Das Literaturforum im Brecht-Haus – Ein Porträt

Ein Forum für Literatur, Theater und andere Künste im gesellschaftlichen Kontext

Das Literaturforum im Brecht-Haus macht es sich zur Aufgabe, die gesellschaftliche Funktion von Kunst und Kultur zu diskutieren und zeitgenössischer Literatur im Spannungsfeld von Geschichte und Gegenwart und in der Auseinandersetzung mit anderen Künsten ein Forum zu bieten. Der besondere Charme hängt mit dem historischen Ort zusammen. Beheimatet im Brecht-Haus, bildet das Literaturforum im Brecht-Haus zusammen mit dem ebenfalls hier befindlichen Brecht-Weigel-Museum und dem Bertolt-Brecht-Archiv, beides Einrichtungen der Akademie der Künste, ein einzigartiges kulturelles Ensemble im Herzen Berlins. Das Haus in der Chausseestraße 125 war die letzte Adresse Bertolt Brechts und Helene Weigels, die ab 1953 in Wohnräumen des Hinterhauses und Seitenflügels lebten und arbeiteten, in direkter Nähe zum Deutschen Theater und dem Theater am Schiffbauerdamm, dem späteren Berliner Ensemble. Hervorgegangen ist das Literaturforum im Brecht-Haus aus dem Brecht-Zentrum der DDR, das eine konzeptionell tragende Säule des im Februar 1978 feierlich der Öffentlichkeit übergebenen „Brecht-Haus Berlin“ bildete. Das Brecht-Zentrum sah seine Aufgabe darin, in Vorträgen, Workshops, Abendveranstaltungen und zahlreichen Publikationen breiten Bevölkerungsschichten Zugang zu Brechts Schaffen zu ermöglichen und Interessierten wie Spezialisten ein Forum zum Austausch zu bieten. Als eine dem Ministerium für Kultur der DDR nachgeordnete Einrichtung war das Brecht-Zentrum, zu dem auch eine Buchhandlung und ein Kellerrestaurant gehörten, kein unabhängig agierender Ort kritischer Öffentlichkeit. Dass sich dennoch weitreichende Möglichkeiten eines diskursiven Austauschs boten, zeigt die Anziehungskraft, die das Brecht-Zentrum auf kritische Intellektuelle ausübte. Dafür stehen beispielsweise der Philosoph Wolfgang Heise und Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Christa Wolf, Heiner Müller und Volker Braun, die im Rahmen von Autorenlesungen auftraten und der der Einrichtung verbunden waren und auch später blieben.

Nach dem politischen Umbruch 1989/90 beendete das Brecht-Zentrum der DDR seine bisherige Tätigkeit und wurde zunächst in „BrechtZentrumBerlin“ (ab 1991) umbenannt. Leben und Schaffen Brechts bildeten fortan nicht mehr den alleinigen Programmschwerpunkt. Neben experimentellen performativen und künstlerischen Ansätzen rückte die Auseinandersetzung mit der Gegenwartsliteratur, dem Gegenwartstheater und der Zeitgeschichte ins Zentrum der Arbeit. Aufgrund der besonderen Lage in Berlin-Mitte spielte dabei der literarische, künstlerische und wissenschaftliche Dialog zwischen Ost und West, zwischen Gästen, die in der DDR bzw. in der Bundesrepublik aufgewachsen waren, eine wichtige Konstante. Im Zuge der Neuausrichtung als Literaturhaus bekam die Einrichtung einen eigenen Trägerverein, die 1991 u.a. durch Volker Braun und Heiner Müller neu gegründete „Gesellschaft für Sinn und Form e. V.“. Im Jahre 1992 schließlich erfolgte die Umbenennung in „Literaturforum im Brecht-Haus“, wodurch der programmatischen Neuausrichtung zusätzlich Ausdruck verliehen wurde.

