkeit, die so oft enttäuscht wurde, ausdrückte, ärgerte ich mich.

 

»Gut«, antwortete ich knapp und fischte mir ein 1664er aus dem Kühlschrank, dessen Tür ich mit der Hüfte zudrückte, das Handy zwischen Kinn und Schulter geklemmt, während ich den Kronkorken abdrehte.

 

»Ich bin schon ziemlich müde«, sagte ich.

 

Ich wollte der unumgänglichen Frage nach seinem Tag ausweichen, die ich stellen musste, kämpfte mit der in mir aufsteigenden Aggression, als sei ich siebzehn und Valentin, der liebe gute Valentin, meine Mutter, die mit ihrer Fürsorglichkeit nervte – und fragte ihn also, ob er einen guten Tag gehabt habe.

 

»Ja, ja, das Übliche«, sagte er. »Aber du fehlst mir.«

 

»Wie läuft es mit dem neuen Auftrag?«, fragte ich, einer geheimen Lust an meiner Selbstqual folgend. In letzter Zeit war ich neidisch darauf, dass er etwas zu tun hatte. Er musste nur einen Call am nächsten Tag erwähnen und ich wäre am liebsten in heiße Tränen ausgebrochen.

 

»Es sieht gut aus«, antwortete Valentin. »Aber ich vermisse dich. Es ist einfach nicht das Gleiche ohne dich.«

 

»Wie das klingt«, dachte ich, und sagte ich.

 

»Wie denn?«, nun fing auch Valentin an, sich verstimmt anzuhören. »Ich vermisse dich einfach.«

 

»Du machst es mir damit nicht unbedingt leichter.«

 

»Wieso? Du bist diejenige, die so tut, als seist du ausgewandert.«

 

»Ich versuche, mich zu konzentrieren«, sagte ich und schluckte herunter, dass seine Anrufe genau diese Konzentration störten, was kindisch war.

 

»Das sollst du ja auch, mein Schatz.«

 

So ging es noch ein bisschen, dann wünschten wir uns eine gute Nacht und legten auf.

 

 

 

Am nächsten Morgen musste ich erst das halb leere 1664er vom Tisch räumen, neben dem noch aufgeschlagen mein Notizbuch lag und durch einen Kaffee ersetzen, um mir meine Notizen zu aktuellen Studien über die Verwendung von Retinolseren zur Bekämpfung der zwanzig Zeichen von Hautalterung wieder und wieder durchzulesen und zu bezweifeln, dass sie für einen Roman ausreichen würden.

 

Anstatt mich weiter damit zu quälen, kochte ich einen zweiten Kaffee, unter dem meine Konzentration schon litt und machte ein paar Lektionen in einer Sprachlern-App, die mir schnelle Erfolgserlebnisse bescherte, nur um in der Boulangerie nach der Bestellung meines Pain au chocolate, den Preis wieder auf Englisch genannt zu bekommen.

 

In einer entrückten Stimmung, so wie ich sie seit dem achten oder neunten Tag meines Aufenthalts in der kleinen Wohnung in der Rue Labat empfand, in Gedanken meine Tätigkeiten ins Französische übersetzend, wie ich es mir angewöhnt hatte – »Je traverse la rue et après je vais tout droit« – sah ich die Frau vom vorherigen Abend wieder unter der Markise der Brasserie sitzen, unter der ich sie keine zwölf Stunden zuvor das letzte Mal gesehen hatte. Vor sich ein Achtel Rotwein, den das frühe Sonnenlicht hellrot schimmern ließ, die Zeitung und ihre Parisienne, die dunkel umrandete Lesebrille auf der Nase.

 

Bei ihrem Anblick hätte ich sofort wieder in Tränen ausbrechen können. Wieso machte ich es mir um Himmels Willen so schwer? So musste man leben. Wie diese Frau, deren Name Nora war und die sich langsam betrank und die Zeitung las. Etwas Besseres hatte ich zumindest auch nicht zu tun – und das schien mir die ganze harte Wahrheit zu sein.

 

