»Meine Mutter, der Mann im Garten und die Rechten. Eine deutsch-jüdische Familiengeschichte«

/ 2021

 

Stella Leder, die 1982 im Berliner Westen geboren wurde, erzählt in ihrer autobiografischen Erzählung eine multiperspektivische deutsch-jüdische Familiengeschichte, die Ost- und Westdeutschland verbindet: Ihr Großvater war der Schriftsteller Stephan Hermlin, die Mutter Bettina Leder wuchs in der DDR auf, reiste aber 1977 aus. Sie ist – wie bereits der Titel anzeigt – eine zentrale Bezugsfigur, aber auch die Rechten, denen Leder immer wieder begegnet. Der Mann im Garten steht für die Erinnerung, die schemenhaft, allgegenwärtig und doch unzuverlässig scheint, aber auch für die verwobenen historischen Schichten, denn er ist – zumindest in der Imagination des Kindes – gleichzeitig Stasi- und SA-Mann. Leder entwickelt das Verhältnis zur Mutter nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern als eines zwischen den Generationen: Während die zweite eine Generation der Archivare sei, die die Geschichte von Shoah und Nationalsozialismus erforsche und zum konkurrenzlosen Fixpunkt ihres Lebens mache, dabei aber doch leise und unsichtbar blieb, sei die dritte Generation eine laute. Laut ist Leders Buch nicht, aber klar und präzise – nicht nur in seinen Analysen, sondern vor allem in den szenischen Beschreibungen, in denen das postnationalsozialistische Deutschland so deutlich vor Augen tritt, dass es keines erläuternden Kommentars mehr bedarf.

Warum lesen?

Weil Leders ost-west-deutsche Familienerzählung neue Perspektiven eröffnet: Die »Baseballschlägerjahre‘ fanden eben nicht nur im Osten, sondern auch in der hessischen Peripherie statt. Die Nazis sind nicht zurückgekommen, sie waren nie (ganz) weg. Das Buch bietet eine scharfe Analyse der Generationenverhältnisse einer deutsch-jüdischen Familie nach der Shoah sowie der antisemitischen Ressentiments in Ost- und Westdeutschland, die Leder auch auf eine anhaltende Schuld- und Erinnerungsabwehr zurückführt.

[Lea Wohl von Haselberg]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»A replacement life«

/ 2014

 

Debütroman des 1979 in Minsk geborenen Autors. Der Protagonist Slawa ist ein sowjetisch-jüdischer Einwanderer in New York und ein aufstrebender junger Autor bei einem hochkarätigen New Yorker Magazin (einem fiktiven New Yorker oder Harpers). Nach dem Tod seiner Großmutter wird Slawa von seinem Großvater angestiftet, sein literarisches Talent dafür zu nutzen, gefälschte Shoah-Biografien für diesen und andere russisch-jüdische Einwanderer zu schreiben, damit sie Entschädigungsansprüche geltend machen können. Während Slawa darum ringt, die komplexen Erfahrungen und Verhaltensweisen der Generation seiner Großeltern (geprägt von Weltkrieg, Shoah, Antisemitismus und Korruption in der sowjetischen Gesellschaft) zu verstehen, hinterfragt er seine eigene Identität im Verhältnis zur amerikanischen und amerikanisch-jüdischen Gegenwart, in der er sein eigenes Leben führt.

Warum lesen?

Fishmans Roman beschäftigt sich mit Kernthemen der Shoah-Erinnerung und der Migration in der dritten Generation sowie mit tiefgreifenden Fragen nach Authentizität und Aneignung. Es ist ein humorvolles und ehrliches Buch, das uns herausfordert, über Fiktion als Rache, als Wiedergutmachung oder als Form von Gerechtigkeit nachzudenken.

[Jonathan Skolnik]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»Vielleicht Esther«

/ 2014

 

Mit ihrem Debüt hat die 1970 in Kiew geborene Autorin ein faszinierendes Kaleidoskop autobiografischer Geschichten vorgelegt. Es handelt sich um ein Buch über den Versuch einer Rückkehr wie auch über das Reisen und Suchen in den Trümmerfeldern der eigenen jüdisch-ukrainischen Familiengeschichte. Die Nachverfolgung der weit verteilten Spuren dieser Geschichte führt die Erzählerin nicht nur in ihre Heimatstadt Kiew, in der auch die titelgebende – und auf dem Bachmann-Wettbewerb 2014 preisgekrönte – Episode über ihre von den Nazis ermordete jüdische Großmutter situiert ist, sondern ebenso nach Berlin, Warschau, Moskau, Odessa und Mauthausen. Petrowskaja hat ein sehr persönliches Buch geschrieben, doch finden sich darin auch allgemeine Erfahrungen, etwa der Recherche in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung, in höchst einprägsamer Weise dargestellt. Vor allem aber ist es ein Buch über den Zauber der Vermischung von Sprachen, insofern sich die Erzählerin immer wieder von sehr subjektiven Assoziationen russischer, ukrainische, griechischer und deutscher Begrifflichkeiten leiten lässt und hierbei in nachgerade zauberhafter Weise neue Formen des Sagens und Beschreibens findet.

Warum lesen?

Weil die Vielfalt der Zusammenhänge, Orte und Perspektiven, die Petrowskaja in ihrem Erstling zusammengefügt hat, immer wieder neue Lektürewege ermöglicht. Dies gilt gerade auch für ihre Sicht auf die Ukraine und Russland, die heute, in Zeiten eines weiteren erbitterten Krieges, eine Differenzierung des Blicks ermöglicht, wie sie im allgemeinen Schwarzweiß der Kriegsberichterstattung allzu schnell verloren zu gehen droht.