Knapp dreißig Jahre später lässt sich auf eine beachtliche Anzahl an Veranstaltungen zurückblicken. Unter den Gästen finden sich Namen wie Blixa Bargeld, Christina von Braun, Frank Castorf, Elke Erb, Wilhelm Genazino, Durs Grünbein, Christoph Hein, Wolfgang Kohlhaase, Günter Kunert, Brigitte Kronauer, Peter Rühmkorf, George Tabori, Katharina Thalbach, Klaus Theweleit, B. K. Tragelehn und Richard von Weizäcker. Doch angesichts von durchschnittlich zehn Veranstaltungen pro Monat kann eine solche Auflistung das Spektrum der Gäste nicht annähernd umreißen, zumal jüngere Generationen unter den aufgeführten Protagonisten aus den Bereichen Literatur, Theater, Kunst und Wissenschaft unter den genannten Namen noch gar nicht aufgeführt sind. Hinzu kommt, dass sich das Literaturforum im Brecht-Haus ohnehin als Ort versteht, der Aufmerksamkeit auch auf Bücher, künstlerische Projekte und Positionen lenkt, die andernorts nur wenig Beachtung erfahren, weil sie keiner Ökonomie des Spektakels folgen.

Konturiert wird die Vielzahl von Veranstaltungen durch kuratierte Programmreihen und -schwerpunkte. Über viele Jahre hinweg lud Richard Pietraß in der Reihe „Dichterleben“ (1998–2016) Dichterinnen und Dichter zum kollegialen Dialog ein. In der Reihe „Lebenszeugnisse“ (seit 1994) richtet der Historiker Wolfgang Benz im Gespräch mit Historikern und Zeitzeugen, darunter viele Überlebende des Holocaust, den Blick auf Zeitgeschichte im Spiegel individueller Erfahrung. Annett Gröschner diskutiert in der Programmreihe „Erzählte Zeit“ (seit 2008) mit wechselnden Gästen Formen und Ansätze biografischen Schreibens. Und Frauke Meyer-Gosau und Jörg Magenau laden alle zwei Monate einen prominenten Gast zum „Literarischen Trio“ (seit 2011) ein, um über Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt zu sprechen. Weitere Programmreihen der letzten Jahre galten u. a. dem Comic (2018), der politischen Dimension des Kriminalromans (2017) und dem Leben und Schaffens Heiner Müllers („Müllersalon“, 2012–2016). Hinzu kommen zahlreiche Tagungen und Symposien zu einzelnen Themen wie „Die Zukunft des Dramas“ (2017), „Reizland DDR“ (2013) und zu Autorinnen und Autoren wie Wolfgang Hilbig (2017), Gerhard Falkner (2016) und Rahel Levin (2013), oftmals in Kooperation mit Universitäten, immer wieder aber auch mit Literarischen Gesellschaften. Zu einer eigenen Marke haben sich die Themenwochen in den Sommermonaten entwickelt, die meist herausragenden Schriftstellerinnen und Schriftstellern gewidmet sind, beispielsweise Nelly Sachs (2018), Christa Wolf (2013), Franz Kafka (2014), Jacob Michael Reinhold Lenz (2015) und Else Lasker-Schüler (2017), und dieses Jahr das Schaffen Wolfgang Herrndorfs (Juli) sowie das Thema „Umwelten. Literatur zwischen Öko- und Technosphäre“ (August) zum Gegenstand haben.

Als weitere Programmbestandteile sind hervorzuheben: die Romanwerkstatt, innerhalb derer in den letzten Jahren viele Romane zum Abschluss gebracht wurden, u. a. von Hannah Dübgen, Madeleine Prahs und Leonhard S. Seidl; des Weiteren die Vorstellung der Preisträger*innen des Arbeitsstipendiums für Autorinnen und Autoren des Landes Berlin, die das Literaturforum im Brecht-Haus jährlich mit der Matinee „Berliner Manuskripte“ präsentiert; und nicht zuletzt das Sommerfest im Brecht-Haus, eine gemeinsame Veranstaltung zusammen mit dem Brecht-Weigel-Museum, dem Bertolt-Brecht-Archiv und dem Dorotheenstädtischen Friedhof – eine der schönsten Gelegenheiten, das Gesamtensemble Brecht-Haus kennenzulernen, so wieder im Juni 2020.