Ich musste dennoch zuerst zurück in meine kleine Wohnung gehen, das Bett für den Tag zurück in das Sofa verwandeln, das es eigentlich war, mich an den kleinen Tisch mit der Wachstischdecke setzen, von dem vor mir schon die Krümel und Kaffeeflecken von hunderten vor mir hier hausenden Airbnb-Gästen abgewischt worden waren, mein Pain au chocolate essen, eine Zigarette aus dem Fenster rauchen und noch eine zweite, den Nährstoffgehalt eines Buttercroissants mit dunkler Schokoladenfüllung googeln und in mein Notizbuch übertragen, ein zweites Mal an diesem mittlerweile späten Vormittag duschen, ehe ich wieder zum Sagan-Roman griff, noch ein Glas kaltes Leitungswasser trank und mit meiner eigenen Lesebrille, einer oval gefassten Nickelbrille, von der Valentin sagte, ich sähe damit aus wie die Tochter von Wassily Kandinsky – ursprünglich einmal ein Kompliment, dem ich schon lange vor meinem Exil nichts mehr abgewinnen konnte, außer des leise verrückten Geflüsters zweier Liebender, die zu lange zusammen waren und den Sinn ihrer Liebesschwüre nicht mehr in der Lage waren, in das rückzuübersetzen, wofür sie einmal gestanden hatten. (In diesem Fall meine sehr blasse Haut, die Valentin immer geliebt hat. »Wie die Haut einer Zarin« … eine Versessenheit, die mir zwar nie viel bedeutet hat, aber die ich immer genossen hatte und ich habe ihn oft darum gebeten, diese Worte zu wiederholen … ) Das alles musste ich also tun und denken, eh ich mich etwas verschämt, was ich mit übertriebenem Selbstbewusstsein in meinen Bewegungen zu kaschieren versuchte, direkt neben Nora an den runden Cafétisch vor das auch schon am Mittag nicht schlecht besuchte Café setzte und wie sie ein Glas Rotwein bestellte.

 

»Et est-que vous avez de cacahuète?«

 

»Peanuts?«

 

»Oui, yes, thank you.«

 

Nora blickte von ihrem Tisch auf, wir saßen nah nebeneinander, ihre Schulter wahrscheinlich nicht einmal vierzig Zentimeter von meiner entfernt.

 

Ich musste sie unwillkürlich anlächeln, denn ich war mir sicher, dass sie meine Niederlage vor der Kellnerin mitbekommen hatte.

 

»Bonjour«, sagte sie und strich sich durch ihre ungepflegten langen Locken, deren ausgeprägte graue Strähnen sich bunt in das Aschblond, das Straßen-köterblond, das blond, hellbraun und rötlich changierte, einfügten.

 

Die Zeitung vor ihr war heute die Aujourd'hui en France.

 

»Votre français n'est pas trop mal«, sagte sie.

 

»Danke schön«, sagte ich. »Aber leider schon.«

 

»Pah«, sagte sie. »Et vous n'êtes pas si seul.«

 

Sie lächelte noch einmal freundlich, griff nach ihrer Zeitung und blätterte sie auf.

 

Jetzt erst entdeckte ich ein schwarzes Notizbuch auf dem Marmortisch vor ihr, das von ihrer Boulevardzeitung fast vollständig verdeckt gewesen war.

 

»Wollen Sie lesen oder haben Sie Lust, sich ein bisschen zu unterhalten?«, traute ich mich, sie zu fragen.

 

In dem Augenblick brachte mir die Kellnerin meinen Wein und die Erdnüsse. Nora griff nach ihrem Glas, der Rotton des Weins änderte seine Schattierung mit der Veränderung des Lichteinfalls und prostete mir zu. Ich hob mein Glas und tat es ihr gleich.

 

»Santé«, sagte sie.

 

Ich sah sie an.

 

Ihre Haare waren zwar nicht ungewaschen, aber strähnig, ihre kurzen Zähne von Jahrzehnten des Rauchens gelb und voller schwarzer Stellen, auch ihr Atem war wenig angenehm. Aber sie war trotzdem irgendwie gutaussehend, sie trug einen billigen schwarzen Anzug mit Nadelstreifen und ihre grünen Augen leuchteten schlau.

 

»Und Sie sind also Schriftstellerin?«, sagte Nora und hatte sich also offenbar zu einer Unterhaltung mit mir entschlossen.

 

Ich, die ich normalerweise nicht ungerne über mich selbst und meine Tätigkeit sprach, fühlte mich nichtsdestotrotz sofort irgendwie angegriffen – wahrscheinlich wegen meines stockenden Versuchs, einen Roman über Beauty- und Ernährungsgewohnheiten des frühen 21. Jahrhunderts zu entwerfen, was natürlich ein bisschen dünn war und weswegen ich mich schon längst angefangen hatte, etwas lächerlich zu fühlen. Außerdem schien in ihrem Blick etwas mütterlich Herablassendes zu liegen, das mich kränkte.

 

»Ja«, sagte ich und entschied mich dazu, low key zu spielen, »wie gesagt.« Ich wies lächelnd auf ihr Notizbuch, das mir vor wenigen Minuten aufgefallen war. »Und Sie?«

 

»Oh«, Nora lachte. »Ich nicht. Ich schreibe nur Tagebuch.«

 

Das verunsicherte mich noch mehr. Denn seit ich das Notizbuch gesehen hatte, war ich mir eigentlich ziemlich sicher gewesen, in Nora eine gealterte Frau vor mir zu haben, die in ihrer Adoleszenz künstlerische Ambitionen gehegt hatte, es vor Jahrzehnten in irgendeiner kleinen Szene vielleicht auch zu einem kleinen Renommee gebracht hatte und die aber ihren Ehrgeiz, der längst zu einem nicht weiter hinterfragbaren Element ihres Selbstverständnisses geworden war, nicht zu gegebener Zeit zusammen mit ihrer stockenden Karriere hinter sich gelassen hatte, sondern stattdessen auf eine Weise konserviert hatte, die leider immer ein bisschen erbärmlich ist.