[Andree Michaelis-König]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»Ewig her und gar nicht wahr«

/ 2020

 

Ein in Fragmenten erzähltes, fragmentarisch bleibendes Buch, das zwischen verschiedenen Zeiten, Orten und Sprachen springen muss, um eine jüdische Familiengeschichte in Bessarabien, Usbekistan, Moldawien, Rumänien, Berlin und Israel zu skizzieren. So entstehen Momentaufnahmen aus dem Leben von vier Generationen zwischen der Flucht vor den vorrückenden deutschen Truppen 1941, der Rückkehr und der erneuten Migration nach 1990. Leitmotivisch kreist die Erzählerin dabei um das ebenso individuelle wie transgenerationelle Gefühl der Verlorenheit, des Nichtverstehens und des Nichtverstandenwerdens. Eine gemeinsame Sprache dafür finden die Familienmitglieder kaum, mehr als einmal treten fremdsprachige Lied- und Gedichtfetzen an die Stelle kohärenter Kommunikation. Die Aufgabe zu verstehen wird so von der Erzählerin auch an die Leser*innen weitergegeben.

Warum lesen?

Weil die Erzählerin in ihrer nationalen, territorialen und sprachlichen Unzugehörigkeit schließlich Halt in einem rumänischen Zitat ihres Landsmannes Paul Celan findet, das weder sie noch ihre durchschnittlichen deutschen Leser*innen verstehen. Und wegen des ebenso flapsigen wie abgründigen Satzes „Zum Glück konnte Celan auch Deutsch“, der dazu auffordert, die transkulturellen Verflechtungen deutsch-jüdischer Literaturgeschichte im Lichte aktueller postmigrantischer Schreibpositionen neu zu reflektieren.

[Esther Kilchmann]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»Konzert für die Unerschrockenen«

/ 2013

 

In ihrem autofiktionalen Debütroman entwirft Bettina Spoerri, 1968 in Zürich geboren, die Porträts zweier Frauen aus zwei Generationen. Als ihre Großtante Leah stirbt, fährt Anna von Zürich nach London zur Beerdigung und erhält dort Leahs Tagebücher. Im Folgenden wechselt die Erzählung zwischen Annas Alltag in London, Zürich und Berlin und Leahs Leben als Jüdin und Cellistin zwischen Wien, Shanghai, Palästina und England. Die Ich-Erzählerin Anna integriert in den Text Einschübe aus Leahs Tagebüchern, setzt Schilderungen alter Fotografien in Form sprachlicher Ekphrasis ein und rekurriert auf Anton Tschechows Prosa, Max Rothkos Bilder und die skulpturalen Installationen Rebecca Horns. Zugleich ruft sie Szenen und Erinnerungsbilder aus ihrem Gedächtnis ab, die den wenigen Gesprächen mit der Großtante sowie Erinnerungen an Konzerte und Leahs Cellospiel gelten. Vor dem Hintergrund der Erinnerungsarbeit wird auf der Gegenwartsebene des Romans auch Annas Porträt entworfen.

Warum lesen?

Weil aus dem Erinnerungsarchiv ein lebendiges Bild einer außergewöhnlichen Frau entsteht, die nach der Shoah in Musik und Kunst ein Mittel fand, der Katastrophe zu begegnen, und weil in Spoerris Text die Kunst zum Medium wird, das Wichtigste, oft kaum Aussprechbare auszudrücken.

[Małgorzata Dubrowska]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation

»Die Enkelin oder Wie ich zu Pessach die vier Fragen nicht wusste«

/ 2013

 

In ihrer autobiografischen Erzählung schildert Channah Trzebiner, 1981 in Frankfurt/Main geboren und aufgewachsen, was es für sie bedeutet, als Enkelin von Shoah-Überlebenden »ein Ersatz für ermordetes Leben zu sein.« Im Zentrum ihres Interesses steht die Darstellung transgenerationeller Traumatisierung und ihrer Auswirkungen auf die zweite und vor allem die dritte Generation. In dialogreichen Alltagsszenen – teilweise auf Jiddisch und Englisch – beschreibt Trzebiner ihr von omnipräsenten Erinnerungen an die Shoah geprägtes Familienleben. Das Buch stellt den Versuch einer Benennung ihrer Traumatisierung durch das Trauma der Großeltern dar und damit auch der Befreiung von der Allgegenwärtigkeit der Geschichte der Shoah, die die Ich-Erzählerin-Autorin wie ein »schwarzes Loch« in sich fühlt. Zudem nimmt Trzebiners Nachdenken über die Folgen der Shoah auch die Nachkommen der Täter*innen und Zuschauer*innen des Nationalsozialismus in den Blick, wobei ihr Bewusstsein der gegenwärtigen Wirksamkeit der Vergangenheit sie wiederholt in Konflikt mit nichtjüdischen Deutschen ihrer Generation bringt, die vermeiden oder versäumen, sich für die eigenen Familiengeschichten zu interessieren.

Warum lesen?

Weil dieser autobiografische Bericht über die transgenerationell spürbaren Folgen der Shoah begreifbar macht, wie dringlich die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Verfolgung und Ermordung auch für die dritte Generation sein kann. Und weil Trzebiner nicht nur ihre eigene Position als Enkelin von Überlebenden verständlich macht, sondern sich auch um ein Verständnis der Folgen des Schweigens auf der »anderen Seite« bemüht.

[Luisa Banki]

Auf der Liste: 3G

Literatur der dritten Generation