In jüngster Zeit konnte das Spektrum der Veranstaltungen durch neue Formate erweitert werden, beispielsweise durch Salon-Abende, die Pop, Literatur, Musik und Aktivismus zusammenführen und einen erweiterten Literaturbegriff ansetzen, oder – in Anlehnung an philosophische Diskussionsclubs – unter Einschluss digitaler Interaktionsmöglichkeiten für das Publikum. Hinzu kommt das Anliegen, verstärkt mit Autor*innen-Kollektiven zusammenzuarbeiten wie dem Ministerium für Mitgefühl, dessen erste „Öffentliche Plenarsitzung“ im Literaturforum im Brecht-Haus stattfand, oder dem Netzwerk „Richtige Literatur im Falschen“, das sich aus einer Tagung im Literaturforum im Brecht-Haus heraus entwickelte. Zu nennen ist ferner die Initiative „Literatur für das, was passiert“, die den Veranstaltungssaal des Literaturforums im Brecht-Haus im Dezember 2019 eine Woche lang in einen Literatur-Pop-Up-Store verwandelte: Autor*innen verfassten individuelle Wunschtexte gegen eine Spende an Pro Asyl.

Zusammen mit dem Brecht-Weigel-Museum und Bertolt-Brecht-Archiv wurde in den vergangenen Jahren ein gemeinsames kulturelles Bildungsangebot für Schüler*innen, Studierende und andere Besuchergruppen aufgebaut, das die Besichtigung des Hauses und seiner Umgebung mit der Möglichkeit zu thematischen Vorträgen und Schreib- oder Schauspielworkshops verbindet. Ein weiteres Angebot bietet das Literaturforum im Brecht-Haus seit 2019 mit der lfb school: einem Seminarprogramm zu kultur- und gesellschaftstheoretischen Themen, das sich vor allem an Studierende richtet und einen Ort kritischer Diskussion jenseits universitärer Verpflichtungen bietet.

Neben zahlreichen Buch-Publikationen, die als Dokumentarbände zu einzelnen Tagungen und Programmhöhepunkten erscheinen, präsentiert und dokumentiert das lfb Journal, das seit 2018 zweimal jährlich erscheint, die Programmarbeit des Literaturforums im Brecht-Haus und leuchtet die Bandbreite der Inhalte aus.

Und auch wenn Brecht nicht mehr den alleinigen Bezugspunkt der Arbeit bildet, bleibt er gleichwohl eine wichtige Referenz. Vorstellungen von wichtigen Veröffentlichungen zu Brecht und zur Brecht-Zeit sind regelmäßig im Programm berücksichtigt. Mit dem Tagungsworkshop „Baustelle Brecht/Working with Brecht“ wurde in Kooperation mit der International Brecht Society ein Angebot speziell für jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgebaut. Und nicht zuletzt wird mit den Brecht-Tagen, einer Veranstaltungswoche, die jeweils im Februar um den Geburtstag Brechts herum stattfindet, eine Tradition fortgeführt, die seit 1978 mit dem Haus verbunden ist, dieses Jahr zur Thematik „Brecht und das Theater der Intervention“.

Das grundsätzliche Anliegen des Literaturforums im Brecht-Haus, Literatur, Theater und andere Künste als Orte des Wissens zu begreifen und mit gesellschaftliche Fragestellungen in Beziehung zu setzen, ist angesichts globaler Bedrohungen wie der Krise der Demokratie, der Neuen sozialen Frage und ökologisch-planetarer Gefahrenszenarien wichtiger denn je. Im Sinne eines nicht auf (Re-)Präsentation beschränkten, sondern produzierenden Literaturhauses Projekte zu initiieren, Diskussionsprozesse in Gang zu setzen und Akteur*innen aus den Feldern Literatur, Theater, Kunst und Wissenschaften in einen Dialog zu bringen und zu vernetzen, zählt dabei zu den vornehmsten Aufgaben.

Das Literaturforum im Brecht-Haus ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e.V. (ALG). Dieser Artikel wurde ursprünglich in der ALG Umschau 62/März 2020 abgedruckt und wird hier mit freundlicher Genehmigung veröffentlicht.