 

Dass Nora aber auf meine Nachfrage, als deren Folge ich also mit einem Monolog gerechnet hatte, nun so gelassen und demütig reagierte, ließ plötzlich mich selbst zur Dilettantin werden.

 

Denn eine Frau, dachte ich, die möglicherweise ihr Leben lang Tagebuch geschrieben hat, ist beinahe jedem Schriftsteller, zumindest den allermeisten Schriftstellern, überlegen.

 

Also entblößte ich mich und machte alles noch schlimmer, indem ich Nora meine junge schriftstellerische Biografie mit ihren zwar überschaubaren, aber durchaus vorhandenen Höhepunkten vorbetete.

 

»Aha«, sagte Nora nur, als ich fertig war und trank einen Schluck von ihrem Rotwein. Auch heute beherrschte sie wieder die Kunst, so zu trinken, dass der Inhalt ihres Glases scheinbar kaum weniger wurde.

 

»Es ist schon keine leichte Sache mit dem Erfolg«, sagte sie und grinste mich mit ihren kurzen Zähnen an. »Jedem, der einen Chef hat, ist klar, dass Erfolg und Qualität nicht unbedingt miteinander korrelieren.«

 

»Ähm«, sagte ich.

 

»Niemand kann herumlaufen und erwarten, dass man ihn für genial hält«, sagte sie.

 

Ich fühlte mich tief beschämt und zugleich zu Unrecht angeklagt. Oder hatte Nora sich selbst gemeint? Ihr Ausdruck war ernst und aufrichtig.

 

Damit kehrte kurz gespanntes Schweigen ein, dann räusperte sie sich.

 

»Ich weiß schon, dass Sie sich mit Ihren dreißig, fünfunddreißig Jahren erwachsen fühlen«, sagte sie. Ihr Blick wirkte ernst, beinahe streng, andererseits aber sprach sie in einem Plauderton. »Aber eigentlich spielen Sie noch immer. Sie spielen Einsamkeit. Genauso wie Sie ihre Erfolglosigkeit spielen.«

 

»Bitte?« Das rutschte mir heraus.

 

»Entschuldigen Sie, wenn ich so frei heraus spreche«, sagte sie. »Gerade spielen Sie offensichtlich Wein-trinken-vorm-Mittagessen.«

 

»Ähm«, ich fühlte mich ernstlich angegriffen.

 

»Und Sie?«, gab ich zurück. So hatte ich mir unser Gespräch nicht vorgestellt.

 

»Ich trinke Wein vorm Mittagessen«, sagte sie, hielt kurz inne, starrte mich an und musste dann freudlos auflachen.

 

Nora fühlte sich von meiner Jugend angegriffen, dachte ich, die zwar dasselbe tut, aber die noch eine Menge Abzweigungen nehmen kann. Auch wenn ich es selbst beileibe nicht so empfand – meine Situation war dramatisch, aber zum Glück kam mir dieser Geistesblitz, selbst wenn ich die Konsequenzen daraus erst wesentlich später ziehen sollte.

 

In dem Moment ermöglichte mir diese Einsicht aber zumindest ein Mindestmaß an Empathie für Nora.

 

»Ich trinke heute Wein vorm Mittagessen«, sagte ich und klang genauso leichtfüßig, wie ich es gewollt hatte.

 

Aber ich war unruhig geworden und fühlte mich gleichzeitig plötzlich unendlich müde. Ich entschied mich also zu gehen, während die besonnene Frau neben mir sich gerade mit verbrauchten Händen eine Parisienne anzündete.

 

»Ich lade Sie ein«, sagte ich, wies auf unsere Gläser und erhob mich.

 

»Vielen Dank«, sagte sie und nickte mir zu. Und damit versenkte sie sich schon, als sei nichts passiert, in ihre Zeitung.

 

Ich zahlte also ihren und meinen Wein, warf ihr noch einen Blick zu, den sie kaum erwiderte und ging nach Hause.

 

Zurück in der Wohnung fühlte ich mich sehr erschlafft, legte mich auf das Sofa, ohne es zuvor zu dem Bett – was gemütlicher gewesen wäre – aufzuklappen und schlief sofort ein. Erst am Abend wachte ich wieder auf. Ich aß etwas und las dann bis spät in die Nacht am kleinen Küchentisch sitzend Françoise Sagans Roman bis zum Ende.

 

Er war wirklich das schlechtere Casablanca.

 

 

Dieser Text wurde für das Short Story Long Festival (26.–29.08.24) des Literaturforums im Brecht-Haus verfasst.